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Vergangenheitsbezogene Diskurse – Erinnern, aber wie? | Lernen mit – und über – TikTok | bpb.de

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Vergangenheitsbezogene Diskurse – Erinnern, aber wie?

Marcus Bösch

/ 10 Minuten zu lesen

(© picture-alliance, photothek | Florian Gaertner)

Im August 2020 führt ein Trend auf TikTok zu öffentlicher Empörung und kritischen Reaktionen. Im Rahmen der so genannten „Holocaust-Challenge“ verkleiden sich zumeist sehr junge Nutzer/-innen als Opfer des Holocausts, mit selbst gebasteltem Judenstern und geschminkten Verletzungen. Mit Popsongs unterlegt, spielen sie von Nazis ermordete Menschen jüdischen Glaubens, die beispielsweise bei ihrer Ankunft im Himmel erklären, dass sie im KZ Auschwitz in einer Gaskammer zu Tode gekommen seien. „Es war das Jahr 1941, ich war ein junges Mädchen in einer jüdischen Familie. Ich bin in Auschwitz gestorben", erzählt eine TikTok-Userin im Video. Sie trägt ein Streifenshirt. Das Gesicht geschminkt: Schwarze Schatten unter ihren Augen, Narben auf ihrer Stirn . In einer anderen Variante des Trends unternehmen Nutzer/-innen „Zeitreisen“ in Konzentrationslager, wo sie vor imaginären Nazikommandanten um ihr Leben flehen, während sie in Gaskammern geführt werden .

TikTok-Videos von @samanthareyy 22.05.2020, @rileeturnbo 24.05.2020, @thatsnadia (Zuletzt abgerufen, Mai 2020). Videos sind nicht mehr verfügbar. (© Externer Link: @samanthareyy, Externer Link: @rileeturnbo, Externer Link: @thatsnadia)

Die Videos, die Hashtags wie #Holocaust und #heaven verwenden, wurden auf der Plattform tausende Male angesehen. Sie sind Teil eines umfassenderen TikTok-Genres von Point-of-View-Videos (POV), bei denen Nutzer/-innen aus der Ego-Perspektive filmen und so den Zuschauer/-innen zum Hauptcharakter des Videos machen. Der Holocaust-POV-Trend sorgt für Kritik und Unverständnis. So äußerte Diane Saltzman, Direktorin für Überlebendenangelegenheiten im US-Holocaust-Museum: „Die Nachahmung von Holocaust-Erfahrungen entehrt die Erinnerung an die Opfer, beleidigt Überlebende und trivialisiert die Geschichte." Die Auschwitz Memorial Foundation schrieb: „Wir sollten das Bewusstsein dafür stärken, dass nicht jede Aktivität in den sozialen Medien geeignet ist, des Holocausts zu gedenken. Sie erfordert immer Respekt gegenüber den Opfern (. . .) und sachliche Richtigkeit.“ Viele Nutzer/-innen löschten daraufhin ihre Videos, bekräftigten aber, gute Absichten gehabt zu haben. „Ich habe mich schon immer für die Geschichte des Holocaust interessiert und wollte einfach ein kreatives Video drehen, um die Menschen auf TikTok darüber zu informieren. Es war nie beabsichtigt, beleidigend zu sein", erzählt eine Creatorin.

