Hintergrund
Seit Mitte der 1990er Jahre verbreiten sunnitische Extremist/-innen Videoaufnahmen, Bilder und vor allem Schriften über das Internet. Lange Zeit war es hauptsächlich al-Qa'ida, später war es allen voran der sog. Islamische Staat (IS), der mit seinen Medienzentren wie "Al Hayat" oder "Amaq" diese Tradition fortsetzte und Inhalte in unterschiedlichen Formaten, aber hauptsächlich über Videos entwickelt und online verbreitet. Vor allem das sog. Web 2.0, die Social Media, werden konsequent von Sympathisant/-innen und (virtuellen) Führern des Jihads systematisch und professionell genutzt, um auf möglichst vielen Ebenen des Internets präsent zu sein. Das ermöglicht eine Interaktion mit potentiellen Befürworter/-innen und dient neben der aktiven Rekrutierung vor allem der Verbreitung jihadistischer Inhalte.
Die jihadistischen Propagandavideos sind speziell auf die Sehgewohnheiten Jugendlicher bzw. junger Erwachsener ausgerichtet, professionell produziert und mit Spezialeffekten animiert. Das zentrale Narrativ jihadistischer Propaganda ist dabei die angebliche Bedrohung der konstruierten Eigengruppe, durch die alle Muslime verpflichtet werden sollen, sich dem Kampf gegen diese Bedrohung anzuschließen. Dieser "Call to Action", der Appell, Verantwortung zu übernehmen und sich den jeweiligen transnationalen jihadistischen Gruppierungen anzuschließen, ist auch eines der Hauptattraktivitätsmomente der Propaganda des sog. IS.
Gerade bei bestimmten Themenfeldern und Fragen dominieren mittlerweile jedoch neo-salafistische bzw. islamistisch-extremistische Positionen online. Sie agieren meist im legalen Rahmen und knüpfen mit ihrem ideologischen Framing an (muslimischen) Mainstream-Diskursen bzw. der Lebenswelt (muslimischer) Jugendlicher an. Auf diese Weise können sie Social Media mit ihren Inhalten direkt bespielen und mit der Zielgruppe in Interaktion treten, ohne dazu geschlossene Telegram-Gruppen nutzen zu müssen. So können Jugendliche bereits durch harmlose, unpolitische Suchanfragen auf ihre Inhalte, Online-Kanäle und Netzwerke gelangen – und insofern spielt das Internet eine zentrale Rolle dabei, dass Jugendliche mit extremistischen Inhalten in Berührung kommen. Das Erstarken der extremen Rechten und autoritärer – zum Teil repressiver – Politik in Westeuropa, erleichtert den Rekrutierer/-innen hierbei die klassischen Narrative von "Ihr seid als Muslime hier nicht willkommen" und ohnehin sei "der Islam" mit "dem Westen" nicht vereinbar – eine Position, die sowohl in rechten als auch in islamistisch-extremistischen Kreisen zu finden ist. Ein gottgefälliges Leben nach Koran und Sunna wird dabei als unvereinbar mit der demokratischen Ordnung in westlichen Gesellschaften betrachtet.
Vor diesem Hintergrund besteht großer Bedarf an innovativen Projekten sowie lebensweltorientierten Angeboten der politischen Bildung auf Social Media. Das Projekt "Jamal al-Khatib" setzt genau hier an, um auf Social Media-Plattformen eine Auseinandersetzung mit eben jenen Themenfeldern und Fragen zu fördern, zu denen im Internet Antworten von extremistischen Positionen dominieren und für deren Reflexion es offline oft keinen Raum gibt, wodurch eine Hinwendung zum Extremismus befördert werden kann.
