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Online-Radikalisierung
Digitale Kommunikation spielt in unserem Alltag eine immer größere Rolle. Vor allem Jugendliche nutzen insbesondere das Internet zum Austausch mit Freund*innen als Informationsquelle und zur Unterhaltung. Extremistische Akteure wissen das und nutzen Internet-Plattformen und -Dienste zur Kommunikation, zur Rekrutierung neuer Mitglieder, zur Verbreitung von propagandistischem Material, zur Agitation und zur Vernetzung untereinander. Sie profitieren dabei von einer (größtenteils) unkontrollierten, schnellen und kostengünstigen Informationsvermittlung nahezu in Echtzeit und über Ländergrenzen hinweg sowie einer (vermeintlichen) Anonymität. Laut Verfassungsschutz nutzen extremistische Akteure das Internet um zu mobilisieren und potentielle Anhänger*innen hinzuzugewinnen (BfV 2013: 10).
Früh verfügten extremistische Organisationen über eigene Websites und nutzten das Internet zur Darstellung ihrer Ideologie (Weitzman 2010). Technische Erweiterungen ließen schnell Online-Foren, die Diskussionen und Austausch ermöglichen, hinzukommen. Eine verbesserte digitale Infrastruktur und die Entwicklung des Internets zum interaktiven Web gingen einher mit neuen Möglichkeiten zur Vernetzung, zum Austausch und zur Kommunikation. War die Verbreitung von Informationen, die Rekrutierung und Ausbildung neuer Extremist*innen in der Vergangenheit nicht nur kostenintensiv, (zeit-)aufwendig und von geografischen Gegebenheiten bestimmt (Bott et al. 2009: 54), so ermöglicht das "Mitmach-Web" (Verfassungsschutz Brandenburg 2008: 8) allen die Gestaltung und Distribution ideologischer Materialien und/oder deren Konsum (Jenkins 2006). Der Gehalt an digital verfügbarem extremistischem Material ist seither um ein Vielfaches gestiegen. Längst erweitern Online-Magazine, E-Books, digitale Informationsbroschüren neben statischen Websites das Angebot und schaffen eine Flut an radikalen und extremistischen Inhalten und Materialien. Oftmals sind (modern gestaltete) Informationen dadurch einer breiten Öffentlichkeit leicht zugänglich. Aufgrund ihrer subtilen Aufmachung sind sie nicht immer leicht als extremistisches Material zu erkennen. So werden radikale oder extremistische Inhalte teilweise passiv und ungewollt konsumiert (Pauwels et al. 2014) und können auf Personen treffen, "die gar nicht nach extremistischen Inhalten suchten, aber für extremistische Botschaften offen waren" (Neumann 2016: 167). Das Internet gilt als "[e]in Medium, welches dem Radikalisierungsprozess insbesondere junger Menschen wie kein anderes gleichermaßen Boden wie Nahrung gibt" (Knipping-Sorokin/Stumpf 2018: 5). Doch welchen Einfluss übt das Internet auf Radikalisierungsprozesse aus und welcher Propagandastrategien bedienen sich extremistische Personen, um besonders viele Menschen zu erreichen?
Einfluss und Relevanz des Internets auf Radikalisierungsprozesse
Das Internet gilt längst als zentrales Verbreitungsmedium extremistischer Ideologien. Dennoch ist die Frage, ob und inwieweit das Internet und mit ihm statische Websites, virtuelle (soziale) Netzwerke etc. Einfluss auf Individuen ausüben können, auch weiterhin ungeklärt (Meleagrou-Hitchens/Kaderbhai 2017: 19). Grundsätzlich lassen sich hierbei drei Positionen feststellen (Kahl 2018: 13): Die Mehrheit der Forschenden betrachtet das Internet als Unterstützer und/oder Katalysator von Radikalisierung, sieht es aber nicht als alleinigen Faktor, der zu einer Radikalisierung führt. Vielmehr sind realweltliche Interaktionen ihrer Ansicht nach unerlässlich für Radikalisierungsprozesse (Holbrook 2015: 132). Eine Minderheit schreibt dem Internet keinen oder lediglich einen äußerst geringen Einfluss auf Radikalisierungsprozesse zu, während die verursachenden Faktoren insbesondere in der analogen Welt liegen. Und wiederum eine andere Minderheit vertritt die Auffassung, dass eine Radikalisierung ohne realweltliche Interaktionen und somit eine ausschließlich virtuelle Radikalisierung möglich ist (Kahl 2018: 13f.).
