Einführung: Der erlebnispädagogische Zugang zur Stärkung von Selbst- und Fremdvertrauen
Im zweiten Baustein des Moduls stehen Aktivitäten aus dem Bereich der Erlebnispädagogik im Mittelpunkt. Diese beinhalten jeweils ein konkretes Ziel und folgen gleichzeitig einem ganzheitlichen Erfahrungs- und Lernverständnis. Es "wird etwas erlebt" und "etwas am eigenen Körper erfahren".
Ausgangspunkt ist ein reformpädagogisches ganzheitliches Menschenbild, das keine Trennung von Kognitivem (Informationsverarbeitung), Emotionalem (Gefühlen) und Körperlichem vornimmt. Diese Bereiche werden als sich stets gegenseitig beeinflussend und ergänzend betrachtet. Kopf, Herz und Hand sollen genutzt, beansprucht und gefördert werden.
Die Lernenden stehen im Mittelpunkt des Geschehens. Sie steuern und gestalten den Lernprozess aktiv mit. Körperliche Aktivität spielt dabei eine zentrale Rolle. In diesem Baustein geht es u. a. darum, den Schüler/innen Möglichkeiten zu vermitteln, den eigenen Körper wahrzunehmen und sie für ihren eigenen Körper zu sensibilisieren. Dabei werden neue Bewegungsformen erlernt, die den Gleichgewichtssinn und die Vitalität bzw. Lebensfreude der jeweiligen Schüler/innen fördern.
Der erlebnispädagogische Ansatz sozialen Lernens geht davon aus, dass Erziehungs- und Bildungsprozesse wesentlich durch Affekte und Emotionen gekennzeichnet sind, die häufig nicht bewusst sind. Deshalb wird versucht, die Erlebnisse in gemeinsamen Überlegungen zu reflektieren und bewusst zu machen, damit sie verhaltenswirksam werden können.
Neben der Stärkung des Selbstvertrauens und des Vertrauens in Andere werden durch die erlebnispädagogischen Elemente noch weitere Kompetenzen gefördert. So ergibt sich in den Übungen die Gelegenheit, eigene Bedürfnisse zu klären und den individuellen Umgang mit Konfliktsituationen in pädagogisch geschützten Situationen zu erproben.
Gleichzeitig können dadurch auch im besten Fall die Kommunikationsfähigkeit, die Wahrnehmung von Gruppenrollen, das Verantwortungsgefühl und die Kooperationsfähigkeit gestärkt werden.
Im Folgenden werden einige Aspekte näher erläutert, die bei erlebnispädagogischen Zugängen im Kontext der Stärkung von Selbstvertrauen und Vertrauen in Andere im schulischen Umfeld von Bedeutung sind.
Vorbereitung und Auswahl der Aktivitäten
Die erlebnispädagogischen Aktivitäten werden als Sammlung von Unterrichtseinheiten präsentiert, deren Reihenfolge nicht zwingend vorgegeben ist. Zum Teil sind die Unterrichtseinheiten deutlich kürzer als eine Schulstunde, zum Teil kann eine Unterrichtseinheit aber auch deutlich über eine Schulstunde hinausgehen – das kann von der Lehrkraft selbst gesteuert werden. Die Sammlung der Unterrichtseinheiten soll als Rahmen dienen, aus der geeignete Übungen für die jeweilige Lerngruppe je nach Möglichkeit und Anforderung zusammengestellt werden können.
Folgende allgemeine Hinweise sollten unbedingt beachtet werden:
eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen und bewahren,
die Komplexität der Übungen langsam steigern,
auf die Gruppensituation achten und eventuell Spiele modifizieren,
Vorsicht mit neuen und unbekannten Aktivitäten,
vorbereitende Übungen einsetzen, insbesondere im Bereich Vertrauen und Nähe,
aufgewühlten Emotionen im Anschluss Raum zur Aufarbeitung geben,
Zeitdruck und Stress vermeiden.
Darüber hinaus können sich Lehrkräfte an folgenden zentralen erlebnispädagogischen Prinzipien orientieren:
Das Lernen findet in der Gruppe statt.
Die ablaufenden gruppendynamischen Prozesse werden in der Reflexion als Grundlagenmaterial genutzt.
Kooperation statt Konkurrenz sollte vorherrschen.
Der Prozess ist wichtiger als das Ergebnis.
Die eigene Erfahrung dient als wesentliche Lernquelle.
Reflexionen ermöglichen einen neuen Blick auf Handlung und Rollenverteilungen.
Die Lehrkraft ermöglicht und strukturiert Lernfelder, sie lehrt nicht.
Zielsetzung bei den Übungen sind Anregungen zur Persönlichkeitsentwicklung.
Die Aktionen werden als ernsthaft erlebt.
Es gilt das Prinzip der "Herausforderung nach Wahl".
Möglichkeiten der Reflexion
Erlebnisse und Erfahrungen können in der erlebnispädagogischen Arbeit selbst ein eigenständiges Lernziel darstellen. In den meisten Situationen sollte man sich jedoch mit den erlebten Ereignissen im Kontext der Übungen reflexiv auseinandersetzen.
