Fachdidaktische Vorüberlegungen
In der Geschichtskultur gibt es diesen Herbst für fast nur ein Thema Platz. Der 9. November. Das ohnehin markante Datum, ist dieses Jahr zudem mit dem 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalls geschmückt. Landesweite Gedenkzeremonien mit lokaler Ausprägung, Sondersendungen auf allen Kanälen, mediale Diskussionen um die nachträgliche Bewertung dieses Ereignisses – kurz, der aktuelle Diskurs auch abseits des Feuilleton ist geprägt vom Fall der Berliner Mauer.
Wenn nun der Versuch unternommen wird, das komplexe Phänomen Mauerfall im Geschichtsunterricht zu thematisieren, stellen sich eine ganze Reihe fachdidaktische Fragen bspw. welche Geschichte hier präsentiert werden kann und soll? Fraglos erscheint der Mauerfall als bedeutendes Ereignis. Nur: Sehen Schülerinnen und Schüler, die nach 2000 geboren sind das ebenso? Konstruieren sie ihre Identität immer noch ostdeutsch oder westdeutsch? Oder beschreiben sie sich als Teil einer positiven Fortschrittsgeschichte, die mit dem Mauerfall ihren Anfang nimmt? Auf der anderen Seite, was wissen Schülerinnen und Schüler aus vorunterrichtlicher Prägung über die DDR? Und wiederum, was sollten sie wissen, um sich ein bewertendes Urteil anmaßen zu können?
Diese Fragen sind nicht abschließend geklärt, können aber bei der konkreten Lerngruppe erfragt oder zumindest stellvertretend antizipiert werden. Denn, dass die Klärung der obenstehenden Fragen für die Schülerinnen und Schüler wichtig ist, zumindest aber werden kann, zeigt die Omnipräsenz mit der die Geschichte der DDR verhandelt wird und für was sie momentan als Chiffre herhalten muss. Ob und wie dies weiter geschieht, darauf haben auch die Schülerinnen und Schüler Einfluss (Gegenwarts- und vor allem Zukunftsbezug). Denn die Geschichte der DDR ist alles andere als abschließend verhandelt. Von daher bietet jede Auseinandersetzung mit dem Thema DDR Einblicke in die Konstruktion, Diskursivität und Veränderbarkeit von Geschichte. Gerade hier bietet es sich also an mit Quellen und Darstellungen zu arbeiten (Multiperspektivität) und unterschiedliche Narrative auf ihre Perspektivität und Standortgebundenheit zu befragen, um so das eigene Narrativ überhaupt kategorisieren zu können (Narrativität).
Aufbau des Materials
Beim vorliegenden Material (Ersterscheinung 2014) handelt es sich um fünf fertig ausgearbeitete Arbeitsblätter (Quellen, Darstellungen und dazugehörige Aufgaben) samt zwei faltbaren Zeitstrahlen. Da die beiden Zeitstrahlen (kurz und lang) nicht mehr als Printversion vorliegen, erscheinen sie nur bedingt einsetzbar. Zwar bieten sie nützliche und ergänzende Informationen, die die Nachkriegsgeschichte in der SBZ und der DDR skizzieren, diese sind aber eher für eine gesamte Reihe, als für die hier vorfindbaren Arbeitsblätter interessant.
Die Arbeitsblätter bieten einen Zugriff auf das Thema des Mauerfalls ("Jahrhundertereignis", "Weltsensation") der mit den Schlagworten Herrschaftsgeschichte/Politikgeschichte und positive Fortschrittsgeschichte beschrieben werden kann. Die Hinweise des Autors an die Leser und Leserinnen erwecken zudem den Eindruck, dass auch personifizierende Alltagsgeschichte Teil der Arbeitsblätter sind. Das erste Arbeitsblatt führt den Tag des Mauerfalls am 9.11.1989 ein. Hierzu wird die Chronologie der Ereignisse von Schabowskis Pressekonferenz bis hin zur Maueröffnung mit drei Bildern illustriert. Beim zweiten Blatt erfolgt ein chronologischer Bruch. Es thematisiert den Viermächtestatus in Europa, Deutschland und Berlin. Anschließend wird der Grund des Mauerbaus zwischen "antifaschistischen Schutzwall" und "Fluchtbekämpfung" abgewogen (drittes Arbeitsblatt). Auf dem vierten Blatt werden die nationalen wie internationalen Gründe und Ursachen für die Maueröffnung in einem Autorentext dargestellt. Auf dem letzten Blatt wird die Frage aufgeworfen, ob der Mauerfall mit dem Begriff Wiedervereinigung gleichzusetzen ist. Hierfür werden kontrastierend die Forderungen nachträglicher Montagsdemonstrationen in Leipzig, sowie die Wahlergebnisse am 18.3.1990 thematisiert.
