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Hintergrund
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Mit der Rekrutierung junger Europäerinnen für den islamistischen Dschihad adressiert „Der Himmel wird warten“ ein Thema, das nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland aktuell ist. Die dynamischste islamistische Strömung in Deutschland ist der Salafismus. Rund 11.500 Menschen werden salafistischen Gruppierungen zugeordnet (Stand: März 2019).
Zur Struktur der Szene schreibt der Infodienst Radikalisierungsprävention der Bundeszentrale für politische Bildung: "Mitarbeiter von Beratungsprojekten berichten, dass die Anhänger der Bewegung aus allen gesellschaftlichen Schichten kommen. Der überwiegende Teil ist männlich, etwa zwischen 16 bis 28 Jahre alt. Die meisten kommen aus muslimisch geprägten Familien, es gibt aber auch Konvertiten mit und ohne Migrationshintergrund und Personen aus bikulturellen Elternhäusern." Das Bundesamt für Verfassungsschutz schätzt den Anteil von Konvertit*innen in der salafistischen Szene in Deutschland auf rund acht Prozent, während das französische Innenministerium 2016 angab, dass es sich bei 38 Prozent der islamistischen Gefährder in Frankreich um Konvertit*innen handele. Insbesondere der Syrien-Konflikt gab dschihadistischer Propaganda Auftrieb und bewegte Personen aus dem salafistischen Spektrum zur Ausreise nach Syrien oder in den Irak.
Zwar kommen die meisten der ausgereisten Europäer*innen aus Frankreich, laut Angaben des Bundesamts für Verfassungsschutz sind derzeit aber auch mehr als 1.050 Islamist*innen aus Deutschland bekannt, die in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind (Stand: 12. Juni 2019). Der überwiegende Teil der Personen war zum Zeitpunkt der Ausreise jünger als 30 Jahre, mehr als ein Viertel von ihnen ist weiblich. Das BKA Hessen gab 2016 an, dass der Anteil der ausgereisten Frauen seit 2015 von 15% auf 38% angestiegen sei. Mit seiner spezifisch weiblichen Perspektive auf den radikalen Islamismus rückt "Der Himmel wird warten" also einen wachsenden Problembereich in den Fokus.
Während der Salafismus weiterhin steigende Anhängerzahlen verbucht, sind die Zahlen der Ausreisenden infolge der massiven Gebietsverluste des Islamischen Staats in den letzten Jahren stagniert. Aus dem gleichen Grund ist in nächster Zeit vermehrt mit Rückkehrer*innen zu rechnen. In "Der Himmel wird warten", der 2016 erschienen ist, heißt es noch, dass bislang keine Minderjährige aus den Gebieten des IS zurückgekehrt sei. Dennoch gibt der Film anhand der Geschichte von Sonia einen Eindruck von der Herausforderung der Re-Integration radikalisierter Personen, vor die unsere Gesellschaft im Umgang mit Rückkehrer*innen in Zukunft gestellt sein wird.
Islamistische Radikalisierung: Hinwendungsmotive und gängige Narrative
Die Motive von jungen Menschen, sich islamistischen Strömungen zuzuwenden, sind vielfältig. Als wesentlich wird die Überforderung mit der Bewältigung typischer Herausforderungen des Jugendalters angesehen, das geprägt ist von einem fundamentalen Umorientierungsprozess, der Ablösung von der Familie, der Suche nach der eigenen Identität und den eigenen Wertvorstellungen. Ebenso können das Gefühl fehlender Zugehörigkeit und Akzeptanz, Diskriminierungs- und Desintegrationserfahrungen sowie mangelnde soziale Bindungen Faktoren sein. Ausschlaggebend sind häufig biografische Brüche: So wie Mélanie, die im Film nach spirituellen Impulsen sucht, um den Verlust ihrer Großmutter zu bewältigen, sind gerade junge Menschen in schwierigen Lebensphasen oder Krisen besonders anfällig für extremistische Vereinnahmung. Es ist demnach weniger die Ideologie als vielmehr das Versprechen von Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Anerkennung, das extremistische Strömungen auf Jugendliche anziehend wirken lässt.
