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Hass for you | Lernen mit – und über – TikTok | bpb.de

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Hass for you Antisemitismus und der Nahostkonflikt bei TikTok

Eva Berendsen Deborah Schnabel

/ 16 Minuten zu lesen

Antisemitismus und Verschwörungserzählungen zum Nahostkonflikt haben sich auf TikTok nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 verbreitet. Doch der Diskurs in den sozialen Medien wird roher – und das mit Folgen für einzelne Menschen wie auch die Demokratie.

(© Adobe-Stock/svetazi)

Eine Food-Influencerin verteilt am 7. Oktober Süßigkeiten zur Feier des Überfalls der Hamas auf Israel – das Video der Aktion geht auf TikTok viral. Eine Schmink-Spezialistin erzählt vor laufender Kamera eine verschwörungsideologische Geschichte des Nahostkonflikts im Stil einer Volksweise, während sie nach und nach ihr Gesicht mit in einer Symbolik bemalt, die an das Emblem der islamistischen Terrororganisation Hamas erinnert – fast sechs Millionen Menschen haben das Video bislang auf TikTok gesehen.

Die Beispiele zeigen: Der Diskurs um den Nahostkonflikt mitsamt seiner antisemitischen Propaganda und rassistischen Hetze ist längst auch bei TikTok angekommen. Die Plattform für Kurzvideos ist inzwischen das zentrale Leit- und Massenmedium einer ganzen Generation. TikTok fungiert als Unterhaltungsplattform, Suchmaschine, Nachrichtenquelle, Hausaufgabenhilfe, Kontaktplattform und Messengerdienst in einem, wird zum Entertainment, Zeitvertreib und Socializing genutzt. Im Zusammenhang mit globalen Krisen, Konflikten und Kriegen ist TikTok – wie andere große Social Media-Plattformen auch – zum Schauplatz von politischer Desinformation, Verschwörungserzählungen und politischer Radikalisierung geworden. Das Besondere: Bei TikTok trifft politischer – und politisch fragwürdiger – Content in einem extrem hohen Tempo, mit einer unvergleichlichen Wucht und besonderen Emotionalität auf eine junge, vulnerable Zielgruppe, die naturgemäß auf wenig Vorwissen über komplexe gesellschaftspolitische Themen zurückgreifen kann. Die algorithmischen Parameter der Plattform schaffen zudem besonders enge Meinungstunnel, die kaum Korrektive, Differenzierungen oder alternative Deutungsangebote liefern – die Nutzer*innen werden in kürzester Zeit mit immer radikaleren Inhalten versorgt. Diese Probleme bestehen bei TikTok schon lange, NGOs und kritische Beobachter*innen warnen seit Jahren. Seit dem Überfall der islamistischen Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel und dem Beginn des Gaza-Kriegs zeigen sich diese Probleme besonders deutlich.

Von der Rothschild-Verschwörung bis zur „TikTok-Intifada“ 2021

Antisemitismus war schon vor dem 7. Oktober 2023 ein Problem auf TikTok, äußerte sich etwa in Form von Verschwörungstheorien, Leugnung oder Relativierung der Shoah sowie israelbezogenem Antisemitismus. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wurde die Verbreitung antisemitischer Verschwörungserzählungen auf TikTok vereinzelt öffentlich beklagt, wenn auch nur für kurze Zeit. In den Jahren der Pandemie kursierten im Internet allgemein und speziell auf der Plattform massenhaft Videos, in denen die Schuld für die globale Krise einer kleinen Gruppe mächtiger Personen gegeben wurde, die vermeintlich hinter dem Virus und seiner Verbreitung steckten, unterschiedliche antisemitische Chiffren machten dabei die Runde – von den „Rothschilds“, der jüdischen Bankiersfamilie, der seit Jahrhunderten unterstellt wird, über die Finanzierung von Regierungen die Welt im Kriegszustand zu halten, bis hin zur „new world order“ bzw. „Neuen Weltordnung“, hinter der die alles kontrollierenden Juden stünden, oder dem „einen Prozent“, also der Herrschaft durch das oberste eine Prozent der Gesellschaft, das selbstredend jüdisch imaginiert wird.