Aktuelle Studien wie die Memo-Jugendstudie der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ) und die des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld belegen das Interesse. Demnach interessieren sich 16- bis 25-Jährige für die NS-Vergangenheit. 77 Prozent der repräsentativ ausgewählten Befragten gaben an, sie hätten ein hohes oder sehr hohes Interesse. Und die Vermittlung via Social Media spiele dabei eine wachsende Rolle. Die Vielfalt und Quantität geschichtsbezogener Inhalte in Hinblick auf ihre Erzählweisen, Diskursbeteiligungen, Aushandlungsprozesse und Vermittlungspotenziale zu untersuchen, ist eine offene Aufgabe der Geschichtswissenschaft. Darauf weisen Mia Berg und Andrea Lorenz hin. Die beiden Wissenschaftlerinnen erforschen im Rahmen des Wissenschaftsprojekts „SocialMediaHistory“, wie Geschichte auf Plattformen wie Instagram und TikTok produziert und rezipiert wird. Neben einer Vielzahl an unterschiedlichen Herangehensweisen an das Thema Geschichte verweisen Lorenz und Berg auf den diskursiven Charakter TikToks im Vergleich zu Instagram. Die vielen Trends und Challenges und die Funktionen der Plattform wie Duett- und Stitch, seien ganz klar darauf ausgelegt, dass man mit Inhalten anderer Nutzer/-innen interagiere. Man finde auf der Plattform daher zum Beispiel Kommentierungen von Erklärvideos, Einordnungen von Quellenmaterial und auch kritische Rückfragen, Feedback und Richtigstellungen. Führte die Holocaust-Challenge zunächst vorwiegend zu öffentlicher Ablehnung, appellierten Wissenschaftler/-innen im Anschluss für eine differenzierte Sichtweise.

Die Wissenschaftler Tom Divon und Tobias Ebbrecht-Hartmann haben den Trend tiefergehend betrachtet und kontextualisiert. Mit überraschendem Ausgang. Die beiden forschen an der Hebräischen Universität in Jerusalem zur Erinnerungskulturgeschichte und Holocaust-Darstellungen in sozialen Medien. „Die Gen Z tut Dinge, die wir als absurd empfinden“, sagt Tom Divon in einem Interview mit der israelischen Tageszeitung Haaretz . Um die Motivation und die Ausprägung der umstrittenen Challenge besser zu verstehen, recherchierten, speicherten und analysierten Divon und Ebbrecht-Hartmann mehr als 300 Videos aus der ganzen Welt. Sie stellen eine Vielzahl von unterschiedlichen Herangehensweisen an das komplexe Thema Erinnerungskultur fest und entdeckten, ausgehend von der umstrittenen Challenge, ein Bildungspotential jenseits tradierter Erinnerungspraktiken. Denn die scheinbar fernen Ereignisse des Holocaust würden durch TikTok Videos relevanter, greifbarer und kommunizierbarer, so die Wissenschaftler. Die Verwendung kommunikativer Funktionen von TikTok führe zu kreativen gemeinschaftlichen Engagements, bei denen Benutzer/-innen ansprechende Inhaltsvorlagen erstellten, die, wenn sie mit dem richtigen Kontext versehen würden, auch Gespräche unter Jugendlichen anregen könnten und eine Erfahrung des Geschichtenerzählens ermöglichten, die viel autodidaktischer, intuitiver und ansprechender sei, als auf jeder anderen visuellen Plattform . Divon und Ebbrecht-Hartmann identifizierten sechs unterschiedliche Strategien des historischen Geschichtenerzählens auf TikTok, die Ästhetiken, Funktionen und Trends der Plattform nutzen, um das Thema Holocaust zu behandeln : (1) Gedenkvideos, in denen Urheber/-innen das Bewusstsein für den Holocaust und seine gegenwärtigen Auswirkungen als historisches Ereignis schärfen. (2) Responsive Videos, in denen Ersteller/-innen unangemessene Vergleiche des Holocaust mit anderen Themen durch Nutzer/-innen angreifen und kritisieren. (3) Erklärende Videos, in denen Ersteller/-innen Hintergrundinformationen zu umstrittenen Themen bieten und dabei historisch marginalisierte Geschichten hervorheben. (4) Lehrreiche Videos, in denen Holocaust-bezogene Institutionen „Mini-Lektionen“ zu historischen Informationen durchführen. (5) Besuch-Videos, in denen Nutzer/-innen ihre Besuche an Orten mit Holocaust-Bezug dokumentieren. (6) Videos mit Zeugenaussagen, in denen Holocaust-Überlebende ihre Erlebnisse und Traumata teilen. Dabei enthalten einige Videos Aspekte unterschiedlicher Strategien, wobei die meisten klar einem Typ zuordenbar sind. Vor allem die Zeitzeugenvideos auf TikTok von Überlebenden wie Gidon Lev , Lily Ebert oder Tova Friedman zeigen eine authentische, persönliche Erinnerungskultur ganz ohne Effekt und Trend. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bezeichnet sie als hilfreiche „digitale Stolpersteine“ . Unter anderem diese Beispiele und die Arbeit von Divon und Ebbrecht-Hartmann führten zu einem Umdenken bei tradierten Akteur/-innen der Erinnerungskultur. TikTok wurde und wird zunehmend als „Plattform für Bildung, Vermittlung und Kommunikation“ ernst genommen. Anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktages 2022 stellten das American Jewish Committee Berlin in Zusammenarbeit mit der Hebrew University of Jerusalem, zwei Agenturen aus Berlin und Jerusalem mit Unterstützung von TikTok Deutschland die „TikTok - Shoah Education and Commemoration Initiative“ vor. Gemeinsam mit Daniel Botmann, dem Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, präsentierten die Partner ein Pilotprojekt, bei dem Gedenkstätten und Museen in Deutschland und Österreich über ihre Arbeit auf TikTok aufklären und somit die Erinnerung an die Shoah aufrechterhalten sollten. 14 Gedenkstätten haben seit dem Herbst 2021 an einer mehrteiligen Seminarreihe teilgenommen und begonnen, TikTok in ihre Gedenkarbeit zu integrieren. Mit dabei sind die Gedenkstätte Bergen-Belsen, die Gedenkstätte Ravensbrück, die Gedenkstätte Sachsenhausen, das Haus der Wannseekonferenz, Jüdisches Museum Berlin, die KZ-Gedenkstätte Dachau, die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, die KZ-Gedenkstätte Mauthausen, die KZ-Gedenkstätte Neuengamme, die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft und der Geschichtsort Villa ten Hompel. Ein erstes Fazit der beteiligten Institutionen – des mit dem Shimon-Peres-Preis ausgezeichneten Projekts – fällt positiv aus. „Durch unser Engagement auf TikTok können wir mit unseren Inhalten völlig neue Zielgruppen erreichen“, sagt Marlene Wöckinger, Historikern und Creatorin für die KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Die Historikerin Iris Groschek, die den TikTok-Kanal der KZ-Gedenkstätte Neuengamme betreibt, ist zufrieden mit der Entwicklung des Kanals: „@neuengamme.memorial kommt bei jungen Menschen sehr gut an. Das mache ich daran fest, dass wir sehr schnell sehr viele Fol­lo­wer/-­in­nen bekommen haben. Diese bringen sich aktiv ein, kommentieren und stellen Fragen.“