In "Der Himmel wird warten" geben vor allem Dounia Bouzars Erläuterungen Aufschluss darüber, mit welchen Narrativen radikale Islamisten es schaffen, Jugendliche für ihre Ziele zu begeistern und zu instrumentalisieren. So schildert sie, dass häufig an den jugendlichen Willen zum Protest und zur Revolte appelliert werde. Videos, die Mélanie sich im Internet anschaut, schüren die Ablehnung gegen den westlichen Lebensstil, indem sie das kapitalistische System als dekadent und sinnentleert brandmarken. Dem gegenüber steht das Versprechen eines reinen und wahren Lebens als Teil einer islamistischen Weltordnung nach Gottes Vorgaben. Dschihadistische Gewaltausübung wird als Kampf gegen die Dekadenz und die Ungerechtigkeit der Welt legitimiert. Letztere findet in einem weiteren Video im Film ihren konkreten Ausdruck in den Gesichtern der Opfer des Nahost-Konflikts – natürlich ausschließlich auf palästinensischer Seite. Die Aufforderung zu handeln vermischt sich, wie Dounia Bouzar im Film erklärt, mit dem Glauben an eine höhere Mission: "Das Unbehagen, das du angesichts dieser ungerechten Welt empfindest, entstammt der Tatsache, dass Gott dich auserkoren hat, Dinge zu fühlen, die andere nicht fühlen. Du bist sensibler, du hast mehr Verstand. Du musst diese verdorbene Welt erneuern. Du darfst nicht blind vor diesem Elend sein." Für den bewaffneten Kampf und den Märtyrertod sprechen schließlich auch die Heilversprechungen im Jenseits. Diese gelten nicht nur für die Rekrutierten selbst, sondern auch für ihre "ungläubigen" Familienmitglieder, die auf diese Weise gerettet werden können.
Verlauf von Radikalisierungsprozessen
Radikalisierungsbiografien verlaufen individuell unterschiedlich. Dennoch gibt es Modelle, die versuchen den Prozess der Radikalisierung in typische Phasen aufzugliedern. Einem häufig zitierten Modell des New York City Police Departements zufolge lassen sich vier Stufen ausmachen: Am Anfang steht ein Gefühl der Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation (Präradikalisierung), woraufhin sich der oder die Jugendliche einer Gruppe von vermeintlich Gleichgesinnten anschließt und deren Argumentations- und Verhaltensmuster übernimmt (Identifikation). In der nächsten Phase wird das Gefühl der Unzufriedenheit in eine bestimmte Richtung gelenkt, dem jungen Menschen wird ein umfassendes Gerüst aus sozialen und moralischen Normen angeboten (Ideologisierung). Während in dieser Phase eine enge Bindung an die Gruppe erfolgt, wird gleichzeitig eine Entfremdung von der restlichen Gesellschaft provoziert. Die letzte Stufe des Modells beschreibt die Bewegung zu extremistischen oder terroristischen Aktivitäten auf Basis von Ideologie und Gruppenzugehörigkeit (Mobilisierung). Gerade zu Beginn verlaufen Radikalisierungsprozesse häufig ohne vom Umfeld der Betroffenen bemerkt zu werden. Schon die ersten Einstellungen von "Der Himmel wird warten", die Sonia im Urlaub am Meer zeigen, geben ein deutliches Bild von der Doppelrolle, die Sonia bis zuletzt unbemerkt spielt.