Antisemitische Codes sind massenhaft auf TikTok zu beobachten, sie drücken sich zum Beispiel auch in zunächst völlig harmlos daher kommenden Emojis aus: Lange waren in extrem rechten Kreisen etwa die zwei Blitze beliebt als Anspielung auf die Runen der SS – eine Symbolik, die neben klassischen rechtsextremen Zahlen- und Buchstaben-Codes (z.B. 88 für den achten Buchstaben im Alphabet als Chiffre für „Heil Hitler“) auch gerne in den Profilbildern von Nutzer*innen zum Einsatz kommt, die ihre politische Gesinnung mehr oder weniger verdeckt betonen möchten. Was auf den ersten Blick eine simple Aneinanderreihung von Emojis ist, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als antisemitische oder NS-verherrlichende Message. Sie richtig deuten zu können, erfordert (Vor-) Wissen und Sensibilisierung, was besonders bei Jugendlichen nicht vorausgesetzt werden kann. Das gilt verstärkt beim israelbezogenen Antisemitismus, den auch Erwachsene oft nicht als solchen erkennen können. In Kommentarspalten tauchen beispielsweise oft bestimmte Emoji-Kombinationen auf: Mit der Reihung israelische Flagge und Schuh etwa wird dazu animiert, Israel „den Schuh zu geben“, es symbolisch zu treten und zu beschmutzen; kombiniert mit dem Toiletten- oder einem Fäkalhaufen-Emoji wird deutlich eine Verachtung des Staates bis zur Israelfeindschaft artikuliert; wenn die Flagge mit einem Geldsack oder einem lange-Nase-Emoji kombiniert wird, werden offen judenfeindliche Stereotype bedient und die Grenzen von der Kritik an Israel zum israelbezogenen Antisemitismus eindeutig überschritten.

Bei der letzten Eskalation im Nahostkonflikt, im Frühjahr 2021, wurde auch die Lage im Netz angespannter, unter anderem auf TikTok. Typische Narrative, die wir seit dem 7. Oktober 2023 beobachten können, fanden sich schon damals: Israel wird mit dem Südafrika der Apartheid gleichgesetzt und als „weiße“ Siedlerkolonie imaginiert; die historische Verwurzelung von Jüdinnen_Juden in Israel wird ausgeblendet, ebenso die Shoah und die Pogrome in Osteuropa, die zur Staatsgründung führten – gleiches gilt für die tatsächliche Zusammensetzung der israelischen Bevölkerung, die mit „weiß“ schlichtweg unzureichend charakterisiert ist. Jüdinnen_Juden werden dabei zu Objekten politischer Projektion und in zwei Gruppen sortiert – in gute, besatzungskritische und israelfeindliche Personen einerseits und „Zionist*innen“ andererseits, wobei letztere einen geringeren Schutzstatus zugeschrieben bekommen.

Neben verbaler Gewalt waren im TikTok-Universum auch im Jahr 2021 bereits körperliche Gewaltexzesse zu beobachten: Unter der Losung „TikTok-Intifada“ riefen TikTok-Nutzer*innen zur Unterstützung von Palästinenser*innen auf. Damals verbreitete sich rasant ein Video, auf dem zu sehen ist, wie eine palästinensisch gelesene Person einer jüdisch-orthodox gelesenen Person eine Backpfeife verpasst. „Happy Slapping“ nennt man diese Aktion, also eine unprovozierte Ohrfeige aus dem Nichts. Angegriffen wurden hier orthodoxe Juden, die allein aufgrund ihrer Kleidung als solche identifiziert und stellvertretend für die Politik Israels „bestraft“ wurden. Unter dem Hashtag #tiktokintifada kam es unmittelbar zu Nachahmungen. Mehr und mehr Videos, in denen versucht wurde, Übergriffe auf jüdische Menschen zu filmen, gingen viral.

