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Von der Wissensvermittlung zur produktionsorientierten politischen Bildung | Politische Bildung in einer digitalen Welt | bpb.de

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Von der Wissensvermittlung zur produktionsorientierten politischen Bildung

Guido Brombach

/ 8 Minuten zu lesen

Wie lassen sich politische Bildung und digitale Medien in der Erwachsenenbildung verknüpfen? Erziehungswissenschaftler und Bildungsreferent Guido Brombach empfiehlt, die Lernstrategien von Erwachsenen anzuerkennen und durch produktionsorientierte Ansätze die Auseinandersetzung mit politischen Fragestellungen anzustoßen.

Erwachsene bringen bereits ihr Päckchen an Lernerfahrungen mit. Graham Attwell nennt das die "Personal Learning Environment" (engl. Persönliche Lernumgebung, kurz: PLE). (Illustration: Johanna Benz und Tiziana Beck/graphicrecording.cool) Lizenz: cc by-nc-sa/4.0/deed.de

Jüngst habe ich einer Seminargruppe folgenden Auftrag gestellt: Die 15 Teilnehmenden sollten sich mit der Geschichte der DDR auseinandersetzen und die eigene Biografie mit Hilfe der Software Externer Link: TimelineJS neben einen Interner Link: Zeitstrahl der DDR legen. TimelineJS erstellt aus einer Exceldatei-Vorlage, in die Daten Zeile für Zeile eingetragen werden können, eine interaktive Zeitleiste. Die Chronik der DDR wurde von mir vorgegeben, die Stationen der eigenen Biografie wurden nun im Seminar hinzugefügt. Die Teilnehmenden setzten sich in kleinen Gruppen zusammen und ließen die Zeit an sich vorbeiziehen.

Nach einer kurzen Einführung hatten die meisten Teilnehmenden schnell verstanden, wie die vorliegende Tabelle am Computer auszufüllen ist. Zwar waren nicht alle in der Lage, die Daten in den Laptop einzutragen, aber es gab in jeder Gruppe hilfsbereite Kolleg*innen. Die Untergruppen arbeiteten nahezu eigenständig. Nur zu Beginn musste ich einmal durch alle Gruppen gehen, um die Aufgabenstellung zu präzisieren und in dem ein oder anderen Fall den Umgang mit dem Laptop und der Tabelle erklären. Die Teilnehmenden halfen sich untereinander bei Fragen. Je länger die Untergruppen miteinander lernten, umso besser waren sie aufeinander eingespielt und kannten ihre Stärken und Schwächen.

Guido Brombach (© DGB Bildungswerk BUND e.V.)

Auf die Aufgabenstellung, das nahm ich am Ende aus der Übung mit, kommt es an: Der Abgleich der persönlichen Biografie mit der Chronik der DDR-Geschichte hat in der Reflexion aufzeigen können, wo politische Entscheidungen und das eigene Leben voneinander beeinflusst werden.

Eine gemeinsame Zeitleiste zu erstellen, stellte viele Teilnehmende vor eine zunächst fast unlösbar scheinende Aufgabe. Da in jeder Gruppe unterschiedliche Stärken und Fähigkeiten zusammenkamen, konnten auch technisch weniger versierte Teilnehmende eine aktive Rolle bei der Erstellung der Biografien einnehmen, statt nur auf die Teilnehmenden zu verweisen, die gut genug mit dem Computer umgehen konnten.

Wie dieses Beispiel zeigt, sind digitale Medien nicht nur ein Thema für Jugendliche, sondern auch für erwachsene Zielgruppen der politischen Bildung. Welche Voraussetzungen dabei beachtet werden sollten und wie politische Bildung und digitale Medien in der Erwachsenenbildung verknüpft werden können, soll im Folgenden diskutiert werden.

Wie lernen Erwachsene?

