Idee – Film als Spurensuche
Was führte Addai dazu, nachdem er zum Islam konvertierte, sich zu radikalisieren
Wie gehen sie mit dem Verlust des geliebten Sohns, dem guten Freund, dem liebgewonnen Nachbarsjungen um? Und welchen Anteil tragen sie an seiner Entscheidung und seinem Verschwinden? Zu Addais Radikalisierung gibt es bis heute keine endgültigen Antworten, keine Zeugnisse seines mutmaßlichen Ablebens, kein Begräbnis.
Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA, gefolgt von zahlreichen terroristischen Attentaten in Europa, gerät die Radikalisierung von Jugendlichen für gewaltorientierte islamistische Gruppen
Synopsis – Addais Radikalisierung und Auswanderung
Mit ihrer dokumentarischen Erzählung rekonstruiert Regisseurin Esther Niemeier in "Tracing Addai" fragmentarisch die letzten Monate eines jungen Mannes, dessen Weg ohne Wiederkehr über eine radikal-islamische Gruppe nach Syrien führte und lässt ihn durch animierte szenische Bilder noch einmal lebendig werden. Der Masterabschlussfilm der Dokumentarfilmerin, der zugleich Abschlussfilm ihrer Produzentin Britta Strampe ist, entstand 2015 bis 2018 an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF.
Das Werk wurde bislang zu mehr als 80 nationalen und internationalen Festivals eingeladen und erhielt über 20 Preise und Nominierungen, darunter den Publikumspreis des renommierten Tampere Film Festivals 2018 in Finnland sowie die Auszeichnung als bester Animationsfilm 2019 beim Clermont-Ferrand Filmfestival in Frankreich, die als wichtige Stimmen für den europäischen Kurzfilm gelten.
Der Film erzählt die wahre Geschichte von Addai (Name geändert), der Anfang der 1990er Jahre in Deutschland als Sohn einer Deutschen und eines aus Westafrika stammenden Vaters geboren wurde und bei der alleinerziehenden Mutter aufwächst. Der Kontakt zum Vater bleibt rar. Auch längere Aufenthalte in seiner afrikanischen Heimat verlaufen für den Jungen, der sich nach der Nähe seines Vaters sehnt, enttäuschend – der Vater verhält sich kühl und distanziert. Die Beziehung zur Mutter ist herzlich, aber auch von Streit und Brüchen gekennzeichnet. Als Schwarzer wird Addai im Alltag immer wieder ausgegrenzt. Im Alter von 18 Jahren entwickelt er seine erste Psychose mit Angstzuständen und Halluzinationen, die in der Psychiatrie mit starken Medikamenten behandelt werden muss. Eine zweite Psychose folgt schon bald. In dieser Zeit intensiviert sich der Kontakt zur salafistischen Szene. Addai konvertiert zum Islam und wandert kurz darauf heimlich nach Syrien aus. Es bleiben lediglich kurze E-Mail-Nachrichten, die die Mutter von ihm erhält.
Wie hat er in Syrien gelebt? Und was wäre, wenn Addai zurückgekehrt wäre? Antworten auf ihre drängenden Fragen erhält die Mutter von dem Rückkehrer Ilias (Name geändert), der Addai in Syrien im Camp der salafistischen Gruppierung begegnet war und sich mit ihm anfreundete. Aus Angst vor der Verweigerung seiner Ausreise nach Deutschland durch seine Kampfeinheit, lässt er Addai wenig später jedoch allein im Kriegsgebiet zurück. Ilias’ Schuldgefühle belasten ihn deswegen schwer. Wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland mittlerweile in Haft, trifft er in seiner Zelle mit Addais Mutter zusammen.
Ilias’ Radikalisierung, der als Muslim aufgewachsen ist, verlief zeitlich parallel zu der von Addai und führte beide in die hart umkämpfte Stadt Aleppo und ihre Außenbezirke. Die zwei jungen Männer bekamen angesichts der brutalen Willkür der radikalen Kämpfer jedoch schnell Zweifel an ihrer eigentlichen Vorstellung, den Menschen dort vor Ort zu helfen. Während Ilias nach einigen Monaten wieder nach Deutschland zurückreisen durfte, verstirbt Addai wenig später vor Ort – mutmaßlich von den eigenen Leuten aufgrund einer erneuten Psychose erschossen.