Digital radikalisiert?
Radikalisierung ist ein Prozess, der durch viele Faktoren bestimmt wird. Kein Radikalisierungsprozess gleicht einem anderen. Roshonara Choudhry (Neumann 2016: 162ff.), die 2010 den britischen Abgeordneten Stephen Timms erstach, Arid Uka (Steinberg 2012: 5), der Attentäter am Frankfurter Flughafen 2011 und Jake Bilardi (Schlegel 2018: 2), ein Selbstmordattentäter im Irak 2015, werden immer wieder als Beispiele für Personen, die sich ausschließlich im Internet radikalisiert haben, angeführt. Doch jüngste Forschung lässt vielmehr vermuten, dass es eine ausschließliche Online-Radikalisierung nicht gibt (Abay Gaspar/Sold 2018) sowie dass eine Trennung zwischen Online- und Offline-Welt künstlich ist und die Lebenswelt – insbesondere von Jugendlichen – nicht adäquat wiederspiegelt. Vielmehr können Radikalisierungsprozesse oft nur durch das Zusammenspiel beider Welten erklärt werden (Simi/Futrell 2006: 126ff.). Immer spielen auch Kontakte in der analogen Welt eine Rolle in Radikalisierungsprozessen. Schlüsselpersonen – wie ein Mitschüler bei Maximilian Kelm oder ein muslimischer Freund bei Dominic Musa Schmitz – können den Zugang und Einstieg in eine Szene aber auch die Anbindung an eine Szene erleichtern oder fördern.
Begriffe wie Online-Radikalisierung, digitale oder virtuelle Radikalisierung sind somit insofern irreführend, als dass sie eine ausschließliche Radikalisierung in der virtuellen Welt vermuten lassen.
Das Internet spielt jedoch – jüngsten Forschungsergebnisse des Bundeskriminalsamtes (BKA), des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) und des Hessischen Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus (HKE) zufolge – vor allem phasenweise eine Rolle in Radikalisierungsprozessen. So kommt vor allem zu Beginn von Radikalisierungsprozessen dem Internet eine (zentrale) Bedeutung zu (BKA/BfV/HKE 2015: 19). Soziale Medien werden für erste Kontakte genutzt, da so Kontaktpersonen und Gleichgesinnte schnell aufgefunden werden können (Abay Gaspar et al. 2018: 34). Im weiteren Verlauf nimmt die Bedeutung des Internets in Radikalisierungsprozessen jedoch ab und verlagert sich überwiegend in ein soziales Umfeld in der analogen Welt (BKA/BfV/HKE 2015: 22f.).
Online-Propagandastrategien
Propaganda kann als der Versuch der systematischen Gestaltung von Wahrnehmungen, der Beeinflussung von Gedanken, Gefühlen und Verhalten im Sinne einer Ideologie definiert werden (Frischlich 2019, Frischlich/Rieger 2017). Extremist*innen wenden verschiedene Strategien an, um andere Personen zu beeinflussen, die Ideologie salonfähig zu machen und neue Mitglieder und Sympathisierende zu gewinnen. Sie agieren nicht nur offline, in der sogenannten realen Welt, sondern zunehmend auch online und hier vor allem in sozialen Netzwerken.
Propagandistisches Material ist jedoch nicht nur in sozialen Netzwerken, sondern nahezu überall im Netz zu finden. Verschiedenste Plattformen werden bedient. Und so werden statische Internetseiten, Homepages, Online-Versandshops, Online-Magazine, aber insbesondere auch soziale Netzwerke und Messenger zur Verbreitung von Propaganda (sowie zur stärkeren Vernetzung der User*innen) genutzt. Neben den verschiedenen Plattformen sind auch die Ansprachen von extremistischen Personen und Gruppen vielfältig. Sie bedienen sich verschiedener Methoden, um Propaganda zu betreiben.
Bilder, Videos und Memes werden zahlreich und zunehmend von Rekrutierenden eingesetzt. Einer der Gründe hierfür ist: Sie emotionalisieren, ziehen Aufmerksamkeit auf sich und regen zur Diskussion an. Dies soll zu einer "möglichst breite[ n] Streuung" der Beiträge führen (Frankenberger et al. 2018a: 8f.). Oftmals werden Bilder hierzu aus dem Kontext gerissen. Die Thematik und Erscheinungsformen der eingesetzten Videos können hierbei stark variieren. Gemeinsam ist ihnen, dass sie in der Regel auf die Sehgewohnheiten der Zielgruppe ausgerichtet sind. Spezialeffekte und professionelle Videos, die teilweise an "Hollywood-Filme" (Tophoven 2017: 328) erinnern, sind ebenso zu finden wie Amateurvideos.
