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Vom Storytelling zum Historytelling

Thomas Hellmuth

/ 5 Minuten zu lesen

Vernetztes Erzählen als Methode in der historisch-politischen Bildung: Wie zeitgemäßes "Historytelling" im Unterricht eingesetzt werden kann, was bei der Konstruktion von Erzählungen zu beachten ist und welche Rolle digitale Tools dabei spielen könnten, erklärt Prof. Dr. Thomas Hellmuth, Didaktiker für Geschichte und Politische Bildung an der Universität Salzburg.

(Fredrik Rubensson/ Flickr/ bearbeitet) Lizenz: cc by-sa/2.0/de

"Geschichten erzählen" – mit der deutschen Übersetzung von "Storytelling" ist nicht definiert, was darunter verstanden werden kann. Denn hinter diesem Begriff finden sich zahlreiche Bedeutungen und Einsatzmöglichkeiten. Daher ist es notwendig, den Begriff für fachdidaktische Überlegungen einzuschränken.

Erzählen knüpft "Beziehungsnetze"

Erzählen bedeutet, die Welt in eine für das Individuum überschaubare Struktur zu bringen. Damit ist ein dynamischer Prozess gemeint, in dem ständig versucht wird, neue Erfahrungen zu verarbeiten. Laut dem amerikanischen Philosophen Richard Rorty wird dabei "ein Netz aus kontingenten Beziehungen" geknüpft, "ein Gewebe, das sich rückwärts in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft erstreckt". Erzählen ist somit für die Identitätsbildung jedes Einzelnen von Bedeutung. Erzählen ist dabei immer in einem sozialen Kontext zu betrachten und in zweierlei Hinsicht zu verstehen, das heißt als das Zusammenfügen verschiedener Erfahrungen zu einem kontingenten Beziehungsnetz, das in einem "ordre du discours" ("Ordnung des Diskurses", Michel Foucault) eingebettet ist und infolge veränderter sozialer Strukturen immer wieder neu gewoben werden muss.

Die Individualität von Erzählungen

Die Individualität des Menschen geht damit aber nicht verloren, zumal er über ein sozialisiertes "individuelles Rahmenkonzept" verfügt, "innerhalb dessen Erfahrungen interpretiert werden". Dieses Rahmenkonzept beinhaltet unterschiedliche, zum Teil über Generationen überlieferte "Identitätsbausteine", die Wahrnehmungs- und Handlungsstrategien vorgeben sowie in ständiger "Identitätsarbeit" zusammengefügt und durch neue ergänzt werden. Individualität resultiert letztlich aus der Kombination der zur Verfügung stehenden Identitätsbausteine. Erzählungen können sich somit – zumindest innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen Rahmens – individuell unterscheiden.

Die Konjunktur der Dekonstruktion

Historisches Wissen wird in Form von Narrationen präsentiert, die zunächst isolierte historische Sachverhalte miteinander verbinden. Da diese Erzählungen der Identitätsbildung dienen, sind sie zum einen Ausdruck der Zeit, in der sie entstehen. Zum anderen können zu einem historischen Thema auch unterschiedliche Narrationen entstehen, weil sie Resultat individueller Betrachtungsweisen sind. Dies widerspricht der Form der "Meistererzählungen", die gleichsam eine historische "Wahrheit" präsentieren. In den letzten Jahren wurde zunehmend – nicht zuletzt auch mit dem Aufkommen historischer Kompetenzmodelle – die Dekonstruktion von historischen Narrationen in den Mittelpunkt fachdidaktischer Überlegungen gerückt.

Und dennoch Historytelling?

Weil die Konstruktion von Erzählungen einen wichtigen Bestandteil der Identitätsarbeit darstellt, sollten Erzählungen auch im Unterricht ihre Bedeutung haben. Dabei ist der Einsatz adäquater Methoden zu berücksichtigen, die sowohl die (selbst)reflexive Konstruktion als auch die Dekonstruktion von Geschichtserzählungen ermöglichen. Das schließt auch nicht aus, dass Geschichten bewusst erfunden werden und den Lernenden dabei Identifikationsmöglichkeiten bieten. Insbesondere in der Grundschule und in der Sekundarstufe I kann damit etwa Spannung – unterstützt durch Stimme, Gestik und Mimik – aufgebaut und ein Eintauchen in vergangene Welten, auch wenn diese nur imaginiert sind, ermöglicht werden. Wichtig ist dabei, dass die Emotionen in einer bestimmten Situation des Unterrichts auf eine Reflexionsebene gehoben und somit kognitiv verarbeitet werden können. Damit wird verhindert, dass Geschichten unbewusst weiterwirken und die Lernenden manipulieren bzw. indoktrinieren. Natürlich ist es nicht ausgeschlossen und auch durchaus legitim, dass manche Geschichten, auch jene, die selbst konstruiert wurden, als "wahrer" empfunden und anderen gegenüber bevorzugt werden. Allerdings muss – im Sinne eines "selbstreflexiven Ich" – die Abhängigkeit der eigenen Position von Sozialisation und Erziehung erkannt werden. Historytelling geht somit weit über die klassische Kulturtechnik der Erfahrungs- und Wissensvermittlung hinaus, ohne diese zu verdrängen. Zunehmend ist dafür aber – nicht zuletzt infolge des digitalen Wandels – eine differenzierte Methodik notwendig.

