YouTube ist mittlerweile nicht nur in allen Bevölkerungsschichten ein beliebtes Online-Angebot zur Unterhaltung und Information. Für viele bietet die Plattform auch einen Raum für die eigene Präsentation, Artikulationen, Gemeinschaft und Diskussion. Eine Studie des Rats für kulturelle Bildung (2019) verdeutlicht weiterhin, dass Jugendliche YouTube nicht nur zu Unterhaltungszwecken, sondern auch als digitalen Lernort nutzen. Diese Nutzungsweise gewann durch die Besonderheiten der Lockdown- und Physical-Distancing-Maßnahmen der COVID-19-Pandemie zusätzlich an Relevanz (mpfs, 2020). Aber auch bei älteren Nutzer/-innen erfreuen sich Online-Videoangebote im Allgemeinen und YouTube im Besonderen mittlerweile großer Beliebtheit – und das Potential audiovisueller Online-Angebote in höheren Altersgruppen wächst kontinuierlich (Koch & Beisch, 2020).
Auch Bildungseinrichtungen und -anbieter unterschiedlichster Art greifen verstärkt auf die Videoplattform zurück, um ihre Angebote einerseits einem großen Publikum zur Verfügung zu stellen und andererseits mit diesem Publikum in den Austausch zu treten. Über YouTube lassen sich (theoretisch) ressourcenschonend in kürzester Zeit große und diverse Zielgruppen erreichen. Die vielfältigen Informations-, Präsentations- und Beteiligungsmöglichkeiten von YouTube möchten sich v.a. auch Akteur/-innen der politischen Bildung zu Nutze machen. Damit ist die Hoffnung verbunden, Personen zu erreichen und zu interessieren, die auf anderen Wegen politischen Bildungsangeboten weniger zugewandt sind.
Grenzen zwischen Werbung und Inhalt verschwimmen
Die Plattform stellt ihre Dienste aber nicht uneigennützig zur Verfügung. Hinter YouTube steht ein millionenschweres wirtschaftlich arbeitendes Unternehmen mit einer eigenen Plattformlogik (z. B. im Hinblick auf Algorithmen, Werbung). Ziel ist Zuwachs, Umsatz und Gewinn. YouTube birgt daher nicht nur Potentiale für die Nutzenden, sondern auch eine Vielzahl an Herausforderungen.
So finden sich neben professionell erstellten Inhalten, eine nahezu unüberschaubare Bandbreite an nutzer/-innengenerierten Videoinhalten. Letztere können im Hinblick auf ihre inhaltliche und formale Qualität durchaus fragwürdig sein. Weiterhin verschwimmen zuweilen insbesondere bei populären YouTube-Inhalten die Grenzen zwischen Werbung und (Unterhaltungs-/Informations-/o. Ä.) Inhalt. Das hängt nicht zuletzt mit den Monetarisierungsstrategien auf der Plattform zusammen.
Ferner fordern Kontext- und Strukturbedingungen von YouTube wie Algorithmen, Datenschutz, Nutzer/-innenkommentare und Metriken (z. B. View-Zahlen, Likes) die Nutzer/-innen – wenngleich oft unbewusst – heraus. Und nicht zuletzt ist vor dem Hintergrund jüngerer Erkenntnisse der Medienwirkungs- und Rezeptionsforschung fraglich, inwiefern sich audiovisuelle Angebote dazu eignen, (politische) Bildungsziele umzusetzen – sofern sie allein für sich, also unabhängig von einer pädagogischen Rahmung stehen.
Emotionalisierende Videos erfreuen sich größerer Beliebtheit
Die Forschung der vergangenen Jahre zum Einsatz von YouTube und Webvideos in Bildungskontexten zeigt große methodische und thematische Vielfalt. Systematische Forschungsarbeiten zu der Wirkung von Webvideos (z.B. auf das Wissen der Nutzenden) sind dabei eher unterrepräsentiert. Darüber hinaus befassen sich nur wenige Studien mit dem Einsatz und der Wirkung sozialer Medien und im Speziellen YouTube in außerschulischen und außeruniversitären Bildungssettings.