Auf diese Aktionen folgte damals eine kurze Welle der Empörung in den etablierten Medien – dann ging man wieder zur Tagesordnung über. Es brauchte erst die unglaubliche Menge aus Antisemitismus und Desinformation, die sich ab dem 7. Oktober 2023 auf TikTok verbreitete, dass sich die Aufmerksamkeit für die Kurzvideoplattform endlich verstärkte. Für die Aufrechterhaltung eines nachhaltigen Problembewusstseins, bedarf es Beobachtungen und Analysen verschiedener Plattformen – u.a. TikTok, wie es bspw. in dem Report der Bildungsstätte Anne Frank „Die TikTok-Intifada. Der 7. Oktober 2023 und seine Folgen im Netz“ getan wurde. Auch andere Plattformen wie Instagram stehen TikTok da in nichts nach. Im Gegenteil zeigte eine Untersuchung des Instituts for Strategic Dialogue (ISD) auf, dass gewaltvoller und -verherrlichender Inhalt im Kontext des Kriegs auf Instagram am besten zugänglich und am weitesten verbreitet sei.

(© Adobe-Stock/stokkete)

Gewaltvideos, Desinformation & Künstliche Intelligenz

Wie auch schon der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine findet auch der Nahostkonflikt auf TikTok statt, als Nebenschauplatz und als Ort der quasi-Live-Übertragung des Konfliktgeschehens. Das bedeutet zunächst, dass eine enorme Masse an Gewaltvideos auf der Plattform – wie auch auf anderen Plattformen ein Millionenpublikum erreicht, ohne Trigger-Warnungen, journalistische Einordnung oder klare Regulierung. Schon am Tag des größten Massakers an Jüdinnen und Juden nach der Shoah verbreiteten islamistische Accounts Videos der Taten der terroristischen Hamas auf TikTok; die Gewaltexzesse, die Terroristen beim Supernova-Festival und in den überfallenen Kibbuzim an der israelischen Zivilbevölkerung verübten, wurden als Videoschnipsel auf die „ForYou“-Page von Millionen – teils minderjährigen – Nutzer*innen gespült. Videos der deutsch-israelischen Geisel der Hamas, Shani Louk, wie sie bewusstlos auf einem Truck liegt, gingen viral. Seit dem Beginn des Gaza-Kriegs werden auch täglich Videos von den israelischen Militärschlägen, den Bombenangriffen der IDF (Israel Defense Force = israelische Armee) auf den Gaza-Streifen und des Leids der palästinensischen Zivilbevölkerung auf TikTok verbreitet. Die Verbreitung solcher Inhalte stellt insbesondere im Hinblick auf den Jugendmedienschutz eine Herausforderung dar. Während Zensur als staatliche Kontrolle vor und während der Veröffentlichung in einem demokratischen Rechtsstaat nicht zulässig ist, besteht eine dringende Notwendigkeit, Kinder und Jugendliche vor gewaltverherrlichenden und traumatisierenden Inhalten zu schützen, etwa in Form von Altersbeschränkungen, Trigger-Warnungen oder bessere Filtermechanismen.

Neben dieser unüberblickbaren Masse an Videos, die größtenteils heftige und verstörende Gewalt- und Kriegsszenen zeigen, wurde TikTok mit einer Menge Fehlinformationen geflutet. Der Konsum von gezielter Desinformation kann als Ausgangspunkt und „Einstiegsdroge“ zur weiteren politischen Radikalisierung gelten. Es gab Behauptungen, die Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung seien nicht von der Hamas durchgeführt worden, sondern von der israelischen Regierung – der 7. Oktober sei ein sogenannter „Inside Job“ gewesen. Millionenstarke Reichweiten erzielten auch Videos, in denen in Zweifel gezogen wurde, ob der Angriff auf die Besucher*innen des Supernova-Musikfestivals überhaupt stattgefunden hätte: Wenn es Tote gegeben hätte, seien es keine Zivilist*innen, sondern Angehörige des Militärs gewesen, so lauteten verschwörungstheoretische Gerüchte.

