Wenn darüber diskutiert wird, ob bzw. wie OER eine Alternative zum Schulbuch darstellen können, stößt man zunächst häufig auf zwei Missverständnisse.
Analoges Schulbuch, digitale OER?
Das erste Missverständnis ist: OER sind digital, Schulbücher sind analog. Wer heute einen Blick auf die Angebote von Schulbuchverlagen wirft, stellt sofort fest, dass das nicht stimmt. Das analoge Schulbuch steht immer häufiger auch digital zur Verfügung oder wird durch digitale Materialien und Angebote begleitet und ergänzt. Zur Distribution dieser digitalen Bildungsmedien entwickelte ein Zusammenschluss von Schulbuchverlagen u.a. die Plattform Externer Link: digitale-schulbücher.de, die im Sommer 2017 durch die Plattform "Bildungslogin" abgelöst wird. Umgekehrt gilt für OER, dass diese zwar zumeist in digitaler Form vorliegen, aber auch z.B. in Form eines ausgedruckten Arbeitsblattes und damit analog angeboten und eingesetzt werden können.
Leitmedium Schulbuch, Ergänzung durch OER?
Das zweite Missverständnis betrifft die Funktion der Materialien. Ein Schulbuch wird häufig als Leitmedium definiert, das sich an Zielen und Inhalten von Lehrplänen oder ähnlichen Standards orientiert und diese mit umsetzt. Es begleitet den Unterricht fach- und schulart-bezogen über einen längeren Zeitraum und wird in der Regel für ein ganzes Schuljahr eingesetzt. Hinter OER werden dagegen eher Einzel-Materialien vermutet, die – ergänzend oder begleitend zu anderen Lernmitteln – punktuell zum Einsatz kommen. Richtig ist: OER können auch in Form eines Schulbuchs gestaltet werden. So entstand im Rahmen des Externer Link: Projekts Schulbuch-O-Mat beispielsweise ein erstes lehrplankonformes OER-Schulbuch für das Fach Biologie. Das bedeutet: OER und Schulbücher können im Unterricht durchaus gleiche Funktionen erfüllen.
Formale Unterschiede
Das Beispiel des OER-Biologiebuchs von Schulbuch-O-Mat zeigt darüber hinaus, dass sich OER und Schulbücher auch auf inhaltlicher Ebene nicht klar voneinander abgrenzen lassen. Wie die Schulbuchforscherin Annekatrin Bock in einem Überblicksartikel zu
Schulbuch im Wandel
Fragt man nach dem möglichen zukünftigen Verhältnis von Schulbüchern und OER, sind einige Besonderheiten in der aktuellen Entwicklung der Bildungslandschaft und ihrer Anforderungen an Lernmittel zu beachten. So befindet sich das Schulbuch mit zunehmender Schüler- und Kompetenzorientierung in einem Veränderungsprozess: vom Wissensspeicher zum Lernbegleiter. Vor diesem Hintergrund werden flexibel einsetzbare Lehr- und Lernmaterialien, die sich ohne größere technische und rechtliche Hürden aktualisieren und individualisieren lassen, immer wichtiger. Neben neuen Schulbüchern kann dies vor allem über digitale Weiterentwicklungen des Formats "Arbeitsblatt" erreicht werden, wie die Externer Link: Ist-Analyse zu OER im Schulbereich deutlich macht, die im Rahmen des Projekts "Mapping OER" und mit Förderung des Bundesministerium für Bildung und Forschung durchgeführt wurde. Hier gibt es bereits viele OER-Angebote, die als Ergänzung zum Schulbuch fungieren können.
Zulassungsverfahren und Lernmittelfinanzierung
Dass das Schulbuch nicht von heute auf morgen aus den Schulen verschwinden wird, hat laut Schulbuchforscherin Bock zwei entscheidende Gründe. Demnach bieten Schulbücher den Lehrenden erstens "fertig aufbereitete, lehrplangeeignete Unterrichtsmodule". Dies wird insbesondere durch Zulassungsverfahren erreicht, bei denen unter anderem die Passung der Schulbücher auf den Lehrplan geprüft wird. Zweitens sei die Lernmittelfinanzierung bisher sehr stark auf das gedruckte Buch ausgelegt. Allerdings gelten diese Regelungen schon jetzt nicht mehr überall. So verzichten bereits vier Bundesländer – Berlin, Hamburg, Saarland und Schleswig-Holstein – vollständig auf ein formales Zulassungsverfahren von Schulbüchern durch das jeweilige Kultusministerium und überlassen stattdessen den Schulen bzw. Schulleitungen die Auswahl der Lehr- und Lernmaterialien, wie diese Externer Link: Übersicht zeigt. Ob in diesem Sinne die Zulassungsregelungen und in einem weiteren Schritt darauf aufbauend möglicherweise auch die Bildungsfinanzierung noch weiter und auch in anderen Bundesländern für OER geöffnet wird, wird maßgeblich darüber entscheiden, ob OER eine ernstzunehmende Konkurrenz für das Schulbuch werden oder eher begleitende Materialien und Angebote darstellen.
