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Weniger Optimierung, mehr Reflexion: kleine Schritte zu einer kritischen digitalen Bildung

Maren Tribukait

/ 10 Minuten zu lesen

Schulische Bildung versteht digitale Medien oft als Tools, die kompetent beherrscht werden müssen. An funktionierenden Strukturen für den digitalen Unterricht mangelt es jedoch. Historikerin Maren Tribukait diskutiert die Notwendigkeit eines pädagogischen Paradigmenwechsels von Kompetenzerwartungen an Schülerinnen und Schüler hin zu einer kritischen digitalen Bildung.

Digitalisierung geht über Phänomene wie Fake News, Hate Speech und Big Data hinaus. (Illustration: Johanna Benz und Tiziana Beck/graphicrecording.cool) Lizenz: cc by-nc-sa/4.0/deed.de

In der Diskussion über digitale Bildung standen sich zunächst Technikeuphoriker und Skeptiker gegenüber, der Glaube an eine "digitale Bildungsrevolution" (Ralph Müller-Eiselt) traf auf die Furcht vor "digitaler Demenz" (Manfred Spitzer). Die zunehmende Durchdringung des Alltagslebens mit digitalen Technologien hat mittlerweile zur Normalisierung ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung geführt und die grundsätzliche Kritik an den Rand gedrängt. In Bezug auf schulische Bildung dominiert nun ein instrumentelles Verständnis von digitalen Medien als Tools, die beherrscht werden müssen. Exemplarisch deutlich wird dies an der langen Liste von über 60 Kompetenzen, die sich Schülerinnen und Schüler aus Sicht der Kultusministerkonferenz (KMK) aneignen müssen, um "künftigen Anforderungen der digitalen Welt zu genügen". Auch Lehrkräfte stellen häufig die Frage nach dem didaktischen Mehrwert digitaler Medien, die den Wunsch nach einer nahtlosen Anschlussfähigkeit an bisherige Lehrkonzepte zum Ausdruck bringt.

Die Corona-Krise und die damit verbundenen Schulschließungen haben allerdings offengelegt, dass aus diesem instrumentellen Verständnis keine funktionierenden Strukturen und Konzepte hervorgegangen sind, die einen digitalen Unterricht ermöglichen – wie das viel zitierte von Lehrkräften per E-Mail versandte Arbeitsblatt zeigt. Gleichzeitig bot diese Zeit aber auch Raum für neue Erfahrungen. Viele Lehrerinnen und Lehrer haben erstmals die Potentiale digitaler Medien beruflich genutzt: Sie traten mit ihren Schülerinnen und Schülern per E-Mail in Kontakt, organisierten Videokonferenzen, boten Sprechstunden über Chats an oder gestalteten Externer Link: Padlets (Anm. d. Red.: ein Tool für die kollaborative Erstellung von Pinnwänden) mit Aufgaben für zu Hause.

Maren Tribukait (© Georg-Eckert-Institut/Marek Kruszewski)

Und plötzlich war es möglich, Schülerinnen und Schülern Zeit für eigene Projekte zu geben; Lehrerinnen und Lehrer zeichneten Anleitungen für Stop-Motion-Filme und tauschten sich im Twitterlehrerzimmer (#twlz) darüber aus, wie sie ihren Schülerinnen und Schülern helfen können, Arbeitsergebnisse auf Online-Plattformen gegenseitig wertschätzend zu kommentieren. So hat die Krise Initiativen aus der Lehrerschaft gestärkt, die über die Organisation eines lehrplankonformen Online-Unterrichts hinaus neue Chancen einer digitalen Bildung nutzen und auf einen pädagogischen Paradigmenwechsel hinwirken – besonders in Hinblick auf mehr Kreativität, Kommunikation und eine Kultur des Teilens.