Erwachsene haben in den letzten zwanzig Jahren im Umgang mit Technik und digitalen Netzen die Meta-Kompetenz "Lernen lernen" erworben. Die Beschaffung von Informationen ist eine notwendige Voraussetzung, um zu lernen. In Zeiten, wo das Digitale allgegenwärtig ist, nutzen die einen Bildungs-Apps, die anderen wiederum soziale Netzwerke oder Kommunikationsplattformen wie WhatsApp, um sich mit Informationen zu versorgen. Wir alle haben unterschiedliche Strategien entwickelt, um an die Informationen zu gelangen, die nötig sind, um die an uns gestellten Aufgaben zu lösen. Sei es die Reparatur der Fahrradgangschaltung, bei der ein YouTube-Tutorial hilft, oder die Auseinandersetzung mit der Rolle der Online-Plattformen im Daten-Kapitalismus auf Nachrichtenwebsites.

Graham Attwell nennt das die Externer Link: "Personal Learning Environment" (engl. Persönliche Lernumgebung, kurz: PLE). Damit sind die spezifischen (analogen und digitalen) Lernräume und -medien gemeint, in denen Menschen gelernt haben zu lernen. Lernen bleibt in diesem Verständnis biografisch erlernt und verankert, allerdings geht das Konzept der PLE davon aus, dass Lernen heute fast immer technisch vermittelt geschieht, der Lernprozess also von Technik unterstützt wird. Sei es, dass wir ein Erklärvideo anschauen, mit Hilfe einer Suchmaschine nach Informationen recherchieren oder bei einem Podcast anderen Menschen beim Denken zuhören. Wiederum andere nutzen Notizen-Apps, um ihre eigene Wissensdatenbank aufzubauen.

Lernen geschieht vor allen Dingen per Trial-and-Error: Was funktioniert, wird als erlernt abgespeichert. Oft gibt es nicht den einen richtigen Lösungsweg und häufig gibt es auch mehr als eine richtige Lösung. Erlerntes Wissen wird meist nur einmal in dieser speziellen Form benötigt. Deshalb verliert das Speichern von Wissen an Bedeutung zugunsten der Kompetenz, ständig neue und andere Informationen zu Wissen zu konstruieren und dieses Wissen anzuwenden. Die Personal Learning Environment als individueller Lernrahmen lässt sich daher als eine Antwort auf die Anforderungen lebenslangen Lernens verstehen. Sie entsteht in nicht formalisierten Lernsettings und weist viele verschiedene Formen des Wissenserwerbs auf.

Da alle Teilnehmenden ihre individuellen Personal Learning Environments mitbringen, muss auch die politische Bildung mit diesen unterschiedlichen Voraussetzungen im Seminar umgehen. Würde sie die reine Wissensvermittlung in den Vordergrund schieben, würde sie den PLEs ihrer Teilnehmenden nicht gerecht werden. Stellt sie stattdessen den Kompetenzerwerb in den Vordergrund und gibt Raum, Kompetenzen für die Wissenskonstruktion und -anwendung innerhalb der Gruppe auf die jeweilige individuelle Weise zu erlernen oder zu vertiefen, können die vorhandenen, persönlich erlernten Lernstrategien angewandt werden.

Die Rolle der politischen Bildung beim Lernen in digitalen Zeiten

Wenn der Seminarraum die Lebenswelt der Erwachsenen erweitern will, muss er die Strategien, die sie zum Lernen benutzen, anerkennen und unterstützen. Da jeder Mensch seine eigenen Lernstrategien entwickelt hat und Informationserwerb und -konstruktion zunehmend durch digitale Medien vermittelt werden, ist es unerlässlich, auch im Seminarraum digitale "Kulturzugangsgeräte" zu nutzen.

Politische Bildungsangebote, die digitale Medien als ein Werkzeug der Erkenntnisgewinnung in die Bildungsangebote miteinbeziehen, können damit auch wieder für Menschen anschlussfähig werden, die in der politischen Bildung nur die Auseinandersetzung mit dem politischen Apparat selbst sehen. Auch um beruflich relevante Bildungsaspekte mit aufzugreifen, ist die Integration digitaler Medien in die Lernprozesse politischer Bildung ein guter Weg.