Methodik
An dem Projekt arbeiten sowohl Mitarbeiter/-innen des Vereins Turn – Verein für Gewalt- und Extremismusprävention als auch Jugendliche und junge Erwachsene, die aus der jihadistischen Szene ausgestiegen sind oder die sich in der "Hochphase" des sogenannten IS 2014/2015 resilient gegenüber jihadistischen Narrativen gezeigt und damals in ihrer Peer Group eine kritische Position bezogen haben. Entsprechend des Peer-to-Peer Ansatzes bilden ihre Erfahrungen, Erlebnisse und Gedanken die Grundlage für die Projektinhalte. Mittels der
Die Videos werden auf eigenen Kanälen der Social-Media-Plattformen YouTube, Facebook und Instagram veröffentlicht. Über die Figur Jamal al-Khatib werden alternative Narrative zu jihadistischer und islamistische-extremistischer Online-Propaganda an die Dialoggruppe herangetragen und mit der
Weiterentwicklung des Projekts
Die 2017 veröffentlichte erste Staffel des Projekts Jamal al-Khatib – Mein Weg! reagierte aufgrund der noch hauptsächlich von der Propaganda des sogenannten IS und ähnlicher Gruppierungen geprägten digitalen Lebenswelt der Dialoggruppen des Projekts noch verstärkt auf jihadistische Narrative. Dementsprechend wurden in den vier Videos unter anderem der Jihad-Begriff
Im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb veröffentlichte Turn – Verein für Gewalt- und Extremismusprävention 2019 die zweite Staffel von "Jamal al-Khatib – Mein Weg!" online. Insgesamt wurden fünf Hauptvideos und mehrere Nebenformate zur Vertiefung der Inhalte publiziert. Sie thematisieren und dekonstruieren Versatzstücke jihadistischer und islamistisch-extremistischer Propaganda. Im Zuge der zweiten Staffel wurden neue
2020 und 2021 wurde das Projekt Jamal al-Khatib (innerhalb der dritten Staffel) erneut im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb fortgeführt. In der Fortsetzung wurde wiederum ein breiteres Themenspektrum abgedeckt, welches die Entwicklung von alternativen Narrativen zu extremistischer Propaganda hin zu Politischer Bildung für schwer erreichbare Dialoggruppen widerspiegelt: Unter anderem wurden die Mechanismen hinter Völkermord und (anti-muslimischem) Rassismus behandelt, also Themen, zu denen online in einem hohen Maße extremistische Positionen kursieren. Eine weitere Entwicklung zeichnete sich hinsichtlich der Distributionsform ab: Während die ersten beiden Staffeln in Online-Kampagnen (d.h. Videoreihen) veröffentlicht wurden, liegt nun der Fokus seit der dritten Staffel auf der Etablierung der Jamal al-Khatib Social-Media-Kanäle als Diskussionsplattform bzw. als digitale Anlaufstelle der politischen Bildung für Jugendliche und junge Erwachsene. Außerdem wurden die Inhalte über unterschiedlichere Formate an die Dialoggruppen herangetragen, auch um mehr Anknüpfungspunkte bieten zu können.
Derzeit läuft das Projekt bereits in der vierten Staffel. Im Zuge dieser Staffel wird der Ansatz des kampagnenbasierten Arbeitens zu einer Form des Community Managements mit durchgehender Betreuung und Bespielung der Social-Media-Kanäle weiterentwickelt. So werden nicht nur auf den Kampagnenzeitraum begrenzt alternative Inhalte in die szenenspezifischen Filterblasen der Online-Zielgruppe getragen, sondern auch dauerhalft alternative Plattformen und Anlaufstellen zur Verfügung gestellt, um so den zahlreichen Plattformen extremistischer Akteure ein Bildungsangebot entgegenzusetzen.
Ziel
Durch die Video-Serien sollen Reflexionsprozesse und Diskussionen angeregt werden, alternative Narrative zu jihadistischer und islamistisch-extremistischer Propaganda vermittelt werden, Jugendliche im Umgang mit Konflikten, Kompromissen und Widersprüchen gestärkt und ihre Ambiguitätstoleranz gefördert werden. Die eigenen Kanäle auf den Social-Media-Plattformen werden dabei in erster Linie als Diskussionsplattformen für Jugendliche und junge Erwachsene gesehen. Über die Figur „Jamal al-Khatib“ und seine Geschichte können Diskurse (online) als Projektionsfläche ausverhandelt werden. Die Video-Serien beinhalten einen "Call to Action", d.h. einerseits die Aufforderung in Diskussion über die Inhalte zu treten und sich kritisch damit auseinanderzusetzen, andererseits die Aufforderung, selbst Formen des (progressiven) Widerstandes gegen Ungerechtigkeiten zu finden. Die Alternativen Narrative der Videos sollen also von der Online-Dialoggruppe nicht einfach übernommen, sondern diskutiert und kritisch hinterfragt werden.
Impact
Das Projekt wird von Beginn an wissenschaftlich begleitet, um der Frage nachzugehen, in wie weit die für das Projekt gesetzten Ziele erreicht werden. Die Ergebnisse sozialer Netzwerk-Analysen zeigen, dass es gelingt, die vorhergesehenen Dialoggruppen zu erreichen und mit ihnen in Diskussion zu treten.
Die dazu entwickelten