Ein pädagogischer Paradigmenwechsel

Viele positive Erfahrungen zeigen, dass die Nutzung digitaler Medien die als vier Kompetenzen für das 21. Jahrhundert bezeichneten Interner Link: 4K – Kreativität, kritisches Denken, Kommunikation und Kollaboration – fördern kann. Wenn die 4K jedoch als zu erwerbende und abzuprüfende Kompetenzen ausgeflaggt und im Imperativ ("Sei kreativ!") an die Lernenden herangetragen werden, führt das nicht zwangsläufig zu einem anderen Unterricht. Stattdessen herrscht mittlerweile Einigkeit, dass pädagogische Praktiken aktiv reflektiert und umgestaltet werden müssen, um Unterrichtsroutinen zu verändern. Wenn 30 Schülerinnen und Schüler beispielsweise zu einem vorgegebenen Thema nach einem Leitfaden ein Erklärvideo erstellen, wird man nicht unbedingt von 30 kreativen Prozessen sprechen können. Daher spricht viel dafür, die 4K nicht als individuelle Kompetenzen, sondern eher als Leitprinzipien des Lehrens und des Lernens aufzufassen und sowohl Lernende in dieser Hinsicht langfristig zu fördern als auch Lehrenden den Freiraum zu geben, ungewöhnliche Wege zu gehen.

Diese Überlegung regt dazu an, über einen pädagogischen Paradigmenwechsel auf tieferer Ebene nachzudenken. Die Durchsetzung des Kompetenzparadigmas in Bildungsforschung, -politik und -praxis hat die Vorstellung des Schülersubjekts stark verändert. Während dem humanistischen Bildungsideal die Vorstellung einer zweckfreien Entfaltung des Individuums zu einer autonomen Persönlichkeit zugrunde lag, die sich in der Auseinandersetzung mit einer anregenden Umwelt vollzieht, scheint heute die Idee vorzuherrschen, dass der ideale Schüler, die ideale Schülerin – zugespitzt ausgedrückt – durch die Addition vordefinierter Kompetenzen umstandslos zu Mündigkeit, Selbstbewusstsein und einer Identität gelangt. Dass die Dinge komplizierter sind, liegt auf der Hand. Ein einfaches Zurück zum humanistischen Bildungsideal, das momentan noch ein Schattendasein in den Präambeln der Schulgesetze fristet, ist jedoch ebenfalls problematisch. Denn es ist an der Zeit, die berechtigte Kritik am Konstrukt des autonomen Subjekts im Bildungskontext ernst zu nehmen. Eine Reihe von Denkern wie Marx, Nietzsche, Foucault oder Bourdieu haben diesem Konstrukt des modernen westlichen Denkens die alternative Vorstellung entgegengesetzt, dass das Subjekt in sozialen Praktiken, Diskursen, Strukturen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen situiert ist. Dadurch ist es im Denken und Handeln zwar nicht determiniert, aber auch nicht völlig autonom.

Aus dieser Vorstellung ergeben sich Konsequenzen für Bildungskonzepte: Irritierende Erfahrungen, die sich aus der Eingebundenheit in Diskurse, Praktiken, Strukturen und Machtverhältnisse ergeben, sollten nicht als Krisen betrachtet werden, die der Einzelne allein zu überwinden hat, um sich zum selbstbestimmten Subjekt auszubilden. Gerade in einer durch digitale Medien geprägten Welt häufen sich diese Erfahrungen: Man stimmt den Nutzungsbedingungen einer App zu, ohne sie zu lesen, bekommt auf unterschiedlichen Geräten unterschiedliche Preise für dieselbe Flugreise angeboten, ohne den Algorithmus dahinter zu durchschauen, und vielleicht lösen die tollen Urlaubsfotos der anderen auf Facebook oder Instagram Neid und Missgunst aus, ohne dass man es will.