Das oben beschriebene Beispiel zeigt auf, wie explorative Projekte im Seminarraum Selbstlernprozesse anregen können. Zum einen schaffen sie Raum für eine individuelle Aufgabenverteilung und damit für die eigenen schon erworbenen Kompetenzen. Zum anderen bleibt das Coaching durch die Seminarleitung immer möglich, etwa wenn die Gruppe nicht weiterkommt. Die so erworbenen Kompetenzen lassen sich sowohl auf die beruflichen Kontexte in einer zunehmend digitalen Arbeitswelt als auch auf die politischen Herausforderungen anwenden.

In meiner Arbeit als Seminarleiter habe ich die Erfahrung gemacht, dass es für die Teilnehmenden über die letzten zwei Jahrzehnte zunehmend einfacher geworden ist, sich technische Kompetenzen anzueignen und dies mit einer Auseinandersetzung mit dem Politischen zu vereinbaren. Anfang des Jahrtausends haben die Teilnehmenden in der Seminarreflexion häufig mehr Zeit am Computer eingefordert, um technische Kompetenzen zu erwerben. Dabei kam die politische Dimension häufig etwas zu kurz. Solche Forderungen höre ich seit einigen Jahren nicht mehr. Das hängt auf der einen Seite mit dem Lernprozess der politischen Bildner und Bildnerinnen beim Einsatz digitaler Medien im Seminar zusammen, auf der anderen Seite mit den digitalen Möglichkeiten, die nun die Option eröffnen, das Internet nicht nur als Recherchemedium im Seminarraum, sondern vor allem für die Produktion neuer digitaler Medien einzusetzen.

Die produktionsorientierte politische Bildung

Digitale Medien sind zu "eingebetteten Medien" geworden. Ob in der politischen Bildung oder anderswo – sie werden nicht mehr anlassbezogen eingesetzt, sie sind einfach da. Ein YouTube-Clip dient wie selbstverständlich als Einstieg in das Thema des Tages und wird nicht extra als Film angekündigt und mit entsprechenden Fragestellungen im Seminar didaktisiert. Digitale Medien sind allgegenwärtig und stehen auf Abruf zur Verfügung. Ihre Nutzung verlangt keine komplexe Einführung, der Einstieg im laufenden Betrieb ist Normalität. So bleibt Platz für Kommunikation und den Lernprozess selbst. Wenn nötig, stehen die digitalen Medien als Lernwerkzeug zur Verfügung. Ein forschendes, problemlösendes Seminardesign, in dem die Teilnehmenden weniger Informationen wiedergeben, sondern Informationen abwägen und auf eine "neue" Art aufbereiten sollen, könnte in der Rekontextualisierung – in unserem Beispiel die eigene Biografie als interaktive Zeitleiste parallel zur Chronik der DDR zu konstruieren – andere Perspektiven eröffnen. Um das Digitale und seine Wirkung auf die Gesellschaft zu verstehen, muss es erfahrbar gemacht werden, sonst bleibt es unsichtbar. Die aktive Eigenproduktion von digitalen Medien ist eine Möglichkeit, um die digitale Funktionsweise von Computern oder Smartphones und ihre gesellschaftliche Wirkung zu verstehen.

Gerade im Kontext Arbeit führt Digitalität zu einer Entprofessionalisierung vormals langjährig erlernter Tätigkeiten. Gleichzeitig kommt es zu einer fortschreitenden Spezialisierung. Jeder kann heute beispielsweise einen YouTube-Clip mit dem Smartphone herstellen, aber nicht jeder kann einen Kinofilm produzieren. Für den Umgang mit digitalen Medien im Seminarraum reicht allerdings die Produktion eines YouTube-Clips aus, um die Anforderungen ableiten zu können, die sich selbst bei modernen Kinofilmen ergeben würden. Das öffentliche Statement, das mit der Produktion und Veröffentlichung eines YouTube-Videos einhergeht, zeigt den Teilnehmenden eindrucksvoll, dass es nur in zweiter Linie um die technische Kompetenz des Videoerstellens geht, sondern vielmehr um eine medienadäquate Präsentation der beabsichtigten Inhalte.