Auch Künstliche Intelligenz und KI-generierte Bilder kommen dabei zum Einsatz: Ein Foto, das auf TikTok, Instagram & Co. viral ging, zeigte einen Mann in Trümmern, der fünf Kinder trägt. Allerdings haben die Personen seltsame Proportionen, zu wenig oder zu viele Zehen; ein Faktencheck enttarnt das fotorealistische Bild als Fake. Dass solche Bilder produziert und veröffentlicht werden, entblättert die Intention, die hinter solchen Desinformationen steckt: Es geht darum, mit dem Leid der Palästinenser*innen – und der palästinensischen Kinder – das Handeln des Staates Israel als besonders grausam darzustellen. Im Gaza-Streifen sind 40 Prozent der Bevölkerung unter 14 Jahre. Es stimmt, dass viele Kinder sterben; das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung ist nicht infrage zu stellen und muss öffentlichen Raum bekommen – wahrscheinlich gibt es ähnliche Szenen, wie dieses Bild sie zeigt. Aber dieses Motiv ist nun einmal eine Fälschung, die als solche nicht als gültiger Beitrag im Diskurs gelten sollte.

Antisemitismus & (antimuslimischer) Rassismus

„Dear TikTok“, überschrieben jüdische Creator*innen und Celebrities aus den USA nach dem 7. Oktober 2023 einen Offenen Brief, in dem sie den grassierenden Antisemitismus und mangelnden Schutz von Jüdinnen_Juden auf der Plattform seit dem 7. Oktober kritisierten. Millionen-Reichweiten erzielten Videos, in denen der Terror der Hamas gegen Israel gefeiert, der Hass auf Israelis und auf Jüdinnen_Juden propagiert wird und antisemitische Verschwörungstheorien verbreitet werden. Im deutschsprachigen TikTok setzten reichweitenstarke Influencer*innen den israelischen Staatspräsidenten Benjamin Netanjahu mit Adolf Hitler gleich – wie etwa der prominente Kriminelle Arafat Abou Chaker im TikTok-Live-Gespräch mit dem deutschen Salafisten Pierre Vogel („Für mich ist Adolf Hitler besser als Netanjahu, der hat sie wenigstens sofort umgebracht.“). Derselbe Abou Chaker hat auf Einladung des deutschen TikTok-Stars Barello erzählt, dass Prominente wie Justin Bieber oder Kylie Jenner, die sich mit Israel solidarisierten, bei den Illuminati seien und stimmten damit ein langlebiges antisemitisches Verschwörungsnarrativ an: „Die müssen das posten, sonst werden sie gecancelt.“ In einem anderen Live-Stream erklärt Arafats Bruder Yasser Abou-Chaker dem TikTok-Star Barello: „1948 kamen einfach die Juden und haben Palästina besetzt.“