Im Film wird auch ein Aspekt der dritten Phase besonders deutlich, nämlich wie das soziale Umfeld der Indoktrinierten gezielt durch die extremistische Gruppe ersetzt wird. Mélanie steht bald nicht mehr nur in ständigem Kontakt zu Mehdi, sondern auch zu zahlreichen "Schwestern". Von ihrem Freundeskreis distanziert sie sich hingegen. Mit ihren neuen verschwörungstheoretischen Ideen stößt sie dort auf Unverständnis; den Lebensstil ihrer Freund*innen werten Mehdi und bald auch Mélanie selbst als "materialistisch" ab. Dounia Bouzar beschreibt, dass Konflikte mit Freund*innen und der Familie absichtlich geschürt werden, damit sich die Jugendlichen zunehmend unverstanden fühlen. Ein Beispiel: Während Mélanie sich in ihrem Zimmer heimlich verschleiert, tönt es aus ihrem Handy: "Deine Mutter ist ungläubig, sie wird dich nie verstehen" und "Willst du die Welt retten oder deiner Mutter gefallen?" In der Vollverschleierung sieht Dounia Bouzar schließlich sogar die komplette Auflösung der Individualität zugunsten der Gruppe.
Radikalisierung im Internet
Wie in "Der Himmel wird warten" offensichtlich wird, spielt das Internet für den Erstkontakt mit der Szene eine wesentliche Rolle. Die Anwerbung junger Menschen findet Dounia Bouzar zufolge zu 95 Prozent im Netz statt. Mit maßgeschneiderter Propaganda sprechen radikal-islamistische Akteure hier eine junge und ganz spezifisch auch eine junge weibliche Zielgruppe an. Der Erstkontakt zur Szene erfolgt meist über niedrigschwellige Medieninhalte, insbesondere über Bilder und "Kalendersprüche" zu alltäglichen Themen aus der Lebenswelt der jugendlichen Frauen. Über die sozialen Netzwerke gestreut, bieten diese Angebote Orientierungshilfe und Handlungsanweisungen zu typischen adoleszenten Problemfeldern (Lifestyle, Sexualität, Beziehung etc.), nicht selten unter Einbezug religiöser Fatwas, also Einschätzungen zu rechtlich-religiösen Fragestellungen. Dabei zielen sie auf die Vermittlung eines positiven Selbstwertgefühls ab. Erst nach und nach finden radikalere salafistische Inhalte ihren Weg in die Filterblase, die durch das Klicken auf die zunächst harmlos erscheinenden Inhalte entsteht.
Gleichzeitig wird auch auf zwischenmenschlicher Ebene eine Bindung zur Gruppe hergestellt. Die Urheber der Medieninhalte sprechen Mädchen, die ihre Postings geteilt oder geliked haben, direkt über die sozialen Medien oder Messenger wie Telegram an. Das Vorgehen wird am Fall von Mélanie anschaulich: Unter dem Pseudonym "Freigeist" / "Epris de Liberté" kontaktiert Mehdi Mélanie über Facebook. Indem er ihr Aufmerksamkeit schenkt und in einem Krisenmoment beisteht, baut er sehr schnell eine Vertrauensbasis und einen engen persönlichen Kontakt zu ihr auf. In seinen Kommentaren schmeichelt er ihr wegen ihres Aussehens und ihres Charakters und gibt ihr das Gefühl, einzigartig und – anders als alle anderen – von "reinem Herzen" zu sein. Erst nach einer Weile kommt er über die Frage nach Mélanies Glauben auf den Islam zu sprechen. Nach und nach gibt er ihr Anweisungen, wie sie sich zu verhalten und zu kleiden hat. Diesen folgt Mélanie offensichtlich nicht zuletzt deshalb, weil sie ihrem Gegenüber gefallen möchte.
Das Leben im Islamischen Staat und der bewaffnete Dschihad werden in der islamistischen Online-Propaganda häufig als romantisches Abenteuer verklärt, bei dem die jungen Frauen an der Seite eines heroischen Kämpfers ihren Traum von der großen Liebe verwirklichen. In Blogs und via Messenger verbreiten Frauen eine idealisierte Darstellung ihres Lebens im "Kalifat". Auch Mélanie entscheidet sich schließlich, die westliche Welt zu verlassen, weil sie die Heirat mit ihrem schützenden "Prinzen" herbeisehnt. Die Realität nach der Ausreise sieht für junge Frauen in der Regel ganz anders aus als in ihrer Vorstellung: Als Europäerinnen kommt ihnen meist eine Rolle als Zweit- oder Drittfrau zu. Sie sind dem Willen ihres Ehemannes unterstellt, haben keinen Zugang zu Bildung und dürfen zumeist nicht einmal allein das Haus verlassen.
