Was kann man im Juni wählen, fragt Nutzerin tibiclick in den Kommentaren. Die Antwort folgt schnell und in Form eines Externer Link: Videos. Ein junger Mann mit Brille, Bart und Ohrring erklärt, dass das Europaparlament (EP) die einzige europäische Institution sei, die von den Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union direkt gewählt würde und ähnlich wie nationale Parlamente funktioniere. 468 Nutzerinnen und Nutzer liken das Video, 23 speichern es ab und acht leiten es direkt weiter. Seit Ende Februar 2024 informiert der offizielle Externer Link: TikTok Account des Europäischen Parlaments (EP) rund um die zehnte Wahl des Parlaments
Achtung, Desinformationen! Die Europawahl auf TikTok
/ 14 Minuten zu lesen
Bislang zeigt sich der Bundeskanzler nicht öffentlich mit nacktem Oberkörper. Auf TikTok jetzt schon? Und er ist tätowiert? Es handelt sich hier klar um Falschinformationen. Genau dieser Moment des Zögerns und Zweifelns, der Moment, in dem Nutzerinnen und Nutzer sich nicht mehr sicher sind, ob sie etwas glauben oder auch nicht glauben können, ist bereits ein Ziel von Desinformation. Also dem Verbreiten faktisch falscher Informationen mit Täuschungsabsicht. Denn wer das “könnte ja sein” mitdenkt, wer einen Politiker oder Politikerin nicht mehr ernst nimmt, weil er oder sie die Person immer und immer wieder als KI-animierte Marionette ausgespielt bekommt und die Botschaft “muss weg” am Rande mitliest, der wird möglicherweise beeinflusst, wenn auch subtil
Hybride Bedrohungen
„Wir wissen, dass diese Wahlperiode in der Europäischen Union entweder durch hybride Angriffe oder ausländische Einmischung aller Art ins Visier genommen wird“, hat EU Binnenmarktkommissar Thierry Breton im Februar 2024 festgestellt
Eine spezielle EU-Task Force untersuchte im Jahr 2023 insgesamt 750 Vorfälle, bei denen ausländische Akteure vorsätzlich irreführende Informationen verbreiteten, Externer Link: berichtet die Deutsche Welle. Wie in den Vorjahren, war Russland die Hauptquelle und „versuchte, seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen“, schrieben die Autoren des Dokuments desExterner Link: Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD).
Der EAD kürzt die Bedrohung durch ausländische Informationsmanipulationen und -eingriffe mit dem Begriff FIMI ab. Er steht für Foreign Information Manipulation and Interference, also die Manipulation und Einmischung mittels Informationen durch Kräfte von außen
Die Beeinflussung über Plattformen wie TikTok ist ungleich leichter geworden, da wir uns am Beginn des 21. Jahrhunderts in einer grundlegend und irreversibel veränderten Informationslandschaft befinden
Wer täuscht mit welchen Zielen
Vier Mal im Jahr veröffentlicht TikTok seinen sogenannten Transparenzbericht. Der Bericht, Externer Link: den das Unternehmen am 19. März 2024 publiziert, hat es in sich. Nach eigenen Angaben hat TikTok ein versteckt operierendes Netzwerk entdeckt, das zentrale Botschaften russischer Staatsmedien und Pro-AfD-Narrative verbreitet
Russland und China zählen zu den zentralen globalen Desinformationsakteuren
Welche Rolle TikTok vor Wahlen spielen kann, zeigt das Beispiel Taiwan. China nutzte die Plattform im Vorfeld der Präsidentenwahl in Taiwan im Januar 2024, um das demokratische System der Insel zu untergraben
Natürlich ist TikTok nicht die einzige Plattform, die für Manipulation und Propaganda im Vorfeld von Wahlen genutzt wird. So hat die Europäische Kommission Anfang Mai 2024 ein Verfahren gegen den US-amerikanischen Konzern Meta eröffnet. Der Vorwurf: Das eigene Werbeprogramm so gestaltet zu haben, dass es von russischen Akteuren für Desinformation im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament genutzt werden kann. Genauso, wie zuvor beispielsweise bei den Parlamentswahlen in der Slowakei 2023
Wie sehen Desinformationen auf TikTok aus und welche Narrative werden verbreitet