TikTok-Video von: Neuengamme Memorial. @neuengamme.memorial (zuletzt abgerufen am 23.6.2023) (© Externer Link: @neuengamme.memorial)

Im Sommer 2023 folgen knapp 28.000 Menschen dem Account, dessen Videos über 480.000 mal geliked wurden. Die jungen Presenter/-innen führen in den Videos durch die Gedenkstätte, stellen Einzelschicksale vor oder diskutieren gemeinsam mit Nutzer/-innen Fragen aus der Community, wie beispielsweise, ob Erinnerungsorte zerstört oder renoviert werden sollten .

Das Beispiel Holocaustgedenken auf TikTok zeigt neben einer Vielzahl von unterschiedlichen Akteur/-innen, Beweggründen und Spielarten der Erinnerung auch die Entwicklung des öffentlichen Diskurses und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Das Hashtag #history führt derzeit zu Videos, die rund 93 Milliarden mal aufgerufen wurden. Eine Herausforderung für klassisch ausgebildete Historiker/-innen ohne explizite technische Kompetenzen im Umgang mit Big Data, wie Andrea Lorenz von der Universität Hamburg im Gespräch mit der bpb einräumt. Die Nutzung von TikTok zur Geschichtsvermittlung ist laut Simone Rafael von der Amadeu Antonio Stiftung „zumindest in Deutschland noch ein Experimentierfeld.“ Hier führen unter anderem neue technische Möglichkeiten zu Herausforderungen. Mittels AI generierter Bilder zeigen eine ganze Reihe TikTok Accounts derzeit Szenarien einer alternativen Geschichtsschreibung .