Ein weiteres Charakteristikum von Propaganda ist, das Anknüpfen an aktuelle politische und gesellschaftliche Debatten (Frankenberger et al. 2018a: 8). So gewinnt Propaganda an Einflussmöglichkeiten und erreicht viele User*innen (Glaser et al. 2019: 16, 18). Durch eine Aufarbeitung der Inhalte passen sie nicht nur in das ideologische Weltbild, sondern auch zu dem propagierten "Opfer-Täter-Narrativ" (Frankenberger et al. 2018a: 8).
Eine zentrale Rolle in der Propaganda kommt zudem Feindbildern, die an bestehende Ressentiments anknüpfen, zu. Personen(gruppen), Bevölkerungsteile oder gar Nationen, die nicht in das Weltbild der Extremist*innen passen, werden diffamiert und bis hin zur Entmenschlichung abgewertet. Feindbilder werden geschaffen oder verfestigt, wodurch eine gesellschaftliche Spannung herbeigeführt wird (Frankenberger et al. 2018a: 12, 2018b: 16f.). Zur Propagandastrategie gehört auch das Anknüpfen an Phänomene, Trends und "aktuelle Themen, die junge Menschen bewegen" (Glaser et al. 2019: 16ff.). So werden beispielsweise die Sehgewohnheiten Jugendlicher bedient (Frankenberger 2018: 7).
Auch die eingesetzte Sprache ist der Zielgruppe angepasst und wirkt auf diese authentisch. So kann sie – je nach Zielgruppe – beispielsweise "betont harmlos" oder "besonders radikal" sein (Beyersdörfer et al. 2017: 8). Ein weiteres Propagandamittel ist der Einsatz bzw. die Verbreitung von Fake News. Bewusste Falschmeldungen und Lügen werden verbreitet, um gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen zu hetzen. Durch Desinformation wird gezielt emotionalisiert und Ängste werden verstärkt (Glaser et al. 2019: 18).
Neben Fake News werden auch aktuelle Ereignisse als Anknüpfungspunkte für Propaganda genutzt (Frankenberger et al. 2018a: 8). Der Bezug zu aktuellen Ereignissen oder Themen, die Jugendliche bewegen, erhöht die Reichweite von Posts. Denn immer mehr Menschen und vor allem Jugendliche informieren sich über aktuelle Ereignisse im Internet und gelangen so (unbemerkt) leicht an propagandistische Inhalte. Mit der Verbreitung skandalisierender Beiträge beabsichtigen die Betreiber*innen es, negative Emotionen gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen oder Werten zu schüren. Indem sie an gängige Vorurteile und Ängste anknüpfen, wird ihr Wahrheitsgehalt nur selten angezweifelt.
Eine weitere Propagandastrategie ist die zielgruppenspezifische Ansprache. Mädchen und Frauen werden oftmals anders und mit anderen Themen angesprochen als es bei Jungen und Männern der Fall ist. Zielgruppenspezifische Themen für die weiblichen Rezipienten sind beispielsweise Sexualität, Beziehung und Kindererziehung (Jugendschutz.net 2017: 1ff.), während die männlichen über Attribute wie Heldentum, Stärke und Wehrhaftigkeit angesprochen werden.
Die Ansprache ist oft persönlich. So werden im salafistischen Milieu Mädchen und junge Frauen als "Schwestern" und Jungen und junge Männer als "Brüder" angesprochen. Im rechtsextremen Milieu hingegen werden beispielsweise Begriffe wie "Kameraden" zur persönlichen Ansprache verwendet und bei linksextremistischen Personen Begriffe wie "Genossen". So wird das Gefühl der Nähe und des Zusammenhalts vermittelt und den Rezipienten zudem das Gefühl vermittelt, mit einer (engen) Freundin oder einem engen Freund in Kontakt zu treten.
Harmlos wirkende, oftmals aufwendig inszenierte Alltagsbilder oder beliebte Hashtags werden verwendet, um so an Sehgewohnheiten und Nutzungsverhalten junger User*innen anzuknüpfen (Frankenberger et al. 2019: 8, 14, 2018a: 10). Extremistischen Personen gelingt es so, andere an ihre Ideologien heranzuführen und auf Profile von anderen extremistischen Personen zu locken. Bewusst wird an jugendliche Subkulturen angeknüpft. Online wird die Nähe zu angesagten Themen und Aktivitäten gesucht, um so möglichst viele Menschen und vor allem Jugendliche zu erreichen.