Windräder sind krebserregend. Zumindest behaupten das Externer Link: TikTok-User wie Christina Kaufmann. Das Bild eines angeblich zwei bis drei Jahre alten Windrades kommentiert sie mit der Feststellung, die Erosion setze Nanopartikel frei. Diese „fliegen bis 100 km weit und sind lungengängig und krebserregend“. Einzelne Videos mit ähnlichen Botschaften erreichen auf TikTok bis zu 200.000 Aufrufe. Die Externer Link: Faktenchecker von Correctiv haben die Behauptungen analysiert. Ihr Fazit: Laut der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung ist die Freisetzung von Fasern, die lungengängig sein können, bei der Erosion unwahrscheinlich. Die Partikel seien zudem nach wenigen hundert Metern so verdünnt, dass sie ungefährlich seien. Windräder generell eignen sich perfekt zum Anheizen von politischen Debatten. Denn verschiedene politische Lager beurteilen die Sinnhaftigkeit von Windrädern unterschiedlich. Dabei wird die Diskussion vor allem von Windkraftgegnern bisweilen sehr emotional geführt
Manipulationsversuche wie dieser sind meist emotional gestaltet, subtil und auf spezifische Zielgruppen zugeschnitten. Sie alle eint, dass sie jeweils spezielle Ziele verfolgen und häufig faktisch falsche Informationen nutzen. Diese stehen im Mittelpunkt einer breit angelegten Untersuchung der Externer Link: Europäischen Beobachtungsstelle für digitale Medien, kurz EDMO . Im März 2024 haben die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Externer Link: einen neuen Bericht vorgelegt. Die Task Force hat Desinformationsnarrative im Vorfeld der Europawahlen 2024 untersucht. Dafür wurden über 1000 veröffentlichte Artikel zur Faktenprüfung von nationalen Wahlen in zwölf europäischen Ländern analysiert. Das Ergebnis: Weitverbreitete Desinformationen im Wahlkampf in allen betrachteten Ländern. Das Ziel: Die Wahlen zu delegitimieren. Obwohl jedes Land eigene Themen aufweist, die von nationalen Faktoren abhängen, gibt es zentrale Themen, die sich ähneln. So zum Beispiel den Krieg in der Ukraine, den menschengemachten Klimawandel, die EU und ihre Institutionen, Wirtschaftsthemen (Steuern, Inflation), Genderthemen, Migration und Geflüchtete, Gesundheit und Covid und Sicherheitsbedrohungen.
Der muslimische Fastenmonat Ramadan ist beispielsweise auch immer wieder Gegenstand für Falschbehauptungen. Häufig geht es hier darum, dass sich angeblich nicht-muslimische Abläufe den muslimischen anpassen sollen, was Hass und Hetze schüren kann, berichten die Faktenchecker von Correctiv und entlarven ein TikTok-Video, in dem behauptet wird, die Externer Link: EU wolle aus Rücksicht auf Muslime die Zeitumstellung bis nach Ramadan aussetzen. Dadurch könnten Fastende eine Stunde früher essen. Der Screenshot im TikTok-Beitrag zeigt eine Satire-Meldung aus dem Jahr 2023. Zudem richtet sich die Fastenzeit im Ramadan nicht nach der Uhrzeit, sondern nach der Sonne. Eine Falschmeldung. Der Kontext der Satire-Meldung wird hier aber bewusst ausgeblendet, um Stimmung gegen Mitbürgerinnen und Mitbürger muslimischen Glaubens zu schüren. Wie in vielen Desinformationen steckt auch hier ein Fünkchen Wahrheit. Denn Diskussionen darum, die Zeitumstellung in der Europäischen Union abzuschaffen, gab es immer wieder. Dies hat zwar nichts mit der geschilderten Behauptung zu tun, führt aber bei Nutzerinnen und Nutzer gegebenenfalls zu einem „Ja, das hab ich schon mal irgendwo gehört“-Moment. Und verstärkt so gegebenenfalls islam- und muslimfeindliche Ressentiments.
Die umfassenden und besorgniserregenden Auswirkungen von Desinformationen gehen über die Wahlentscheidung hinaus, schreibt Federica Marconi des European Policy Centers. Desinformationskampagnen könnten das allgemeine Vertrauen in den Wahlprozess, seine Ergebnisse, die für die Berichterstattung verantwortlichen Medien und in Politikerinnen und Politiker untergraben und zum Vertrauensverlust in demokratische Gesellschaften führen
Die Task Force des European Digital Media Observatory verweist in einem Externer Link: Disinfo Bulletin auf jüngste falsche Behauptungen, die besagen, dass Britta Ernst, die Frau des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz, eine Transgender-Frau sei. Eine ähnliche Behauptung sei kürzlich gegen Brigitte Macron, die Frau des französischen Premierministers, verwendet worden. Sucht man nun auf TikTok nach Britta Ernst, ergänzt die TikTok-Suche automatisch „Britta Ernst ein Mann“. Zu Brigitte Macron finden sich Videos mit Titeln wie „The shocking truth behind the First Lady of France“. Zu sehen sind recht offensichtliche Fotomontagen von Brigitte Macron mit schwarzen Bartstoppeln. Das Ziel: Politisches Personal und Angehörige diskreditieren und gleichzeitig gegen queere Menschen Stimmung machen.