Vom Schulbuch zur OER-Plattform
In der Praxis wird in Deutschland aktuell u.a. im Land Berlin der Versuch unternommen, eine Externer Link: OER-Plattform aufzubauen, die lehrplanbezogen freie Bildungsmaterialien zur Verfügung stellt. Ein ähnliches Vorhaben starteten 18 von 19 norwegischen Provinzen bereits 2007 mit der Externer Link: National Digital Learning Arena (NDLA). Die Plattform versammelt digitale Lehr- und Lernmaterialien sowie Tools für den Oberschulbereich, die zumeist unter CC-Lizenzen stehen. Zur Finanzierung des Angebots geben die Provinzen aktuell 20 Prozent ihres Lehr- und Lernmittel-Etats an die Plattform. Die Initiative stieß durchaus auf Kritik der norwegischen Vereinigung der Verleger, die sich insbesondere gegen die staatliche Finanzierung der NDLA richtete. Externer Link: Entsprechende Klagen scheiterten allerdings vor europäischen Gerichten. Damit ist mit der NDLA eine Organisationsform zur Entwicklung und Distribution von Lehr- und Lernmitteln abseits klassischer Verlagsstrukturen entstanden, die auch für andere europäische Länder Vorbildwirkung haben könnte. Externer Link: Erste Evaluationen zeigten, dass die Plattform tatsächlich v.a. als Schulbuch-Ersatz verwendet wird und Lernende die NDLA einem Schulbuch vorziehen.
Vom Schulbuch zum "Open Textbook"
Ein weiteres Beispiel dafür, wie ein möglicher Übergang vom klassischen Schulbuch zu OER-Schulbüchern aussehen kann, liefert ein Blick nach Polen. Hier gab es 2012 ein erstes Pilotprojekt und 2014 eine offene Ausschreibung zur Gestaltung von freien Bildungsmaterialien für die unteren Klassenstufen. Die polnischen Schulbuchverlage beteiligten sich an dieser Initiative nicht und auch Vertreter von deutschen Schulbuchverlagen sahen die Initiative kritisch. Externer Link: Befürchtet wurden Qualitätsverluste, Einsparungen an Schulen, die Zerstörung traditioneller Schulbuchmärkte und Einbußen für die Lehrenden, wenn Verlage zukünftig um die Gunst derjenigen werben müssen, die einen OER-Auftrag vergeben. Unter Befürwortern gilt Externer Link: Polen dagegen als erstes Land, das die Entwicklung offener Schulbücher auf nationaler Ebene vorantreibt und damit auch Einsparungen für die Eltern erzielen wird.
Die Alternative zur Alternative?
In welche Richtung sich Erstellung, Vertrieb und Format von Schulbüchern abseits von OER und klassischem Schulbuchverlag auch (weiter-) entwickeln können, zeigt derweil z. B. das Projekt Externer Link: mBook. Während das digitale Schulbuch mBook für die didaktische und technische Aufbereitung vielfach ausgezeichnet wurde, ist es lizenzrechtlich doch (noch) genau so eingeschränkt nutzbar wie die meisten herkömmlichen Schulbücher. So erwerben die Nutzerinnen und Nutzer lediglich eine zeitlich begrenzte Lizenz, die die Nutzung für private und Unterrichtszwecke erlaubt – mit allen Unklarheiten und Schwierigkeiten, die eine solche Lizenzierung in Bezug auf Anpassbarkeit und Verbreitungsmöglichkeiten für die (schulische) Bildungspraxis mit sich bringt. Einen ersten Schritt in Richtung OER unternahmen die mBook-Ersteller mit der Ausgabe zum Themenfeld "Externer Link: Russlanddeutsche Kulturgeschichte", die nach Diskussionen in der OER-Community unter der offenen CC BY-SA-Lizenz veröffentlicht wurde.
OER stellen gegenwärtig (noch) keine Alternative zum Schulbuch dar. Vielmehr gibt es einige wenige Schulbücher, die in kollaborativen Arbeitsprozessen erstellt wurden und offen lizenziert sind sowie viele OER, die herkömmliche – proprietäre – Schulbücher ergänzen können. Ob sich die offene Erstellung und Lizenzierung von Schulbüchern verbreiten wird, hängt maßgeblich von der Weiterentwicklung bzw. Öffnung der gängigen Entwicklung-, Zulassungs- und Finanzierungsverfahren ab. Setzen sich OER in der Bildungslandschaft weiter durch, kann dies unser Verständnis von Lehr- und Lernmaterialien grundlegend verändern – ähnlich wie die Wikipedia unser Verständnis einer Enzyklopädie grundlegend verändert hat: weg vom dauerhaften Wissensspeicher, hin zur fortlaufenden Diskussion und Überarbeitung der Inhalte. Ob für ein solches Bildungsmaterial die Bezeichnung "Schulbuch" noch angebracht ist, bleibt abzuwarten.
Link-Tipps zum Weiterlesen und -hören:
Externer Link: Projekt Schulbuch-O-Mat: In dem OER-Projekt werden seit 2012 frei zugängliche und einsetzbare Schulbücher erarbeitet. Im ersten Schritt wurde ein Biologieschulbuch erstellt, das mit dem Berliner Lehrplan konform ist (Biologie I, 7./8. Schulstufe). Das Vorhaben wurde anschließend Externer Link: evaluiert.
Externer Link: Ist-Analyse zu OER in der Schule: Martin Ebner, Elly Köpf, Jöran Muuß-Merholz, Martin Schön, Sandra Schön und Nils Weichert erstellten für das Projekt "Mapping OER" eine IST-Analyse zu OER, die u.a. einen Überblick über die Rolle von (digitalen) Bildungsressourcen an Schulen gibt.
Externer Link: Öffentliche Lernmittelfinanzierung und OER: Leonhard Dobusch analysierte für das Projekt "Mapping OER", wie offen die Lernmittelfinanzierung für OER ist bzw. sein könnte.
Externer Link: OER versus Schulbuchverlage: Audio-Beitrag von Klaus Fechner für das Projekt cids! (Computer in die Schulen)
Externer Link: Mögliche Wege zum Schulbuch als Open Educational Resources (OER) In der Machbarkeitsstudie werden sechs Szenarien für OER-Schulbücher in Österreich beschrieben und Empfehlungen für eine nationale Strategie sowie die Umsetzung von OER-Schulbüchern gegeben wie auch OER allgemein.