GIFs (engl. Graphics Interchange Format) werden in Chats eingebunden "und sollen den Spaß an der Kommunikation erhöhen", ebenso wie Sticker (in Telegram) oder die bekannten Emojis (Frankenberger et al. 2018a: 15). Klickt man auf einen Sticker, so erhält man Zugriff auf Sticker-Pakete. Auf diese Weise entsteht ein leichter Zugang zur Ikonographie von extremen Gruppierungen.
Eine weitere Propagandastrategie ist das gezielte Einbringen von Diskriminierungserfahrungen. Verwoben mit der religiösen/politischen Ideologie und demokratiefeindlichen Elementen wird bei den Adressierten ein Freund-Feind-Denken verstärkt (Kimmel et al. 2018: 34).
Extremist*innen jeglicher Art präsentieren sich modern und nahbar – auch salafistische Strömungen (Bauknecht 2015: 1ff., Ceylan/Kiefer 2013: 60). Eine unauffällige Inszenierung und wenig eindeutig extremistische Inhalte und deren subtile Vermittlung sind eine weitere Propagandastrategie. Mit niedrigschwelligen Angeboten, deren extremistischer Hintergrund nicht auf Anhieb zu erkennen ist, werden potentielle Interessenten gelockt und so subtil an extremistische Propaganda herangeführt. So werden radikale oder extremistische Inhalte teilweise passiv und ungewollt konsumiert und können auf Personen treffen, "die gar nicht nach extremistischen suchten, aber für extremistische Botschaften offen waren" (Neumann 2016: 167). Nach und nach werden die Inhalte gewaltbereiter und aggressiver. Schleichend können Konsumierende so an die Ideologie herangeführt werden.
Auch Musik wird in verschiedenen radikalen und extremistischen Milieus gezielt als Propagandamittel eingesetzt (Frankenberger et al. 2015: 12). Die Einbindung von Musik auf Websites, Blogs aber auch in sozialen Netzwerken ist problemlos möglich. Die Bandbreite der eingesetzten Musik ist groß. Im salafistischen Phänomenbereich sind es vor allem religiöse Gesänge (Naschids), die Anwendung finden. In der rechtsextremen Szene ist es Rechtsrock oder auch NS-Rap und der brachiale "National Socialist Hardcore". Musik gilt als "Einstiegsdroge" in die Neonaziszene (Sposito 2007).
Onlineaktivismus soll vor allem jungen Nutzer*innen die Möglichkeit geben, sich aktiv zu beteiligen und in Diskussionen einzubringen (Frankenberger et al. 2018b: 11). Oftmals werden andere User*innen oder Chatteilnehmende nach ihren Meinungen gefragt und so zur Aktivität aufgefordert.
Jugendaffine Plattformen werden gezielt zur Verbreitung propagandistischer Materialien genutzt (Frankenberger et al. 2018a: 10). Verschlagwortung und das Bedienen sogenannter Trending Topics tragen dazu bei, dass extremistische Inhalte von Nutzer*innen schneller und einfacher gefunden werden. Auch beliebte Hashtags von Twitter wurden schon gekapert (Frankenberger et al. 2015: 6), um auf extremistische Inhalte hinzuweisen. Aber auch Instragram Stories, Challenges oder Sarkasmus und weitere zur Agitation dienliche Strategien werden genutzt (Jugendschutz.net 2018: 2).
Viele extremistische Personen "verfolgen crossmediale Strategien, indem sie die unterschiedlichen Plattformen und Dienste nutzen und untereinander verlinken" (Peperhove o. J.) und sich so deren jeweiligen Funktionen zunutze machen. Facebook dient extremistischen Personen als Socialising-Instrument und wird oftmals für den Erstkontakt genutzt (Abay Gaspar et al. 2018: 34). Interessierte können schnell identifiziert und kontaktiert werden. YouTube wird zur Verbreitung von Videos genutzt, Instagram um persönliche Eindrücke zu vermitteln, Twitter um kurze Meldungen an Gleichgesinnte oder die Gefolgschaft zu senden. Messenger wie Telegram, WhatsApp, Snapchat und Teamspeak werden genutzt, um Kontakte zu pflegen. Darüber hinaus nutzen extremistische Personen "zensurfreie" Ausweichplattformen wie VKontakte (kurz: VK) für die Verbreitung strafbarer oder drastischer Inhalte (Hass im Netz 2017).
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