Vorbesprechungen, Nachbesprechungen und/oder Interventionen sind zielführend,
um den Lernerfolg einer Aktivität nachhaltiger zu gestalten,
bestimmte Themen zu fokussieren,
die Erfahrungen auf die jeweilige Gruppe zu beziehen und/oder
um starken Emotionen Raum zur Bearbeitung zu geben.
Dies kann:
vor der Aktion geschehen, um eine Richtung vorzugeben;
während der Aktion geschehen, um z. B. festgefahrene Situationen und Konflikte zu moderieren;
nach der Aktion geschehen, um die Aktion Revue passieren zu lassen und auf gemachte Erfahrungen und Emotionen einzugehen.
Dabei bieten sich die folgenden methodischen Vorgehensweisen an.
Die Lehrkraft…
bereitet die Gruppe auf zu erwartende Schwierigkeiten und Lernmöglichkeiten vor und verweist auf Erfahrungen aus vergangenen Aktivitäten,
nimmt sich zurück und greift lediglich lenkend und moderierend ein, damit die Schüler/innen sich im Rahmen der Reflexion mit ihren Beobachtungen und Erfahrungen selbst einbringen,
gibt den Schüler/innen eine Rückmeldung über deren Verhalten oder deren Erfahrungen. Die Lehrkraft tritt in diesem Fall als Experte/Expertin auf und informiert die Gruppe über ihr Vorgehen und ihre Lernfortschritte,
regt aktiv eine Diskussion mit den Schüler/innen an, damit diese ermutigt werden, über das Erlebte, über ihre Gefühle und Erlebnisse zu sprechen. Sie bezieht damit die Schüler/innen aktiv in den Reflexionsprozess ein. Die Lehrkraft selbst nimmt dabei eine moderierende Funktion ein.
Achtsamkeit – Sicherheit geben
Sicherheit ist einerseits das Nichtvorhandensein von Gefahr, andererseits die Gewissheit, vor möglichen Gefahren geschützt zu sein.
Sicherheit ist ein unabdingbarer Bestandteil einer jeden erlebnispädagogischen Aktivität.
Riskante Situationen dürfen zu keinem Zeitpunkt bestehen.
Sicherheit bezieht sich auf die drei Ebenen:
physische Sicherheit
psychische Sicherheit
emotionale Sicherheit
Physische Sicherheit
Um die physische Sicherheit zu gewährleisten, gilt Folgendes:
auf ausreichende und richtige Hilfestellung achten,
Geländebedingungen auf Unebenheiten, Steine, Scherben, Totholz in den Bäumen untersuchen und auf Rutschgefahr achten,
Wetterbedingungen (Hitze, Kälte, Gewitter, etc.) beachten,
körperliche Handicaps beachten.
Psychische und emotionale Sicherheit
Ein wichtiger Aspekt erlebnispädagogischer Aktivitäten ist es, dass die Teilnehmenden an ihre Grenzen herangeführt werden. Das bedeutet, sie werden mit Dingen konfrontiert, die sie sich sonst vielleicht nicht zutrauen würden, wie z. B.
körperliche Nähe,
sich offenbaren,
angstbehaftete Situationen,
agieren in Gruppen,
Selbstüberwindung,
Anderen vertrauen.
Bei allen Aktivitäten soll das Prinzip der "Challenge by Choice", der Herausforderung nach Wahl gelten:
Die Schüler/innen haben die Chance, eine potentiell schwierige oder besondere Herausforderung in einer Atmosphäre der Unterstützung auszuprobieren.
Die Schüler/innen bestimmen selbst, wie weit sie sich aus der von ihnen empfundenen Sicherheitszone begeben möchten.
Dem Versuch wird immer mehr Bedeutung zugemessen als dem Leistungsresultat.
Es besteht die Möglichkeit, die Aktivität zu einem späteren Zeitpunkt erneut auszuprobieren.
Das bedeutet allerdings nicht, dass Schüler/innen, die auf Anfrage bei einer Übung (z. B. aus Angst) nicht mitmachen möchten, vollständig "in Ruhe gelassen werden". Dies kann zu einer Selbstausgrenzung führen.
Vielmehr sollte die Lehrkraft die Situation sensibel einschätzen und nach Möglichkeiten suchen, ob der/die betreffende Schüler/in unter bestimmten Bedingungen nicht doch mitmachen kann (z. B. reduzierte Höhe, anderes Sicherungssystem, keine Zuschauer etc.). Wichtig ist aber, dass niemand gezwungen werden darf, etwas mitzumachen, was er/sie nicht möchte, weder durch die Lehrkraft noch durch den Gruppendruck der Klasse.
Ferner gilt unbedingt die Stopp-Regel! Die Teilnehmenden können durch ein zuvor explizit vereinbartes Stopp-Signal die Aktivität für sich zu jeder Zeit beenden, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen und ohne dabei das Gesicht zu verlieren.
Aspekte von Diversity im Rahmen von Erlebnispädagogik
Im Folgenden wird genauer auf Koedukation und Behinderungen eingegangen, die bei der Durchführung von erlebnispädagogischen Übungen immer wieder zu wichtigen Achtsamkeiten führen.