Wie lassen sich falsche Informationen und Manipulationsversuche erkennen
Auf den ersten raschen Blick könnte es sich bei dem TikTok-Account wirklich um einen Account der Bundesagentur für Arbeit handeln. Das Profilbild hat ein offiziell scheinendes Logo und der Name „Jobcenter“ steht im Nutzernamen. In einem Video heißt es, dass Ukrainer ab dem 1. März eine Bonuszahlung von 500 Euro bekommen sollen. Der angebliche Grund dafür: „Eine kleine Aufmunterung wegen des Krieges“. Das Video erreichte zehntausende Menschen und verbreitete sich auch außerhalb von TikTok
Das Beispiel zeigt, dass bei der Nutzung der App immer auf irreführende oder inkonsistente Informationen geachtet werden sollte. Eine rasche Kontextanalyse des Accounts kann Hinweise auf die Glaubwürdigkeit des Profils geben. Natürlich lässt sich mit einem Kurzcheck ein Account nicht abschließend verifizieren, er schärft aber das Bewusstsein für einen kritischen Umgang mit der App und Informationen im Allgemeinen. So sollten Fragen wie: „Was sehe ich hier eigentlich? Kann ich diese Informationen überprüfen? Wer hat das mit welchem Interesse gepostet?“ zum täglichen Nachrichtenkonsum dazugehören. Vor allem, wenn er auf einer Plattform stattfindet, auf der jede und jeder mit einem Smartphone beliebige Informationen posten kann. TikTok sollte demnach nicht die einzige Informationsquelle sein. Quellen wie tradierte Medien, wissenschaftliche Zeitschriften oder offizielle Websites von staatlichen Akteuren, etc. sollten ergänzend herangezogen werden. Vorsicht ist vor allem bei hoch emotionalisierenden Inhalten geboten, setzen manipulative Videos doch häufig genau hier an
Neben diesen konkreten Tipps – Externer Link: wie sie beispielsweise auch die Amadeu Antonio Stiftung bereithält – gibt es einige generelle Hinweise, die helfen können, sensibler im Umgang mit möglicherweise manipulierten oder falschen Informationen zu werden. Denn trotz kritischer App-Nutzung ist es wahrscheinlich, dass die meisten Nutzerinnen und Nutzer selbst auch irgendwann einmal auf falsche Informationen hereinfallen. Diese Erkenntnis lässt sich für einen reflektierten Umgang nutzen. „Seien Sie skeptisch, aber seien Sie nicht zynisch. Es ist ein schmaler Grat zwischen den beiden, aber es ist wichtig, ihn einzuhalten.“ So formuliert es Yotam Ophir, Assistenzprofessor am Department of Communication der University at Buffalo Externer Link: gegenüber Euronews.
Weitere Informationen
TikTok selbst informiert auf einer Externer Link: Wahlinformationsseite (Wahl-Hub) in der App über die Europawahl. Auf diese wird verwiesen, sobald Nutzerinnen und Nutzer nach bestimmten Begriffen, beispielsweise „EU Elections“ oder „EU Wahl“ suchen.
Das Bundesministerium des Innern und für Heimat informiert auf einer Externer Link: Übersichtsseite über den Schutz der Europawahl vor hybriden Bedrohungen einschließlich Desinformation. Ein guter kompakter Überblick mit Antworten auf die wichtigsten Fragen zum Thema.
Wer mehr über das Konzept Foreign Information Manipulation and Interference (FIMI) wissen möchte, findet auf der Externer Link: Webseite des Europäischen Auswärtigen Dienstes Informationen und Lektürematerial.
Das European Digital Media Observatory (EDMO) und dessen Hubs haben eine Online-Kampagne mit dem Titel Externer Link: „Be Election Smart“ gestartet. Die Kampagne soll die Bürgerinnen und Bürger Europas dabei unterstützen, sich in der Informationslandschaft rund um die Europawahl zurechtzufinden.
Das European Fact-Checking Standards Network (EFCSN) hat den Start des Externer Link: Elections24Check-Projekts bekannt gegeben, bei dem das EFCSN mit einer Koalition von über 40 Faktencheck-Organisationen in ganz Europa zusammenarbeiten wird, um eine umfassende Faktencheck-Datenbank für die Wahlen zum Europäischen Parlament 2024 zu erstellen.
Mit Blick auf die EU-Wahlen 2024 untersucht das Hamburger Hans-Bredow-Institut mit einem Externer Link: Impulspapier aus der Reihe „Digitale Plattformen: Gestaltungsvorschläge und Alternativen“ das Spannungsfeld von Wahlprozessen und Desinformation. Das Fazit der Autorinnen und Autoren: Die Europäische Union habe zwar einige Maßnahmen zur Bekämpfung von Desinformation ergriffen, möglichweise müsse aber noch viel mehr getan werden.
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Marcus Bösch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HAW Hamburg und forscht zu TikTok, politischer Kommunikation und Desinformation. Er veröffentlicht den wöchentlichen Newsletter Externer Link: Understanding TikTok.
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