Die Gesamtheit der Aufgabenstellungen ist kurz und prägnant. Zudem verknüpfen die Aufgaben Wissen, welches aus den Texten entnommen werden kann mit Allgemeinwissen. Häufig verbleiben die Aufgaben aber bei Sinnentnahme und Reproduktion von Textinhalten.
Einsatzmöglichkeiten im Unterricht
Das Thema Mauerbau ist aufgrund seiner Aktualität, Relevanz und mitunter auch aktuellen politischen wie geschichtskulturellen Brisanz fraglos wichtig. Die hier versammelten Materialien eignen sich meiner Meinung nach eher für die Sekundarstufe eins und hierbei vor allem, um sich dem Thema in wenigen Unterrichtseinheiten eher oberflächlich, aber dafür ohne größere Vorbereitung und Einbettung in eine Unterrichtsreihe zu widmen. Dies könnte z.B. im Vertretungsunterricht erfolgen.
Der Vorteil des Materials liegt - auch in Anbetracht des nahenden 9.11.2019 - darin, dass mit dem Mauerfall eingestiegen wird und anschließend Gründe für den Bau und Fall der Mauer erörtert werden. An einigen Stellen kann das Material geringfügig ergänzt werden, um mit den Arbeitsblättern auch 90-minütigen Unterrichtsettings durchführen zu können. So könnte bei dem ersten Blatt die Fotostrecke durch die Original Tagesschau vom 9.11.1989 ersetzt werden (Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=llE7tCeNbro). Hierbei ist ja unter Umständen auch interessant, was an diesem Tag noch geschah, aber nicht derartig in die Geschichte einging. Des Weiteren arbeitet keines der Blätter mit Textquellen, was sich gerade hier aber anbieten würde. Hier könnte man einige Ergänzungen vornehmen, wie bspw. Schabowskis Notizzettel der Pressekonferenz (Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/dokument-notizzettel-schabowski.html).
Weitere Ergänzungsmöglichkeiten für das abschließende Blatt zur Frage der Wiedervereinigung wäre ein 45-minütiges Feature vom Deutschlandfunk über die erste nicht genehmigte Demonstration am Berliner Alexanderplatz am 04.11.1989, die die damaligen Ziele thematisiert (Externer Link: https://www.deutschlandfunkkultur.de/aufbrueche-im-osten-die-ddr-vor-der-wende-3-3-bleibt-auf.3720.de.html?dram:article_id=456527). Eine ebenso mögliche Erweiterung dieser Frage ließe sich mit dem Aspekt "critical westness" diskutieren, der pünktlich zum 30 Jahrestag des Mauerfalls die Runde macht (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/critical-westness). Auch ohne die Ergänzungen ist das Material für den Einsatz im Unterricht geeignet, vor allem weil es mit knappen Darstellungen, guten Visualisierungen und reproduzierenden Aufgaben ein Funktionieren des Unterrichts ermöglicht.
Ergänzungswürdig aus Perspektive des Geschichtsunterrichts ist aber vor allem, dass keine schriftlichen Quellen vorkommen und auch eine Quellenarbeit im engeren, wie weiteren Sinne ausbleibt. Hier wäre vor allem Platz für die personalisierende Quellen, die die Sicht von oben durch die Sicht von unten ergänzt.
Auf der anderen Seite böte das Material in der Reinform zugleich die Chance es mit einem sehr guten Leistungskurs auf der Metaebene auf unterschwellige Thesen und Sinnbildungsangebote zu untersuchen und so das vorhandene Narrativ einzuordnen.
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