Inhaltsanalysen zu Lerninhalten – zu einem großen Teil zu gesundheitsbezogenen oder medizinischen Fragestellungen – deuten auf gravierende Schwächen der inhaltlichen Qualität von Webvideos hin. So werden viele unsachliche oder gar unseriöse Inhalte durch Nutzer-/innen bereitgestellt. Subjektive, u.U. stark emotionalisierte (Erfahrungs-)Berichte beispielsweise können zu einer Meinungspolarisierung beitragen. Dies ist umso gefährlicher, da polarisierende und emotionalisierende Videos sich oftmals größerer Beliebtheit beim Publikum erfreuen (z.B. mehr Likes bekommen, häufiger angeklickt und kommentiert werden), daher möglicherweise von den Plattform-Algorithmen bevorzugt und wiederum von der Plattform zur weiteren Rezeption "empfohlen" werden.
Unterstützung bei herausfordernden Angeboten
Lernende in selbstorganisierten Lern- und anderen Nutzungssettings sind von diesen potentiellen Gefahren besonders betroffen. Die Anforderungen an deren Orientierungswissen und Medienkritikfähigkeit sowohl im Umgang mit den audiovisuellen Inhalten der Plattform als auch mit ihren Kontext- und Strukturbedingungen (Algorithmen, Nutzer/-innenkommentare) sind hoch. Ähnlich verhält es sich mit den Anforderungen an ihre Lerndisziplin und Motivation, sich mit bestimmten Inhalten auseinanderzusetzen. Die Ablenkung durch andere Angebote ist immens.
Formalisierte Lern- und Bildungssettings, aber auch die begleitete Nutzung von YouTube von Eltern und ihren Kindern bieten vielfältige Möglichkeiten, sich dieser Herausforderungen sinnvoll anzunehmen. So können Pädagog/-innen Unterstützung bei der Auswahl von sachlichen und fachlich hilfreichen Angeboten bieten bzw. herausfordernde Angebote pädagogisch rahmen. Wie die im Dossier dargestellten Studien zur Einbindung von Webvideos in schulische und universitäre Lernsettings zeigen: als audiovisueller Gesprächsanlass oder als Ergänzung "traditioneller" didaktischer Maßnahmen können Webvideos eine sinnvolle Ergänzung von Bildungsmaßnahmen sein. Jedoch steht weder bei den zitierten Studien noch bei vielen praktischen Materialen (siehe:
Pädagogische Materialien online: große Vielfalt, aber versteckt
Der durch YouTube und Webvideos eröffnete Raum muss daher umsichtig "bespielt" werden. Bildung und Lernen mit Webvideos und YouTube sollte im Zuge dessen in ihrer Vielfalt anerkannt und behandelt werden. Weiterhin ist es erforderlich die Themen, Inhalte und (Bild-)Sprache der Angebote auf die Besonderheiten der Plattform, die Anforderungen der zu erreichenden Nutzer/-innengruppe sowie die jeweiligen Lernziele abzustimmen. Dabei gilt stets: Es gibt keine One-fits-all-Lösung! Um dem Umstand, dass es sich um Webvideos handelt, gerecht zu werden, können Pädagog/-innen die Kontext- und Strukturbedingungen digitaler Anwendungen selbst zum Thema von Medienerziehung und -bildung machen. Dies schließt beispielsweise eine Auseinandersetzung mit Nutzer/-innenkommentaren und Algorithmen oder Influencer/-innen ein (siehe auch Ernst & Schmitt, 2020).
Es gibt mittlerweile zwar eine große Vielfalt pädagogischer Materialien, die unterschiedliche Fragen von, mit und über Webvideos und YouTube thematisieren. Viele von ihnen sind online frei verfügbar. Nur ein Bruchteil von ihnen werden im Dossier vorgestellt. Wenngleich es zuweilen Versuche einer systematischen Zusammenstellung von Materialien für einzelne pädagogische Kontexte gibt (siehe z. B. Externer Link: ufuq.de oder Externer Link: RISE, die Materialien unterschiedlicher Quellen z. B. zum Umgang mit Islamfeindlichkeit, Islamismus, Diskriminierung versammeln), sind Unterrichtsmaterialien oft auf Projektwebseiten o. Ä. "versteckt", die sich bei einer einfachen Google-Suche nicht unbedingt finden lassen. Es zeigen sich auch hier die Herausforderungen des Internets deutlich. Neben umfassenden Such-, Orientierungs- und Entscheidungskompetenzen erfordert die Suche, Auswahl und Einbindung von digital verfügbaren Materialien vor allem umfassende fachliche Kompetenzen bei Pädagog/-innen: Was sind gute und hilfreiche Materialien? Wonach wähle ich aus? Kann ich sie in der gegebenen Form nutzen? Inwiefern muss ich sie inhaltlich und methodisch an meine Lerngruppe anpassen? Welche Kompetenzen kann ich damit fördern? Woher weiß ich, dass ich als Lehrende/-r erfolgreich war? Wie kann ich Wirksamkeit der Materialien evaluieren?