Immer wieder begegnen uns Videos, in denen eine verkürzte bis falsche Geschichte des Nahostkonflikts erzählt wird, die unterschiedlich ausgeschmückt wird und diverse Akzente setzt, sich aber im Grundmuster ähnelt: Israel und den Jüdinnen_Juden wird die alleinige Schuld am Konflikt und dem Leid der Palästinenser*innen gegeben. Die lange und komplexe Geschichte des Nahostkonflikts wird genauso ignoriert wie der Umstand, dass Jüdinnen_Juden nicht von irgendwo kommend das Gebiet annektierten, sondern seit Jahrhunderten in der Region gelebt haben – und aus ihr vertrieben wurden. Durch den Erfolg solcher Videos werden die Nutzer*innen millionenfach mit Falschinformationen versorgt. Im Feldversuch haben wir bestimmte Suchbegriffe wie „Jude“ oder „Hamas“ bei TikTok eingegeben und dann verfolgt, mit welcher enormen Geschwindigkeit kaum mehr sachliche Informationen angezeigt, sondern nur noch gefärbtes Halbwissen in die Kanäle gespült wurde, das oft schwer als solches zu erkennen ist. Neben Antisemitismus und Desinformation beförderte der 7. Oktober auch antimuslimische, anti-palästinensische und rassistische Ressentiments auf TikTok. Insbesondere die Agitation rechter bis rechtsextremer Accounts ist hier besonders auffällig. Das Problem mit dem sprunghaften Anstieg des Antisemitismus wird ausschließlich auf muslimisch-migrantische Communities und Milieus geschoben, dies hat eine doppelte Funktion: Man entlastet sich selbst vom Vorwurf des Antisemitismus – und projiziert diesen auf jene Teile der Gesellschaft, die man ohnehin lieber nicht in Deutschland sehen würde. Die Co-Vorsitzende der AfD, Alice Weidel, kommt in einem Redenschnipsel, der auf TikTok massenhaft gesehen, geliked und geteilt wurde, unter dem „Stichwort Hamas“ auf das „Gewaltpotenzial“ zu sprechen, „das wir uns aus muslimisch/islamisch geprägten Staaten reinholen“: Die Menschen (in Deutschland) würden „wie Freiwild rumlaufen, vor allem die Frauen, die den gewaltaffinen Männergruppen überlassen werden, die ungebremst in unser Land hineingelassen werden.“ Die Lösung sei laut Weidel ein „sofortiger Zuzugsstopp“.

(© Adobe-Stock/stokkete)

Politisierung und Positionierungsdruck

TikTok ist auch ein Ort, wo Meinungen gemacht und Stimmungen erzeugt werden. Das Atmosphärische ist im Zusammenhang mit Krisen und Konflikten ein nicht zu verachtender Faktor. Laut einer Analyse im Auftrag von tagesschau.de wurden Beiträge und Videos mit dem Hashtag „FreePalestine" in den ersten Wochen nach dem 7. Oktober auf TikTok 23,1 Milliarden Mal gesehen. Wenn man Hashtags mit Rechtschreibfehlern wie „FreePalestin“ oder mit Flaggen-Emoji dazurechne, käme man sogar auf etwa 29 Milliarden Aufrufe mit pro-palästinensischen Inhalten. Pro-israelische Inhalte hätten „bei gleicher Rechenart inklusive Varianten“ hingegen etwa 211 Millionen Aufrufe. Die reine Anzahl an Hashtags sagt natürlich noch nichts über die Verteilung der Sympathie aus. Doch es zeigt, dass die Debatte um den Konflikt auch auf TikTok polarisiert.

Schon lange stehen Creator*innen unter einem latenten Positionierungsdruck auf TikTok. Größere Accounts werden von Aktivist*innen dazu aufgefordert, sich zum Nahostkonflikt zu verhalten, etwa in den Kommentarspalten. Gleichzeitig haben sich viele Creator*innen aber auch zur Aufgabe gemacht, das Tagesgeschehen zu kommentieren und dabei vorgebliche „good causes“ zu „supporten“ – von Black Lives Matter über die Klimabewegung bis zum Boykott von Harry Potter-Produkten. Der Nahostkonflikt ist dabei eine Art „issue of the week“ und die vermeintlich einfache Einteilung in palästinensische Opfer und israelische Täter*innen liefert den angeblichen Kompass, um die Richtung der Positionierung vorzugeben: gegen Israel.

