Digitalisierung verändert die Demokratie. Diese Diagnose wird in Kommentaren und Leitartikeln seit Jahren gestellt, sie ist ins Alltagswissen eingewandert und lässt sich an immer neuen Beispielen von den Wahlerfolgen des "Twitter-Präsidenten" Donald Trump bis zu den diversen sozialen Bewegungen, die sich um Hashtags gruppieren, erörtern. Aber: Was an der Digitalisierung verändert was an der Demokratie? Und warum ist das Wissen um diese Veränderungen relevant für die politische Bildung?
Im Folgenden sollen die Begriffe "Demokratie" und "Digitalisierung" aufgebrochen werden, um zu zeigen, welche Aspekte digitaler Technologie und der gesellschaftlichen Phänomene, die mit ihr verknüpft sind, aus der Perspektive der Entwicklung liberaler Demokratien besonders relevant sind. Dabei soll die Chancen-und-Risiken-Rhetorik vermieden werden. Stattdessen soll ein Verständnis dafür entstehen, dass die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Demokratie am besten als dynamisches, mehrdimensionales Resultat politischen Handelns zu begreifen sind. Das heißt zugleich, dass man vor der Digitalisierung keine Angst haben, sondern sie aktiv im Sinne demokratischer Prinzipien und zur Unterstützung demokratischer Institutionen und Kommunikationsweisen gestalten sollte.
Ein paar Worte zur Digitalisierung
Wäre dieser Artikel vor zehn, fünfzehn oder gar zwanzig Jahren erschienen, so hätte er sich im Titel wohl kaum auf "Digitalisierung" bezogen. Er hätte vielmehr über das Internet und die Demokratie nachgedacht. Trotz vieler Überschneidungen ist der Wandel der Semantik interessant: zum einen, weil Diskurse über das Internet und Demokratie oftmals kommunikative Vernetzung und Globalität positiv in den Vordergrund stellen, Digitalisierung hingegen einen eher wirtschaftlichen Impetus hat und stärker verwoben ist mit Aspekten wie Souveränität und Kontrolle.
Zum anderen, weil Digitalisierung ein wesentlich umfassenderes (und auch älteres) Konzept darstellt. Die Vorstellung, dass am Digitalen vor allem die Dimension kommunikativer Vernetzung revolutionär ist, muss sich heute den Rang mit der Erkenntnis teilen, dass die kontinuierliche Abbildung der Welt in digitalen Daten sowie deren algorithmische Verarbeitung ebenso einschneidend auf Gesellschaft und Politik wirkt.
Thorsten Thiel (© Esra Eres/Weizenbaum Institut)
Thorsten Thiel (© Esra Eres/Weizenbaum Institut)
Will man Digitalisierung und ihre Folgen debattieren, so ist wichtig, dass man sich der Macht dieses Begriffs, seiner Totalität, nicht ergibt. Digitalisierung als einheitliche und von außen auf Gesellschaft wirkende Kraft unterschlägt, dass abseits der technischen Form das eigentlich wichtige die Ebene realisierter Konzepte - etwa sozialer Netzwerke, Smartphones oder das Internet der Dinge - oder gar die konkrete Umsetzung ist. Digitalisierungsprozesse lassen sich nur in ihrer Verwobenheit mit sozialen Normen und gesellschaftlichem Handeln sinnvoll diskutiere.
Mit dieser analytischen Vorbemerkung also hinein in die konkrete Frage, was die digitale Konstellation für die Demokratie bedeutet. Zwei Themenblöcke sollen hier angeschnitten werden: Der unmittelbare Kontext des Formwandels repräsentativer Politik und der mittelbare Kontext der digitalen Transformation von Öffentlichkeit (ausführlicher:
Zum Formwandel repräsentativer Politik
Wahlen werden oft als das Herzstück der Demokratie bezeichnet. In ihnen vollzieht sich die Mehrheitsbildung wie die Kontrolle der Repräsentierenden. Wenig überraschend waren Wahlen bzw. das Wählen daher auch einer der ersten Aspekte, der in der Debatte über den digitalen Wandel der Demokratie seit den 1990er-Jahren aufgerufen wurde. Die ursprüngliche Erwartung lautete, dass Digitalisierung durch die Unmittelbarkeit von Datenübertragung und -auswertung neue Möglichkeiten demokratischer Beteiligung hervorbringen würde: häufigere oder komplexere Abstimmungen, mehr direktdemokratische Elemente, dazu das Versprechen sich ausweitender Beteiligung durch bequemer integrierbare Abläufe und eine allgemein höhere Informiertheit der Bürger und Bürgerinnen.