Dramaturgie – Perspektivwechsel der Angehörigen
Dramaturgisch beginnt der Film mit dem Ende: mit der heimlichen Auswanderung und dem Verschwinden des jungen Mannes und schließt abwechselnd Rückblenden mit Gegenwartsszenen an. Die Erzählweise ist zeitlich non-linear. Orte und Zeiten wechseln häufig, so dass der Eindruck eines Fragments entsteht, das sich der Zuschauende erst im Geist zusammensetzen muss. Bis auf die Mutter, mit der dokumentarisch gedreht werden konnte, werden die Protagonisten von Schauspielern auf Basis von Originaltexten verkörpert.
Der Film besteht dabei aus drei animierten Teilen, die ineinander montiert sind:
Erstens kommen in Interviewszenen abwechselnd die Mutter und Ilias (dargestellt von Kais Setti) zu Wort, wie man sie aus Dokumentarfilmen als "talking heads" kennt.
Zweitens werden die Erinnerungen der Mutter und Ilias wiederum in Rückblenden in Szene gesetzt und aus dem Off von ihnen selbst kommentiert. Es sind Illustrationen von ihren Erlebnissen aus der Vergangenheit. So sieht man beispielsweise Addai (dargestellt von Benito Bause) und Ilias während ihrer Ausbildung und ihrem Alltag als Kämpfer in Syrien. An anderer Stelle werden Handybilder des echten Addais beim letzten Urlaub mit seiner Mutter durch Animationen überzeichnet und damit die echten Gesichter und Orte verfremdet.
Drittens wird der Film eingerahmt von der Begegnung der Mutter mit Ilias (wieder durch Kais Setti dargestellt) im Gefängnis, nachdem Addai bereits für tot erklärt wurde.
Visualisierung und Sounddesign illustrieren dabei nicht bloß das Gesagte. Bilder wie beispielsweise das zwanghafte Händewaschen unter dem penetrant zu hörendem Wasserhahn als Sinnbild für Addais Psychose liefern vielmehr atmosphärische Eindrücke zu den jeweiligen Stimmungen der Erzählung. Diese Herausforderung im Zusammenspiel von Bild und Ton mit inhaltlichen Botschaften macht den besonderen künstlerischen Wert des Films aus, der sich wesentlich auch auf die gelungene Montage von Sarah-Christin Peter zurückführen lässt.
Addais Mutter (© Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF )
Addais Mutter (© Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF )
Der Film wechselt immer wieder die Perspektive der Mutter mit der von Ilias und nähert sich so vorsichtig den möglichen Gründen an, die Addais und auch Ilias Radikalisierung bewirkt haben könnten. Auch die letzten Tage des jungen Mannes in Syrien werden so skizziert. Die wenigen Mails, die sich Addai aus Syrien mit seiner verzweifelten Mutter schreibt, werden bis auf die Töne der Tastatur bei der Eingabe nur stumm eingeblendet. Auch wenn man Addai schemenhaft durch die animierten Bilder zu sehen glaubt, kann man ihn trotzdem niemals hören. So bleibt bis zum Schluss klar, dass der Film nur die Sicht der anderen repräsentiert. Was Addai wirklich gedacht hat, ist nicht überliefert. Und auch nicht, ob er tatsächlich frei von Zwang seine Mail-Nachrichten selbst formulieren konnte.
Produktion – persönlicher Zugang durch neue Technik
Die persönliche Beziehung der Regisseurin zu den Protagonist* innen war ausschlaggebend für die Entstehungsgeschichte des Films. Esther Niemeier war mit dem zehn Jahre jüngeren Addai, der mit seiner Mutter im Haus ihrer Freundin wohnte, seit seinen Kindertagen eng befreundet. Viele Gespräche mit der Mutter und der von ihr hergestellte Kontakt zu Ilias, der während der Dreharbeiten bereits in Deutschland in Haft war, lieferten die Idee zu dem Film. Sie ermöglichen eine persönliche Aufarbeitung von Addais kurzem Leben und damit auch stückweit einen Abschied von ihm.
Um ihrer eigenen Ratlosigkeit um das Verschwinden von Addai etwas entgegenzusetzen, schrieb Esther Niemeier gemeinsam mit Sarah-Christin Peter und Britta Strampe das Drehbuch. Da jedoch keinerlei Bildmaterial vorhanden war, das Addais Aufenthalt in Syrien dokumentierte und zudem die Mutter und Ilias nicht offen gezeigt werden konnten, entschied sich die Regisseurin mit Animationen zu arbeiten. Dies bedeutete allerdings eine Verdoppelung der Produktionszeit und hohe Kosten, die ungewöhnlich für Abschlussfilme von Masterstudierenden sind. Durch die Förderung des Medienboard Berlin-Brandenburg (MBB) und die Koproduktion mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) war es schließlich möglich, die aufwändigen Animationen zu realisieren.