Selbstverständlich sollten Bildungskonzepte den Anspruch haben, jungen Menschen das Wissen zu vermitteln und die Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, um solche Erfahrungen zu bearbeiten. Gleichzeitig sollte aber auch die Einsicht weitergegeben werden, dass in unserer durch ständige Veränderung, zunehmende Komplexität und Mehrdeutigkeit bestimmten Gegenwart verunsichernde Erfahrungen nicht umfassend antizipiert werden können und insofern eine permanente Anforderung an alle darstellen. Überzogene Vorstellungen individueller Autonomie, die Jugendlichen das Gefühl vermitteln, sich diesen Herausforderungen allein stellen zu müssen, könnten dagegen eher zu Entmutigung und Teilnahmslosigkeit führen.

Von Kompetenzerwartungen zu einer kritischen digitalen Bildung

Vielleicht liegt der Wert eines solchen Umdenkens auch darin, die Perspektive umzudrehen und nicht zu fragen, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler sich aneignen müssen, sondern welche Bedingungen der Staat, die Gesellschaft und die Schule schaffen müssten, damit Schülerinnen und Schüler lernen können, an einer durch digitale Medien geprägten Gesellschaft politisch aktiv teilzuhaben. Drei Dinge fallen dann sofort ins Auge:

Erstens wäre dem Fach Politik mehr Zeit einzuräumen als eine Unterrichtsstunde oder weniger pro Jahr in der Sekundarstufe I. Dies ist eine notwendige Voraussetzung, damit Lehrerinnen und Lehrer einen aktivierenden Unterricht gestalten können, der von kontroversen Diskussionen auf der Grundlage fundierter Informationen lebt.

Zweitens wäre es zwingend nötig, Lehrerenden und Lernenden eine funktionierende digitale Infrastruktur und digitale Endgeräte zur Verfügung zu stellen. In den allermeisten Schulen sind die technischen Verhältnisse derzeit so, dass die Nutzung digitaler Medien vor allem zu Verzögerungen und Störungen führt. Unter solchen Bedingungen können digitale Tools weder erfolgreich genutzt noch kritisch reflektiert werden.

Drittens ergibt sich aus dem Festhalten vieler Schulen an traditionellen Unterrichtskonzepten in Kombination mit der schlechten Ausstattung eine Kluft zwischen Schule und Lebenswelt. Diese erschwert es, eine sich durch digitale Medien wandelnde Gesellschaft angemessen zu thematisieren. Wenn "Digitalisierung" vor allem unter den Aspekten Fake News, Hate Speech und Big Data im Unterricht besprochen wird und die Schulen auch im Kleinen noch keinen produktiven Umgang mit digitalen Technologien gefunden haben, dann verdichtet sich das zu einem düsteren Bild von der Schule als einer abgehängten Institution, die den Anschluss an rasante Zukunftstrends verpasst hat. Skepsis ist angebracht, wenn Schülerinnen und Schüler an einem solchen Ort "zu einem selbstständigen und mündigen Leben in einer digitalen Welt" ermutigt werden sollen, wie es die KMK fordert.

Die KMK formuliert in ihrem Strategiepapier "Bildung in der digitalen Welt" über 60 Kompetenzen, die in der Schule vermittelt werden sollen. (Illustration: Johanna Benz und Tiziana Beck/graphicrecording.cool) Lizenz: cc by-nc-sa/4.0/deed.de

Politische Teilhabe in der digitalen Welt beginnt genau hier: mit politischen Forderungen nach einem angemessenen Stundenumfang für den Politikunterricht, nach substantiellen Investitionen in die digitale Infrastruktur und nach Spielräumen für neue Unterrichtskonzepte. Für heutige Schülerinnen und Schüler ist es gleichzeitig wichtig nicht abzuwarten, sondern schon unter den gegebenen Umständen anzufangen und einige der bestehenden guten Ideen für eine politische Bildung in der digitalen Welt so weit wie möglich aufzugreifen. Ausprobieren und gemeinsam reflektieren, inwieweit ein digitales Tool Lernprozesse unterstützt und was es darüber hinaus mit dem Einzelnen und der Gruppe in ethischer, sozialer und politischer Hinsicht macht – das sind kleine Schritte in Richtung einer kritischen digitalen Bildung, die nicht 60 Kompetenzen fördern kann, aber dafür die Schülerinnen und Schüler als Bürgerinnen und Bürger einer demokratischen Gesellschaft ernst nimmt.