Frauen und Mädchen im radikalen Islamismus
In der breiten Wahrnehmung ist der radikale Islamismus ein männliches Phänomen. Während öffentliche Aktivitäten von männlichen Akteuren dominiert sind, bleiben Frauen wegen der strikten Geschlechtertrennung, die im Islamismus praktiziert wird, vergleichsweise unsichtbar. Ihre Bedeutung im Dschihad ist deshalb lange unterschätzt worden, eine gendersensible Perspektive in Praxis und Forschung relativ neu. Aktuell ist im Hinblick auf den strafrechtlichen Umgang mit Rückkehrerinnen aus IS-Gebieten eine Diskussion um die Täterschaft von Frauen entfacht. Auch "Der Himmel wird warten" thematisiert die schwer zu beantwortende Frage nach der Verantwortung, die den Mädchen zukommt, mehrfach. "Ich weiß, ihr seid Opfer, aber ihr seid auch schuldig, weil ihr immer weitere rekrutiert", sagt Dounia Bouzar zu der wegen eines geplanten Terroranschlags angeklagten Sonia.
Tatsächlich wenden sich auch viele Frauen selbstbestimmt und (mehr oder weniger) reflektiert der Szene zu und handeln aus ideologischer Überzeugung, zum Teil auch mit der Waffe. Insbesondere kommt ihnen aber in der Szenebildung und -bindung eine zentrale und aktive Rolle zu. Ihre Aufgabe liegt im Aufbau der muslimischen Gemeinschaft, der sogenannten "Ummah". Sie sind für die ideologische Erziehung der Kinder und damit auch zukünftiger Glaubenskrieger zuständig. Außerdem sind sie im Sammeln von Spenden, in der Missionierungsarbeit und Anwerbung aktiv, sowohl online etwa als Betreiberinnen von Blogs, als auch in Schulen oder Moscheen. Für die Rekrutierung anderer Frauen sind sie wegen der Geschlechtertrennung essentiell und üben deshalb in sogenannten "Schwesternnetzwerken" einen großen Einfluss aus. Diese spielen sowohl in Mélanies als auch in Sonias Radikalisierungsprozess eine zentrale Rolle: In nahezu permanentem Kontakt tauschen sie sich mit anderen "Schwestern" über vermeintlich richtige Handlungsweisen aus und planen gemeinsam die Ausreise nach Syrien.
Aus westlicher Sicht scheint es besonders schwer nachvollziehbar, warum Mädchen und Frauen sich entscheiden, Teil einer streng patriarchalen Gesellschaft zu werden. Frauen sind in der islamistischen Gesellschaft für die häusliche Sphäre zuständig, sie kümmern sich um den Haushalt und die Erziehung der Kinder, unterstützen ihren Ehemann und unterstehen seinem Willen. Dennoch fällt die Entscheidung nicht trotz, sondern gerade wegen dieser klassischen Rollenverteilung. Zum einen bietet der Islamismus mit seinem klar definierten Frauenbild die Aussicht, Rollenkonflikten und zum Teil widersprüchlichen Anforderungen zwischen Karriere und Familie, zwischen Emanzipation und sexualisiertem Idealbild zu entfliehen. Zum anderen verspricht die islamistische Propaganda den Frauen Wertschätzung für ihren sinnstiftenden Beitrag zum Gelingen des Kalifats.
Weitere Inhalte
Sarina Lacaf ist studierte Filmwissenschaftlerin. Als freie Filmvermittlerin und Autorin verfasst sie filmpädagogische Begleitmaterialien und leitet Schulklassenworkshops und Lehrkräftefortbildungen, unter anderem für kinofenster.de, DOK.education München, DOK Leipzig, das Kinderfilmfest im Land Brandenburg und LUCAS – Internationales Festival für junge Filmfans. In verschiedenen Positionen hat sie außerdem für das DOK.fest München, die Kinemathek Hamburg und die Cinémathèque Leipzig gearbeitet.
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