Bestes Beispiel für die besondere TikTok-Mechanik in dem Zusammenhang ist die Aktion #Blockout2024, die nach der Met-Gala besonderen Positionierungsdruck auszuüben versuchte. Um sie zu verstehen, müssen wir ein wenig ausholen: Auch 2024 kam es bei dem New Yorker Großevent zum üblichen Schaulaufen der Prominenz – darunter auch die Influencerin Haley Baylee, die bei ihrem Auftritt auf dem roten Teppich die Worte „Let them eat cake“ in die Kamera sprach, das Video mit dem Soundtrack aus dem Film „Marie Antoinette“ verschnitt und das Werk auf TikTok hochlud. Nach Veröffentlichung erlebte Baylee für die Verwendung des hochgradig versnobten Zitats, das wiederum Marie Antoinette zugeschrieben wird, nicht nur einen Shitstorm der Sonderklasse, sondern die Bewegung entwickelte sich weiter: Kleinere und größere TikTok-Accounts kritisierten plötzlich alle Promis, die bei der Met-Gala feierten, während das israelische Militär die palästinensische Stadt Rafah bombardierte. Fotos, die einzelne Prominente wie Taylor Swift in Red Carpet-Pose zeigten, wurden mit Video- und Bildmaterial zusammengeschnitten, das das Leid der Menschen in Gaza dokumentierte. Dazu wurde der düstere Soundtrack aus „Die Tribute von Panem“ (englisch: „The Hunger Games“) genutzt; der Film zeichnet eine dystopische Welt, in der Reiche zu ihrem schieren Vergnügen arme Menschen in einer modernen Circus Maximus-Arena gegeneinander antreten und sich gegenseitig umbringen lassen. Es wurde dazu aufgerufen, Prominente zu blockieren, die sich noch nicht zum Konfliktgeschehen geäußert, mehr noch: die noch nicht Israel kritisiert hatten. Ganze Blocklisten wurden erstellt mit Personen, die sich noch nicht für Palästina positioniert hatten. Verschiedene Promis und Influencer*innen verloren binnen weniger Tage Hunderttausende an Followern.

Wir sehen, wie sich Popkultur, Lifestyle-Themen und Politik auf Plattformen wie TikTok vermischen. Allgemein kommt Influencer*innen und Creator*innen eine immer relevantere Position im Diskurs und für die politische Meinungsbildung zu, mehr und mehr übernehmen sie für ihr Publikum die Rolle als Wirklichkeitserklärer*innen, Role Models und Journalist*innen in Personalunion. Auf der Plattform ist Authentizität die Währung, mangelnde Sachkompetenz wird nicht als Defizit gewertet. Creator*innen sind Vertrauenspersonen, die als positiv, warm und unterstützend wahrgenommen werden, es besteht eine starke emotionale Verbundenheit. Zwar kommt TikTok eine immer größere Relevanz bei der politischen Meinungsbildung zu, doch geschieht dies eher indirekt. Nutzer*innen suchen auf der Plattform weniger gezielt nach politischen Informationen, sondern konsumieren diese meist en passant, als „Beifang“, wie die Autor*innen der aktuellen Interner Link: Sinus-Studie schreiben.

Dieser „zufällige News-Konsum“ (ebd.) wird im Zusammenhang mit komplexen politischen Themen besonders virulent. Insbesondere seit dem 7. Oktober beobachten wir vor allem die Schattenseiten dieser Entwicklung: Der Nahostkonflikt begegnet den jungen Nutzer*innen auf TikTok in Sketchen, Food- und Schminktutorials. Wir sehen, wie Beauty-Creator*innen plötzlich indirekt zu Militärhistoriker*innen avancieren können und ein überwiegend jugendliches Publikum – ob unbewusst oder intendiert – mit radikal vereinfachten und feindseligen Weltbildern versorgen. Videos mit antisemitischen Hassbotschaften werden dann oft von anderen Nutzer*innen weiterverbreitet, weil sie die Informationen der Creator*innen unhinterfragt übernehmen oder aus Unwissenheit, weil sie die menschenfeindliche Propaganda nicht als solche erkennen. Warum sollte man ein Video, bei dem eine super-populäre Foodcreatorin Süßigkeiten verteilt, nicht liken und teilen, wenn gefühlt ganz TikTok die Angriffe der Hamas als völlig legitimen Akt einer Befreiungsbewegung wertet? Die Netzcommunity ist auch ein Spiegel der Gesellschaft: Das gesamtgesellschaftliche Problem mit Antisemitismus – insbesondere mit israelbezogenem Antisemitismus – und die mangelnde Kompetenz, diesen zu erkennen, zeigen sich auch auf TikTok.