Diese Erwartungen wurden in weiten Teilen enttäuscht. Daran zeigt sich exemplarisch, was schieflaufen kann, wenn man Digitalisierung zu einseitig versteht: Der Akt des Wählens ist kein so akutes Problem der Demokratie, als dass es hier dringend einer Lösung bedurft hätte. Gleichzeitig gibt es eine Vielzahl von Problemen mit digitalem Wählen (angefangen bei technischen Aspekten wie der Geheimhaltung und Nachvollziehbarkeit) und ein Mehr oder Häufiger an Wählen bedeutet nicht automatisch ein Mehr an Demokratie. Die Intensivierung von Beteiligungsoptionen verstärkt vielmehr oftmals Ungleichheiten – zum Beispiel weil Partizipationsmöglichkeiten seitens ressourcenstarker Akteure überproportional genutzt werden. So kann ein scheinbares Mehr an Partizipation auch Enttäuschung und Polarisierung befördern, etwa wenn die Komplexität konkreter Politik in Spannung zu Beteiligungsverfahren gerät – was etwa in kommunalen Versuchen, digitale Beteiligungsmöglichkeiten zu integrieren, oft zu Tage tritt. Dies heißt nicht, dass Innovationen am bestehenden System demokratischer Willensübermittlung unnötig wären, wohl aber, dass sie aus der Abwägung und Aushandlung gesellschaftlicher Bedürfnisse und Problemlagen gedacht werden müssen - nicht vom Entstehen technischer Möglichkeiten her.
Professionalisierung der Zivilgesellschaft
Zweitens verdeckte der Fokus auf Wahlen und Beteiligungsmöglichkeiten lange, dass ein viel weitreichender Formwandel der repräsentativen Demokratie im Gange ist. Dieser wird durch die Entwicklung unserer digitalen Gegenwart noch einmal entschieden verstärkt: die Rekonfiguration des Verhältnisses von Repräsentierenden und Repräsentierten.
Auf Seite der Repräsentierten kommt dies etwa in der Professionalisierung der Zivilgesellschaften zum Ausdruck, in der Ausweitung von Transparenz- und Responsivitätsforderungen (also dem Wunsch von Bürgern und Bürgerinnen nach unmittelbaren politischen Reaktionen) oder einem umfangreichen Petitionswesen – alles Elemente, die durch digitale Möglichkeiten dezentraler Koordination oder der Analyse großer Datenmengen besonders gestärkt werden; versinnbildlicht etwa im Erfolg von Kampagnenplattformen (etwa Externer Link: Campact, Externer Link: Avaaz). Auf die demokratischen Institutionen wächst so der Druck ansprechbar und rechenschaftspflichtig zu sein, sprich: mehr Schnittstellen zu etablieren als Wahlen und die Beobachtung der öffentlichen Meinung.
Auch die Seite der Repräsentierenden verändert sich. Ein Beispiel hierfür ist der Wandel von Parteien. Deren interne Struktur spiegelt in auffälligem Maße die dominante Form öffentlicher Kommunikation. So haben sich Parteien in der Blütezeit des linearen Fernsehens stark an einer Gruppe von Spitzenpolitikern und -politikerinnen ausgerichtet, die Bedeutung der Parteibasis für die Organisation von Stimmen ging zurück. In der Gegenwart hingegen sehen wir einen Trend zu einer stärkeren inhaltlichen Bestimmung von Themen durch aktivistische Teile der Parteibasis, was seinen vielleicht deutlichsten Ausdruck im Entstehen von Plattformparteien findet – in Deutschland etwa die (kurzlebige) Piratenpartei, international das Movimento 5 Stelle (Italien) oder Podemos (Spanien).
Eine weitere Facette dieses Wandels zeigt sich darin, dass im Kontext kommerzialisierter sozialer Netzwerke Anreize entstehen, Politik immer kleinteiliger und gezielter zu kommunizieren (Micro-Targeting). Dieses Zuschneiden und Isolieren geht einher mit einem Verlust des Kompromisscharakters demokratischer Politik, einem Verzicht auf inklusive Lösungen zugunsten der Manipulation der Wahrnehmung von Politik – man denke etwa an die extreme Polarisierung der amerikanischen Politik.
Wobei auch hier anzumerken ist, dass diese Tendenz weniger zwingend ist, als es Skandale wie jener um die Datenanalysen des Unternehmens
Alternative Formen politischer Steuerung
Ein dritter Aspekt sei noch erwähnt, der an das Gesagte anschließt, den Formwandel aber gewissermaßen überwölbt: die Veränderungen politischer Steuerungsweisen und Herrschaftsformen. Unsere Vorstellung von Demokratie ist eng verbunden mit der Steuerung durch das Recht, die Formulierung allgemeiner Gesetze, deren Sicht- und Anfechtbarkeit sowie die gleichmäßige Anwendung über alle Bürger und Bürgerinnen hinweg. In der digitalen Gesellschaft nimmt die Vielfalt wie die Effektivität alternativer Steuerungsmechanismen rapide zu.