Animation – lebendige Zeitgeschichte für Erwachsene
Angelehnt an eines ihrer Vorbilder, "Waltz with Bashir" von Ari Folman (Israel, Frankreich, Deutschland 2008), entstand der Film in 2D Rotoskopie. Vereinfacht gesagt, wurden Interviewszenen und im Studio gedrehte Szenen mit realen Darsteller* innen sowie Archivmaterial zu einem Videofilm geschnitten. Dieser Rohfilm diente als Vorlage für die späteren Illustrationen und Animationen: die Personen wurden komplett nachgezeichnet und ihre Umgebung und die Hintergründe im Bild auf Basis sorgfältiger Recherche künstlerisch gestaltet. Weiteres, bereits vorhandenes dokumentarisches Video- und Fotomaterial sowie neugedrehte Szenen mit der Mutter wurden zudem durch Illustrationen verfremdet, so dass Gesichter zwar angedeutet, aber nicht mehr erkennbar waren. So entstanden durchgängig atmosphärisch dichte Bilder, die zusammen mit Soundeffekten und gesprochener Sprache zum fertigen Film montiert wurden und ästhetisch wie "aus einem Guss" wirken. Insbesondere können auf diese Weise Zeitebenen ineinander fließen und Vergangenheit wie Gegenwart parallel dargestellt werden.
Der Animationsfilm hat durch die exzellenten Ausbildungsmöglichkeiten von Filmhochschulen wie in Babelsberg oder auch an der Filmakademie Ludwigsburg und die Gründung vieler Animationsstudios in Deutschland eine rasante Entwicklung erlebt. Die Professionalisierung erlaubt es zunehmend, Animationstechniken für Filme außerhalb des klassischen Kinderzeichentrickfilms einzusetzen, auch wenn die Produktionen aufwändiger und teurer als konventionelle Spiel- oder Dokumentarfilme sind. Doch gerade für den Dokumentarfilmbereich, bei dem oftmals entscheidende Aufnahmen aus historischen oder rechtlichen Gründen nicht zur Verfügung stehen, um Ereignisse emotional oder illustrierend in Szene zu setzen, ist die Verwendung von Animationen ein großer Gewinn.
Fazit – emotionaler Zugang zu einer Biografie
"Tracing Addai" ist eine biografische Erzählung, die einen ersten, emotionalen Zugang zu Gründen und Folgen von Radikalisierung und Ausgrenzung in unserer Gesellschaft ermöglicht. Der filmkünstlerisch wie inhaltlich gleichermaßen anspruchsvolle Animationsfilm bietet eine Alternative zum klassischen, realistischen Dokumentarfilm. Durch die Animationstechnik wirken Erinnerungen wie Gefühlszustände der Protagonist*innen gleichermaßen lebendig. Weniger geeignet ist der Film, um das Thema im Detail zu ergründen, da der Verlauf der Radikalisierung der beiden jungen Männer bewusst nur angedeutet wird und lückenhaft bleibt, wenn es um die "hard facts" geht: Wem genau haben sich z.B. Addai und Ilias angeschlossen? Wie sind die genauen politischen Zusammenhänge? Was wird Ilias vorgeworfen, warum er noch immer in Haft ist?
Ein zentrales Instrument der extremistischen Szene ist, über den Einsatz von Medien – Musik, Videos, Aufrufe – zu manipulieren. Gleichzeitig wird die offizielle Presse von ihnen der Lüge bezichtigt. Ein animierter Dokumentarfilm, der einen der beiden Hauptprotagonisten – Ilias – über einen Schauspieler ersetzt und zudem jegliches Archivmaterial verfremdet, läuft Gefahr, als nicht authentisch und im schlimmsten Fall unglaubwürdig zu gelten. Dokumentarfilme lösen dies oft z. B. durch den Einsatz von realistischen Originalaufnahmen oder weitere Interviewpartner*innen, die offen gezeigt werden. "Tracing Addai" kann dies schon allein aufgrund seiner kurzen Dauer von 30 Minuten nicht leisten. Zudem folgt er einem stringenten ästhetischen Konzept. Der Film setzt Animationen ein, um von realen Protagonisten seine Geschichte erzählen zu lassen und gleichzeitig ihre Anonymität zu bewahren. Durch seine künstlerische Qualität, die einfühlsame Annäherung an die Hauptfigur und die Brisanz des Themas liefert der Film ein Fragment zur Reflexion, das sich besonders gut als Einstimmung auf das Themenfeld eignet und zu Diskussionen anregt, welche Folgen es hat, wenn sich junge Menschen radikalisieren.