(© Adobe-Stock/stokkete)

Auswirkungen: schnelle Verbreitung einseitiger, radikaler Weltbilder

Die Auswirkungen der algorithmisch gesteuerten Meinungstunnel und des Einflusses von Creator*innen haben sich seit Oktober 2023 direkt bemerkbar gemacht. Von Lehrkräften über Schulsozialarbeiter*innen, Hochschullehrende bis zu Ausbilder*innen in Unternehmen und Betrieben – vielfach wird uns aus diesem Umfeld berichtet, wie Schüler*innen, Student*innen, Auszubildende beim Thema Nahostkonflikt vermehrt radikal verkürzte, aggressive und überwiegend einseitige Positionierungen äußern.

„Israel ist eine Erfindung Amerikas“, behauptet ein Schüler, als es im Erdkundeunterricht um die Nachbarländer des Libanon geht. „Das Musikfestival hat es gar nicht gegeben“, äußert eine Schülerin einer 3. Klasse zu einer jüdisch-israelischen Mitschülerin und setzt nach: „Ich hasse dein Land, ich hasse deine Religion.“ Ein 14-Jähriger hetzt in der Interaktion mit einer Lehrkraft: „Wenn Sie Jüdin wären, würde ich Sie sofort an Ort und Stelle abstechen, denn das verdienen Juden.“

Die jungen Menschen, die diese hochgradig problematischen Haltungen vertreten, tragen diese mit einem Selbstbewusstsein vor, das auch in der intimen Massenerfahrung von TikTok und anderen Plattformen begründet ist: Die gefühlte „Community“ ist größer als eine Schulklasse oder eine Schule; die Positionierungen werden von Vertrauenspersonen, Creator*innen entwickelt, die als positiv, warm, unterstützend wahrgenommen werden – im Gegensatz zu den distanziert geltenden, kalten, distanzierten und oft überforderten „realen“ Bezugspersonen wie Lehrkräften, Eltern und sonstigen erwachsenen Autoritätspersonen. Die Mischung aus starker emotionaler Verbundenheit zu den auf TikTok vorgetragenen Positionen und ihrer Radikalität schafft sozialen Sprengstoff – nicht nur auf den Schulhöfen. Lehrkräften und anderen Fachkräften obliegt es dann, überhaupt erst die Positionierung nachzuvollziehen, den spezifischen Radikalisierungstunnel zu identifizieren, in dem ein*e Schüler*in oder ein*e Student*in sich bewegt. Dafür fehlen oft sowohl die adäquaten Rahmenbedingungen als auch die Kompetenzen.

Medienkompetenz und politische Bildung im Zeitalter globaler Krisen und Konflikte

Zentral ist jetzt, dass wir als Gesellschaft nach den antisemitischen und rassistischen Eskalationen infolge des 7. Oktobers 2023 und den Empörungswellen nicht gleich wieder zur Tagesordnung übergehen, um beim nächsten erschütternden Großereignis aufs Neue überrascht den Kopf zu schütteln über das, was „im Internet“ passiert. In Zeiten, in denen sich vielfältige politische und globale Krisen überlappen und überlagern, ist die Ambiguitätstoleranz von jedem*jeder Einzelnen in der Gesellschaft gefordert. Vor allem junge Menschen müssen dabei unterstützt werden, mit Existenzängsten, Sorgen und der Komplexität politischer Sachverhalte umzugehen, um diese nicht in einem eindimensionalen Freund-Feind-Schema aufzulösen. Sie müssen stattdessen in die Lage versetzt werden, Widersprüche auszuhalten, verschiedene Perspektiven auf ein politisches Thema oder einen Konfliktgegenstand zuzulassen und sich medienkompetent im Netz zu bewegen. Das geschieht aber nicht von selbst.