Beispielsweise kann in einem Politikunterricht, der am Prinzip der Kontroverse ausgerichtet ist, praktisch getestet werden, ob Online-Umfrage-Tools wie Externer Link: Mentimeter zu einer Weiterentwicklung der Diskussionskultur beitragen können. So könnte Mentimeter helfen, auch die Stimmen derjenigen wahrzunehmen, die sich nicht offen äußern mögen, etwa bei sensiblen Themen wie rassistischer Diskriminierung. Ebenso könnten stillere Schülerinnen und Schüler sich im Modus der offenen Diskussion stärker beteiligen als im mündlichen Unterrichtsgespräch, das häufig von einigen aktiven Schülerinnen und Schülern dominiert wird. Auf diese Weise würden vielfältigere Meinungen abgebildet und in den Urteilsbildungsprozess einbezogen werden können. Zudem könnten Diskussionen dadurch in Online-Phasen während einer Schulschließung überhaupt erst möglich werden.

Zu einer kritischen-reflexiven Aneignung würde es außerdem gehören, gemeinsam zu überlegen, wie sich Diskussionen durch die anonymen Umfragen und Beiträge verändern, inwiefern Anonymität hilfreich ist und wo sie als zwiespältig empfunden wird, ob die Frageformate vielleicht zu einer Simplifizierung komplexer Themen beitragen, ob Design und spielerische Logik zu den kontroversen Themen passen, ob man überhaupt zur spontanen Meinungsabgabe aktiviert werden möchte, ob man das private Smartphone im Unterricht einsetzen möchte, ob sich an den Gebrauch des Smartphones für die Umfragen noch weitere Nutzungen anschließen und Ähnliches.

Es bietet sich an, dass die Rollen getauscht werden und Schülerinnen und Schüler selbst Umfragen erstellen und durchführen können, vielleicht in einer anderen Weise als es die Lehrkraft getan hat. Schließlich könnten weitergehende Fragen zu Mentimeter gestellt werden: beispielsweise welche Daten das Tool speichert, wozu es sie nutzt, welche Marketingstrategie es verfolgt, für welche Zwecke es entwickelt wurde etc. Zu diesen Fragen müsste genauer recherchiert werden, sie bieten aber die Möglichkeit, große Themen des digitalen Wandels wie etwa Privacy am konkreten Beispiel zu untersuchen.

Man kann also von der kritisch-reflexiven Aneignung digitaler Tools auch zu den großen gesellschaftlichen Herausforderungen kommen. Wenn Schülerinnen und Schüler bei der Besprechung dieser Themen die Erfahrung einbringen können, dass sie digitale Technologien zwar nicht "beherrschen" im Sinne einer machtvollen Aneignung, wohl aber reflexiv nutzen und gestalten können, hilft dies, über die Analyse der Probleme hinaus auch über Handlungsoptionen in größerem Rahmen nachzudenken. Damit wären einige Schritte in Richtung einer kritischen digitalen Bildung getan, die nicht auf Optimierung, sondern auf Reflexion zielt.

Dr. Maren Tribukait ist Historikerin am Georg-Eckert-Institut | Leibniz Institut für internationale Schulbuchforschung. Sie leitet das Forschungsteam "Didaktik in einer mediatisierten Welt" und forscht zu den Veränderungen von Unterricht, Schule und Bildung in Zeiten digitaler Vernetzung. Außerdem ist sie Koordinatorin des Digital Lab, in dem Lehrkräfte, Schüler/-innen und Entwickler/-innen digitale Bildungsmedien für die Gesellschaftswissenschaften entwickeln und testen können.