Historytelling in der Bildung: drei Lernformen

Zunächst ist es sinnvoll, zwischen darbietenden, erarbeitenden und forschend-entdeckenden Lernformen zu unterscheiden. Bei darbietenden Lernformen dient Historytelling zur schnellen Vermittlung von Informationen, wohingegen diese bei forschend-entdeckenden Lernformen vorausgesetzt werden müssen. Erst wenn die Lernenden über bestimmtes Grundwissen verfügen, können sie auch Neues entdecken und eigene Geschichten konstruieren. Bei erarbeitenden Lernverfahren filtern die Lernenden dagegen selbst relevante Aspekte aus Erzählungen heraus, die meist weniger zielgerichtet sind und Informationen versteckt, etwa hinter Metaphern, darbieten. Bei forschend-entdeckenden Lernverfahren werden Erzählungen verglichen sowie auf Basis (zusätzlicher) Informationen dekonstruiert und auch selbst(reflexiv) konstruiert.

Forschend-entdeckendes Historytelling

Nur einige Beispiele für das forschend-entdeckende Lernverfahren seien genannt: So können Lernende zu einem Thema eigene Geschichten konstruieren und diese miteinander vergleichen, über unterschiedliche Positionen streiten und eigene Positionen bestätigen, weiterentwickeln oder relativieren. Frei nach der Methode "Learning History", die aus dem Wissensmanagement stammt, ließen sich auch "Erfahrungsgeschichten" im Zusammenhang mit Exkursionen und damit in Verbindung stehenden Projekten gestalten. Dabei werden Erfahrungen kommuniziert und analysiert sowie für künftige Projekte verwertbar gemacht. Digitale Tools wie Wikis können hier unterstützend eingesetzt werden: Auf Lernplattformen werden Informationen in Form von Materialien oder Links angeboten, mit denen Geschichten konstruiert und präsentiert werden. Ebenso lassen sich auf solchen Plattformen eigene Materialien zusammentragen, Geschichten kommentieren und neu gestalten.

Grenzen, die keine sein müssen

Von Seiten der Lehrperson müssen Lernumgebungen geschaffen werden, bei denen die Bereitschaft der Lernenden geweckt wird, auch tatsächlich mit Lernplattformen zu arbeiten. Zudem sind Kompetenzen zu vermitteln, die einen effektiven Umgang mit digitalen Medien ermöglichen. Zwar klingen moderne E-Learning-Konzepte oftmals sehr innovativ, in der Praxis entsprechen sie aber nicht immer den Erwartungen, etwa weil nur wenige Schüler und Schülerinnen Erzählungen kommentieren und diskutieren. Historytelling könnte im Übrigen auch seine Grenzen gerade durch das digitale Zeitalter finden, etwa wenn Erzählungen durch Copy-and-paste zunehmend fragmentiert und zerstückelt werden. Dagegen lässt sich einwenden, dass Textteile auch schon vor der Erfindung der digitalen Welt oft dürftig zusammengefügt wurden. In jedem Fall gilt, dass die Strukturen und Absichten hinter solchen Stückwerken stets bewusst gemacht werden müssen. Historytelling sollte – unter den oben genannten Voraussetzungen der (Selbst)Reflexion – zum Methodenrepertoire jedes Geschichts- und Politiklehrenden gehören.

Literatur:

Alavi, Bettina: Lernen Schüler/innen Geschichte im Digitalen anders?, in: Demantowsky, Marko/Pallasek, Christoph (Hg.): Geschichte lernen im Digitalen Wandel, München 2014, S. 3–16.

Barricelli, Michele: Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2005.

Barricelli, Michele: Narrativität, in: Mayer, Ulrich u. a. (Hg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik, Schalbach/Ts. 2006, S. 135f.

Detjen, Joachim: Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart in Deutschland, München/Wien 2007.

Hellmuth, Thomas: Das "selbstreflexive Ich". Politische Bildung und kognitive Struktur, in: Ders. (Hg.): Das "selbstreflexive Ich". Beiträge zur Theorie und Praxis politischer Bildung, Innsbruck/Bozen/Wien 2009, S. 11–20.

Hellmuth, Thomas: Historisch-politische Sinnbildung. Geschichte – Geschichtsdidaktik – politischen Bildung, Schwalbach/Ts. 2014.

Hodel, Jan: Narrative Bricolage. Jugendlicher Umgang mit digitalen Netzmedien zur Bewältigung des "narrativen Pradox" von Neu-Nacherzählungen, in: Demantowsky, Marko/Pallaske, Christoph (Hg.): Geschichte lernen im Digitalen Wandel, München 2014, S. 17–34.

Keupp, Heiner u. a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek b. Hamburg 1999.

Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie, Solidarität. Frankfurt a. M. 1989.

Sampson, Edward E.: Celebrating the other. A dialogic account of human nature, London 1993.

Schindler, Martin: Wissensmanagement in der Projektabwicklung. Grundlagen, Determinanten und Gestaltungskonzepte eines ganzheitlichen Projektwissensmanagements, 2., durchges. Auflage , Lohmar 2001.

Schreiber, Waltraud: Kompetenzbereich historische Methodenkompetenzen, in: Körber, Andreas u. a. (Hg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, Neuried 2007, S, 194–230.

Prof. Dr. Thomas Hellmuth ist Didaktiker für Geschichte und Politische Bildung an der Universität Salzburg, Historiker (Kultur- und Sozialgeschichte) und langjähriger Gymnasiallehrer. Derzeit forscht er unter anderem zu subjektorientierter Geschichts- und Politikdidaktik, Geschichtskultur und Identitäten sowie Geschichte des historischen und politischen Lernens.