Durch eine Veröffentlichung muss man sich auch mit Positionen jenseits des Seminarraum beschäftigen. (Illustration: Johanna Benz und Tiziana Beck/graphicrecording.cool) Lizenz: cc by-nc-sa/4.0/deed.de

Im Seminar "Externer Link: Sei dein eigener Fernsehsender! YouTube und die Welt des Webvideos kennen und verstehen lernen" wurden Teilnehmenden-Teams mit einem iPad, der App iMovie, einem Stativ und einem Mikrofon ausgestattet, um gleiche technische Ausgangsbedingungen zu schaffen. Die Aufgabe war, einen Videoclip mit möglichst großer Reichweite zu produzieren, denn es ging um die Auseinandersetzung mit dem Empfehlungsalgorithmus auf YouTube, der dafür sorgt, wie bekannt ein Video auf der Plattform werden kann. Trotz erheblicher Werbung und Anstrengungen bekamen die meisten entstandenen Videos nicht mehr als 200 Aufrufe. Während des Produktionsprozesses im Seminar gingen viele Teilnehmende von einer deutlich höheren Reichweite aus, vor deren Hintergrund auch die politischen Positionen verhandelt wurden.

In dem beschriebenen Seminarkontext wurden digitale Medien unmittelbar in den Meinungsbildungsprozess der Teilnehmenden eingebettet. Dabei kann das Öffentliche digitaler Medien ein Mittel sein, um die inhaltliche Auseinandersetzung über politische und historische Themen im Seminarraum verantwortungsbewusst zu führen. Der Unterschied zur Gruppenarbeit mit Metaplan und Moderationskarten ist offensichtlich: Der Seminarraum wird durch eine Veröffentlichung zum einen zu einer Schnittstelle, an der sich die Seminargruppe auch mit Positionen jenseits des Seminarraums auseinandersetzen muss, und zum anderen zu einem wichtigen vorgeschalteten Schutzraum, bevor sich die im YouTube-Video veröffentlichte politische Meinung dem öffentlichen Diskurs stellt. Die geplante Veröffentlichung heizt die Diskussionen in den Seminarteams über die Ausrichtung der Videos an, bei denen sich die Gruppe auf Kompromisse einigen muss. Die unterschiedlichen Meinungen werden dabei ausgefochten und müssen unter Umständen durch eine Moderation durch die Seminarleitung aufgefangen werden.

Das veröffentlichte Ergebnis wiederum ist ein erlebtes Beispiel eines kollektiv erarbeiteten Beitrags zu einem öffentlichen Diskurs. Dabei erleben sich die Teilnehmenden als Autor*innen und müssen sich Strategien ermächtigen, die die politische Kommunikation im Digitalen von ihnen abfordert: Nicht nur soll ihre politische Botschaft Reichweite erzielen. Zusätzlich müssen sich die Teilnehmenden mit anderen, vielleicht bisher nicht benannten Meinungen und Argumenten in den Kommentaren auseinandersetzen. Je größer die Reichweite der Videos, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass jenseits der Zustimmung auch Kritik zu lesen ist. Solche Reaktionen kommen selten während des Seminars und können deshalb auch nicht mehr adäquat bearbeitet werden. Bisher ist es noch nie vorgekommen, dass solche Seminarergebnisse Teil einer boshaften Hassrede geworden sind. In allen Fällen wurden die erarbeiteten Standpunkte wohlwollend aufgenommen und weitergetragen.

Durch diese Auseinandersetzungs- und Reflexionsprozesse kann die produktionsorientierte politische Bildung mit Hilfe der öffentlichen Bereitstellung im Digitalen eine verantwortungsbewusste Auseinandersetzung mit politischen Themen befördern.

Guido Brombach ist Erziehungswissenschaftler und arbeitet als Bildungsreferent der IG Metall im Bereich Digitale Kommunikation, Lernen und Medien. Er entwickelt und leitet Seminare der politischen und gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung. Dabei beschäftigt ihn vor allem die Harmonisierung der analogen und der digitalen Welt in Bildungskontexten.