Demokratische Akteur*innen sind aufgefordert, auf die veränderten Seh- und Nutzungsgewohnheiten insbesondere der jungen Generation mit adäquaten digitalen Bildungsangeboten zu reagieren, um für einen konstruktiven Diskurs im Netz zu sorgen und diesen aktiv zu befördern. Im deutschsprachigen Bereich sind es besonders extrem rechte Akteur*innen, die in TikTok investieren. Keine Partei im Bundestag nutzt TikTok intensiver als die AfD und erzielt Reichweiten in Millionenhöhe. Hinzu kommen rassistische, sexistische und queerfeindliche Netzaktivist*innen u.a. aus dem rechtsextremen Umfeld. Jüdische Creator*innen erfahren schon lange antisemitische Anfeindungen auf den Plattformen, seit dem 7. Oktober 2023 sind diese sprunghaft angestiegen. Auch Schwarze, migrantisierte, muslimische, queere und weiblich (gelesene) Personen berichten seit Jahren von rassistischem, misogynem und queerfeindlichem Hass, der ihnen auf TikTok entgegenschlägt. Wenn Angehörige marginalisierter Gruppen sich aber mehr und mehr von der Plattform, die Leitmedium der GenZ ist, verabschieden oder in den passiven TV-Modus überwechseln, erwächst ein Problem für die demokratische Öffentlichkeit.

Der Bedarf nach grundständigen medienpädagogischen Angeboten in den Curricula der Schulen und in der außerschulischen Bildung ist eklatant. Schüler*innen müssen früh über die Funktionsweisen von beliebten Social Media-Plattformen aufgeklärt werden. Wissensvermittlung über Desinformation, Antisemitismus, Rassismus und andere Phänomene der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit sollte verknüpft werden mit konkreten Tools für Quellenchecks und Erkennung von Content, der mit Künstlicher Intelligenz erstellt wurde. Es geht darum, die Plattformen zu verstehen, auf denen man sich bewegt: Das gilt sowohl für algorithmische Parameter und die Bevorzugung populistischer Inhalte (Rage Bait) als auch die Rolle von Creator*innen und Emotionen sowie die Thematisierung der sozialpsychologischen Bedürfnisstrukturen, in denen Propaganda unterschiedlicher Couleur und zu unterschiedlichen Themen immer wieder aufs Neue verfängt. Es gilt, auch regulatorische Maßnahmen für eine Plattform zu finden, die eine derart junge, vulnerable Zielgruppe mit derart verstörendem Content versorgt – weitgehend ohne Aufsicht durch menschliche Moderator*innen, Regulierungsbehörden oder eine kritische Öffentlichkeit. Zugleich sind wir gut beraten, TikTok als Ort der politischen Meinungs- und Willensbildung ernst zu nehmen, als Medium anzuerkennen, welches das Weltwissen einer ganzen Generation prägt, und als ein Eldorado des Microlearnings zu verstehen – und zwar auch im Guten: Wir sehen auf Plattformen wie diesen eine Möglichkeit, dass Jugendliche überhaupt mit gesellschaftspolitischen Themen in Kontakt kommen. Niedrigschwellig, auf Augenhöhe, in ihrer Sprache, nahbar und verständlich. Wir sollten die Chance nicht verstreichen lassen, Social Media-Plattformen wie TikTok aktiv mitzugestalten. Um den Radikalisierungsprozessen wirksam etwas entgegenzusetzen, müssen Politik, Bildungseinrichtungen, Medien und gesellschaftliche Institutionen konsequent in digitale Bildung investieren. Den Radikalisierungstunneln ließe sich mit Informationstunneln begegnen. Wenn wir es nicht einmal versuchen, überlassen wir die politische Information im Netz auf Dauer komplett den Demagog*innen.

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ist Politikwissenschaftlerin und leitet nach einem Volontariat bei der FAZ die Kommunikation / Politische Bildung im Netz der Bildungsstätte Anne Frank.

ist promovierte Psychologin und Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main.