"Geschichten erzählen" – mit der deutschen Übersetzung von "Storytelling" ist nicht definiert, was darunter verstanden werden kann. Denn hinter diesem Begriff finden sich zahlreiche Bedeutungen und Einsatzmöglichkeiten. Daher ist es notwendig, den Begriff für fachdidaktische Überlegungen einzuschränken.
Erzählen knüpft "Beziehungsnetze"
Erzählen bedeutet, die Welt in eine für das Individuum überschaubare Struktur zu bringen. Damit ist ein dynamischer Prozess gemeint, in dem ständig versucht wird, neue Erfahrungen zu verarbeiten. Laut dem amerikanischen Philosophen Richard Rorty wird dabei "ein Netz aus kontingenten Beziehungen" geknüpft, "ein Gewebe, das sich rückwärts in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft erstreckt"
Die Individualität von Erzählungen
Die Individualität des Menschen geht damit aber nicht verloren, zumal er über ein sozialisiertes "individuelles Rahmenkonzept" verfügt, "innerhalb dessen Erfahrungen interpretiert werden"
Die Konjunktur der Dekonstruktion
Historisches Wissen wird in Form von Narrationen präsentiert, die zunächst isolierte historische Sachverhalte miteinander verbinden. Da diese Erzählungen der Identitätsbildung dienen, sind sie zum einen Ausdruck der Zeit, in der sie entstehen. Zum anderen können zu einem historischen Thema auch unterschiedliche Narrationen entstehen, weil sie Resultat individueller Betrachtungsweisen sind. Dies widerspricht der Form der "Meistererzählungen", die gleichsam eine historische "Wahrheit" präsentieren. In den letzten Jahren wurde zunehmend – nicht zuletzt auch mit dem Aufkommen historischer Kompetenzmodelle – die Dekonstruktion von historischen Narrationen in den Mittelpunkt fachdidaktischer Überlegungen gerückt
Und dennoch Historytelling?
Weil die Konstruktion von Erzählungen einen wichtigen Bestandteil der Identitätsarbeit darstellt, sollten Erzählungen auch im Unterricht ihre Bedeutung haben. Dabei ist der Einsatz adäquater Methoden zu berücksichtigen, die sowohl die (selbst)reflexive Konstruktion als auch die Dekonstruktion von Geschichtserzählungen ermöglichen. Das schließt auch nicht aus, dass Geschichten bewusst erfunden werden und den Lernenden dabei Identifikationsmöglichkeiten bieten. Insbesondere in der Grundschule und in der Sekundarstufe I kann damit etwa Spannung – unterstützt durch Stimme, Gestik und Mimik – aufgebaut und ein Eintauchen in vergangene Welten, auch wenn diese nur imaginiert sind, ermöglicht werden. Wichtig ist dabei, dass die Emotionen in einer bestimmten Situation des Unterrichts auf eine Reflexionsebene gehoben und somit kognitiv verarbeitet werden können. Damit wird verhindert, dass Geschichten unbewusst weiterwirken und die Lernenden manipulieren bzw. indoktrinieren. Natürlich ist es nicht ausgeschlossen und auch durchaus legitim, dass manche Geschichten, auch jene, die selbst konstruiert wurden, als "wahrer" empfunden und anderen gegenüber bevorzugt werden. Allerdings muss – im Sinne eines "selbstreflexiven Ich"
Historytelling in der Bildung: drei Lernformen
Zunächst ist es sinnvoll, zwischen darbietenden, erarbeitenden und forschend-entdeckenden Lernformen zu unterscheiden
Forschend-entdeckendes Historytelling
Nur einige Beispiele für das forschend-entdeckende Lernverfahren seien genannt: So können Lernende zu einem Thema eigene Geschichten konstruieren und diese miteinander vergleichen, über unterschiedliche Positionen streiten und eigene Positionen bestätigen, weiterentwickeln oder relativieren. Frei nach der Methode "Learning History", die aus dem Wissensmanagement stammt,
Grenzen, die keine sein müssen
Von Seiten der Lehrperson müssen Lernumgebungen geschaffen werden, bei denen die Bereitschaft der Lernenden geweckt wird, auch tatsächlich mit Lernplattformen zu arbeiten. Zudem sind Kompetenzen zu vermitteln, die einen effektiven Umgang mit digitalen Medien ermöglichen
Literatur:
Alavi, Bettina: Lernen Schüler/innen Geschichte im Digitalen anders?, in: Demantowsky, Marko/Pallasek, Christoph (Hg.): Geschichte lernen im Digitalen Wandel, München 2014, S. 3–16.
Barricelli, Michele: Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2005.
Barricelli, Michele: Narrativität, in: Mayer, Ulrich u. a. (Hg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik, Schalbach/Ts. 2006, S. 135f.
Detjen, Joachim: Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart in Deutschland, München/Wien 2007.
Hellmuth, Thomas: Das "selbstreflexive Ich". Politische Bildung und kognitive Struktur, in: Ders. (Hg.): Das "selbstreflexive Ich". Beiträge zur Theorie und Praxis politischer Bildung, Innsbruck/Bozen/Wien 2009, S. 11–20.
Hellmuth, Thomas: Historisch-politische Sinnbildung. Geschichte – Geschichtsdidaktik – politischen Bildung, Schwalbach/Ts. 2014.
Hodel, Jan: Narrative Bricolage. Jugendlicher Umgang mit digitalen Netzmedien zur Bewältigung des "narrativen Pradox" von Neu-Nacherzählungen, in: Demantowsky, Marko/Pallaske, Christoph (Hg.): Geschichte lernen im Digitalen Wandel, München 2014, S. 17–34.
Keupp, Heiner u. a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek b. Hamburg 1999.
Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie, Solidarität. Frankfurt a. M. 1989.
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Schindler, Martin: Wissensmanagement in der Projektabwicklung. Grundlagen, Determinanten und Gestaltungskonzepte eines ganzheitlichen Projektwissensmanagements, 2., durchges. Auflage , Lohmar 2001.
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