TikTok-Post von @What.if_ai (zuletzt aufgerufen am 23.06.2023) (© Externer Link: @What.if_ai)

Der Account @what.if_ai beispielsweise illustriert so spekulative Fragen wie „Was wäre, wenn Mexiko in die USA einmarschieren würde?“ und „Was wäre, wenn Somalia Europa erobern würde?“. Steht hier vor allem ein spielerischer Zugang im Mittelpunkt, so werden doch quasi gefälschte dokumentarische Bilder generiert, die ebenso mit Täuschungsabsicht verwendet werden könnten. Zudem stellt der flüchtige Charakter audiovisueller Inhalte auf TikTok ein Problem bei der Beurteilung und Einordnung von Absender/-innen und intendierter Absicht dar. Durch den raschen Konsum einer großen Menge von meist kurzen und emotional aufgeladenen Inhalten bleibt wenig Zeit zur kritischen Auseinandersetzung. Der Kontext eines Inhalts, der in tradierten Medien meist durch beispielsweise etablierte Formate oder bekannte Moderator/-innen gegeben ist, verschwimmt auf der Plattform im Spannungsfeld „zwischen einem generellen Misstrauen Influencer/-innen gegenüber und einem gesteigerten Vertrauen, was Personen gegenüber ausgesprochen wird, die man besonders mag, oder deren Quellen man schon mal überprüft hat.“

TikTok-Account von Leonie Schöler @heeyleonie (zuletzt abgerufen am 23.06.2023) (© Externer Link: @heeyleonie)

TikTok als Plattform bietet neben neuen Herausforderungen, wie gezeigt, Chancen der Geschichtsvermittlung. Die niedrigen Zugangs- und Produktionsschranken führen zu einer Pluralisierung von Akteur/-innen, die kollektiv historisches Wissen produzieren. Akteur/-innen wie die Journalistin, Historikerin und Moderatorin Leonie Schöler erreichen mit ihren Accounts und Inhalten eine interessierte Zielgruppe (170,8K Follower; 8,4M Likes) außerhalb des Klassenzimmers oder Vorlesungssaals, beantworten Fragen (“Geschichte einfach erklärt“) und thematisieren Debatten (Queer History, Black History), die noch nicht überall Einzug in den Lehrplan gefunden haben. So werden normative und kanonische Grenzen getestet, herausgefordert und hinterfragt. Erste wissenschaftliche Studien im Kontext Geschichtsvermittlung und TikTok zeigen, dass TikTok-Clips die Motivation und das Interesse steigern können, sich mit Geschichte auseinanderzusetzen. TikTok sollte demnach als wichtiger informeller Lernort wahrgenommen werden, kann hier doch auch abseits institutionalisierter Bildungskontexte Wissen erworben, vermittelt und diskutiert werden.

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Werkstatt

#History auf TikTok und Instagram

Wie werden historische Ereignisse auf TikTok und Instagram dargestellt? Das erforscht das Wissenschaftsprojekt "SocialMediaHistory" – mit der Unterstützung von Bürgerinnen und Bürgern.

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Quellen

Hier finden sie alle Referenzen, die bei der Erstellung dieses Dossiers genutzt wurden in alphabetischer Reihenfolge.

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TikTok und die öffentliche Debatte

Die Plattform bietet einen Nährboden für Radikalisierung, Propaganda und Falschinformationen. Wie Challenges funktionieren und wie das unter anderem die aktuelle Sperrdebatte beeinflusst.

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TikTok in Lern- und Bildungskontexten

Welche Rolle TikTok bereits in Lernkontexten von jungen Menschen einnimmt und welche Potenziale und Gefahren sich gleichzeitig daraus ergeben, wird in diesem Kapitel beleuchtet.

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Spähsoftware, Zensur und Sperrdebatte

Verstärkte Datenschutz- und Sicherheitsbedenken führen zu Sperrdebatten der App in mehreren Ländern. Dass die Plattform selbst Zensur betreibt (sogenanntes Shadowbanning) erhöht den Vorwurf an…

Marcus Bösch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HAW Hamburg und forscht zu TikTok, politischer Kommunikation und Desinformation. Er veröffentlicht den wöchentlichen Newsletter Externer Link: Understanding TikTok.