Hindernisse für den Lernerfolg
Sämtliche Aspekte benötigen Souveränität, Kenntnisse und (subjektiven) Kompetenzen der Pädagog/-innen im Umgang mit digitalen Bildungsangeboten (siehe auch Schmitt et al., 2019). Die Wirksamkeit und der Sinn der Einbindung von Webvideos bzw. der dazugehörigen Materialien in die unterschiedlichsten Bildungssettings hängen etwa von den im Vorfeld definierten Lernzielen ab. Diese entscheiden nicht nur darüber, in welcher Form welche Webvideos in die pädagogische Arbeit eingebunden werden sollten, sondern auch ob überhaupt Webvideos ein sinnvolles pädagogisches Element darstellen (Laaser & Toloza, 2017).
Ein weiteres Hindernis für den Lernerfolg insbesondere in institutionalisierten Settings kann die technische Ausstattung sein. So kann der Einsatz von Webvideos in einem schulischen oder auch akademischen Setting Ungleichheiten im Hinblick auf die technische Ausstattung der Lernenden zutage fördern, sofern erforderlich ist, dass die Lernenden ihre eigenen Geräte nutzen. Eventuell laufen Webvideos bei dem einen Gerät störungsfreier als bei dem anderen. Auch die technische Ausstattung innerhalb einer Lerneinrichtung (z. B. Wlan, Verfügbarkeit von Abspiel- und Produktionsgeräten) kann den Einsatz digitaler Tools jeglicher Art einschränken. Insgesamt aber gilt: Das beste Video und die besten pädagogischen Materialien haben keinen Effekt, wenn sie nicht genutzt werden oder formulierte Lernziele nicht dazu passen.
Nutzer/-innen effektiv mit den eigenen Angeboten zu erreichen, ist eine weitere Herausforderung, die viel Raum und Diskussion bei der Gestaltung von Angeboten einnehmen sollte. Dabei stehen Fragen im Vordergrund wie: Inwiefern lassen sich etwa bekannte Influencer/-innen einbinden? Inwieweit profitieren Angebote von einer Vernetzung auf der Webvideo-Plattform und darüber hinaus? Wie kann Partizipation und Interaktion zwischen den Rezipient/-innen gefördert und damit auch der Bildungserfolg gesteigert werden?
Fazit
Webvideos bieten eine Möglichkeit, Personen zu erreichen, die mit klassischen Methoden der politischen Bildung nicht (mehr) erreicht werden können. Dementsprechend hoch sind die Erwartungen an das Medium. Jedoch sollten aufgrund der Diversität der mit der Plattform verbundenen Herausforderungen eben nicht nur um die Inhalte, ihre Präsentation und Wirkung, sondern v. a. auch um eine Vielzahl an technischen und sozialen Fragen Berücksichtigung in pädagogischen Settings finden. So heißt es etwa bei Burgess und Green (2009, S. 72):
"Being ‘literate’ in the context of YouTube, then, means not only being able to create and consume video content, but also navigating YouTube as a set of technologies and as a social network."
Eine pädagogische Begleitung von online-bereitgestellten Inhalten kann sich positiv auf die Rezeption und Wirksamkeit dieser auswirken und die potentiell negativen Einflüsse der oben skizzierten Herausforderungen verringern. Eine sinnvolle und kritische Evaluation, die bereits im Zuge der Konzeption von Angeboten geplant wird, ebenso wie eine offene und kritische Haltung den eigenen Erzeugnissen gegenüber kann dazu beitragen, aus möglichen Fehlern zu lernen und die eigenen Angebote zu verbessern.