Koedukation
Durch eine gemeinsame Beschulung und Aktivitäten lernen Jungen und Mädchen einen vernünftigen Umgang mit dem anderen Geschlecht. Eine Trennung der Klasse nach Jungen und Mädchen kann bei einzelnen Aktivitäten jedoch eine Maßnahme sein, um Risiken zu mindern. Mädchen wie Jungen wird so die Möglichkeit gegeben, die Erfahrung zu machen, dass es ihnen ohne die Anwesenheit des anderen Geschlechtes leichter fallen kann, miteinander zu reden und sich gegenseitig zu verhalten.
Bestimmte sensible Themen in der Jungenarbeit, wie z. B. sich Einlassen auf körperliche Empfindungen oder Reden über eigene Stärken und Schwächen setzen zumindest zu Beginn der Arbeit einen geschützten Raum voraus (vgl. Boldt 2013). Der geschützte Raum, in dem sich Jungen untereinander solidarisch vergewissern können, hilft ihnen, Dinge zu erfahren und zu lernen, die danach im Umgang zwischen den Geschlechtern angewandt und überprüft werden können.
Mädchen erhalten im Verlauf ihrer Sozialisation von ihrem Umfeld in der Regel mehr positives Feedback für kommunikative und soziale Verhaltensweisen wie gut zuhören, Aufgaben übernehmen oder verständnisvoll sein. Ebenso gilt die Aufmerksamkeit anderer Menschen besonders dem Äußeren der Mädchen, dem Aussehen und der Kleidung. Insofern ist es von Bedeutung, auch den Mädchen Erfahrungsräume anzubieten, in denen sie lernen, klar und deutlich Befindlichkeiten und Wahrnehmungen zu äußern, in denen sie zu den eigenen Bedürfnissen und Wünschen stehen und in denen sie auch lernen, sich durchzusetzen.
Umgang mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Behinderungen
Aufgrund der Vielfalt von körperlichen, psychischen und intellektuellen Fähigkeiten und Beeinträchtigungen können in einzelnen Übungen und Einheilten nicht die persönlichen Bedürfnisse aller gleichermaßen berücksichtigt werden. Das VorBild-Material richtet sich in erster Linie an Schüler/innen mit Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache und emotionalem und sozialem Verhalten. Für diese Schülergruppe ist ein erlebnispädagogischer Zugang u. a. deshalb besonders sinnvoll, weil hier die Vermittlung von Kompetenzen nicht kognitivistisch und ohne Verwendung von Schriftsprache erfolgen kann.
Für Schüler/innen mit körperlichen Beeinträchtigungen werden einzelne Übungen nicht geeignet sein. Hier sollten die betreffenden Schüler/innen andere Rollen in den gemeinsamen Aktivitäten einnehmen, wie z. B. die eines/r Schiedsrichters/in oder eines Protokollanten, Beobachtenden, Kommentierenden, Zeitmessenden usw. Eine wichtige Richtlinie ist, bei der Zusammenstellung der Übungen so zu verfahren, dass keine Person gleichzeitig von allen ausgewählten Übungen ausgeschlossen wird.
Es können hier keine Patentrezepte geliefert werden, dafür sind solche Situationen in der Klasse zu vielfältig. Wir möchten hier aber ausdrücklich die Lehrkräfte sensibilisieren, dass niemand aus der Klasse unbewusst und unthematisiert von allen Übungen ausgeschlossen wird.
Benötigtes Material
eine solide Leiter mit acht bis zwölf Sprossen, ebener Untergrund, mindestens neun Aktive (Übung 2);
8 bis 12 jeweils 8 – 10 cm dicke und 1 m lange Holzstangen bzw. auf diese Länge zugeschnittene Baumstämme (Übung 3);
Holz- oder Gummiplättchen nach Anzahl der beteiligten Schüler/innen (6x20 cm), mehrere Seile oder Bindfäden (Länge 2–4 m) (Übung 5);
einfache Schnüre oder Bindfaden (Länge ca. 20 m), stabiles Seil, das eine Person tragen kann (Länge ca. 15 m), Plüschtier o.ä., Tücher zum Verbinden der Augen (Übung 6).
InfokastenDie nachfolgenden Übungen sind angelehnt an:
Hennig, G. (2005): Soziales Lernen in verschiedenen Schulformen. Reader des Landesinstitutes für Schule in Bremen, Teil 2: Holger Pern – Erlebnispädagogische Zugänge, Bremen: o.V.
Gilsdorf, R., Kistner, G. (2000): Kooperative Abenteuerspiele, Bd.2: Praxishilfe für Schule, Jugendarbeit und Erwachsenenbildung. Mit Illustrationen von K. Becker, Stuttgart: Klett/Kallmeyer.
Gilsdorf, R., Kistner, G. (1995): Kooperative Abenteuerspiele, Bd.1: Praxishilfe für Schule, Jugendarbeit und Erwachsenenbildung. Mit Illustrationen von K. Becker, Stuttgart: Klett/Kallmeyer.