Meine zentralen Kriterien zur Modellierung und zur Auswertung von Planspielen sind die drei Dimensionen des Politischen: Policy (Inhalt), Polity (Form) und Politics (Prozess), wie ich sie bereits für meinen einleitenden Beitrag für das „Handbuch Planspiele in der politischen Bildung“ entwickelt habe.
Die Policy-Ebene: Gerechtigkeitsvorstellungen und Rollenprofile
Im Szenario eines Planspiels wird stets ein Konflikt modelliert, dem wiederum gesellschaftliche Problemlagen sowie darauf bezogene kontroverse Interessen und Lösungsvorschläge zugrunde liegen. Die Akteur*innen (Rollen bzw. Personas) müssen also möglichst die typischen Konfliktlinien des gewählten institutionellen Kontextes (Kommunal-, Regional- oder National-Parlament, internationale Organisation, Wirtschaftsunternehmen, Bürgerrat ...) verkörpern. Die Konfliktlinien zur sozialen Ungleichheit abzubilden, hieße auf unser Beispiel bezogen, nicht parteipolitische Positionen, sondern idealtypisch konzipierte maximal kontrastive lebensweltliche Haltungen zugrunde zu legen.
Dies erfüllen echte Bürgerräte bereits, da dort per Los eine repräsentative Zufallsauswahl der Bevölkerung getroffen wird. Damit konnten in unserem Planspiel die Rollen absichtlich so angelegt werden, dass sie einen exemplarischen Querschnitt durch die sozialen Milieus der Bundesrepublik abzubilden erlauben. Ich habe dabei angeregt, das von mir weiterentwickelte Modell des Parteienforschers Herbert Kitschelt zu nutzen, den politischen Kompass, der die typischen soziokulturellen und distributiven Konfliktlinien der Gesellschaft a) mit fünf verschiedenen Grundorientierungen (wenn man die Neue Rechte mitzählt) und b) mit typischen Berufsgruppen verbindet, die diese Werteorientierung präferieren.
Der Zusammenhang zwischen Beruf und politischer Haltung wird laut Kitschelt über Handlungsspielräume und Marktabhängigkeit hergestellt. Damit ist nach Pierre Bourdieu jeweils auch unterschiedliches ökonomisches (Einkommen), soziales (Beziehungen), kulturelles (Wissen, Kompetenzen, Sprache, Bildung) und symbolisches Kapital (Prestige, Ehre, Ansehen) verbunden. Diese über die reine Einkommensfrage hinausgehenden Kapitalformen habe ich gleich zu Beginn der Begutachtung zu ergänzen vorgeschlagen. Sie finden sich nun in den Rollenkarten wieder, die mittlerweile aus meiner Sicht überzeugende exemplarische soziale Profile darstellen. Sie werden bereits im Einstieg über das Positionsspiel „Ein Schritt nach vorne“ praktische Bedeutung erlangen. (…)
Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht immer um idealtypische und tendenziell vorfindbare Werte-Tendenzen bestimmter Berufsgruppen, nicht um konkrete Individuen, denen man aufgrund ihrer Lebenslage keineswegs pauschal und automatisch eine Orientierung zuschreiben kann. (…)
Polity als Handlungsrahmen: Der Bürgerrat als „institutioneller“ Verhandlungsort
Durch die Wahl der Institution und ihrem Regelwerk wird der simulierte Handlungsrahmen und Handlungsort eines Planspiels bestimmt. Dazu gehören Zeiten, Abläufe sowie die Regeln der Verhandlungsprozesse selbst bis hin zum den Modi der abschließenden Entscheidung(en). Geschäftsordnungen inklusive Rederechte und Entscheidungsverfahren müssen also den Spieler*innen vorliegen. Die jeweiligen Geschäftsordnungen bestimmen, welche Akteur*innen in welcher Form, an welchen Orten und zu welchen Zeitpunkten Anträge stellen, sprechen und abstimmen dürfen. Den übergeordneten Rahmen bilden Rechtsordnungen und Verfassungen, die die Befugnisse der beteiligten Institutionen definieren.
Nun ist ein Bürgerrat keine Institution, die verbindlich in das parlamentarische Gefüge integriert wäre. Daher fragt sich, wie damit eine Nähe zu Parlamenten und ihren Entscheidungen simulativ hergestellt werden kann. Um für die Spieler*innen eine Brücke zur institutionellen Politik zu schlagen, ist eine klare institutionelle Rahmung und Rollen-Haltung der Spielleitung nötig (…).
Erstens wird (auch bisher schon) den Spieler*innen zu Beginn des Planspiels erklärt, dass der Bürgerrat die bekannte und seit der Corona-Pandemie enorm zunehmende Politikverdrossenheit aufgreift als vorherrschendes Gefühl, politische Eliten kümmerten sich nicht ausreichend um die Bedürfnisse und Ideen aus dem Volk – bekanntlich das Einfallstor für populistische Parteien.
Zweitens sollte den Teilnehmer*innen deutlich werden, dass die Verhandlungen im Bürgerrat selbst bereits typische Regeln (vereinfachte Geschäftsordnungen) der Demokratie verkörpern, die ein faires Miteinander trotz deutlicher Kontroversen ermöglichen und erleichtern. Hier ist die Rolle der Moderator*innen auch zugleich als Bewahrer*innen demokratischer Diskussionskultur angelegt: Sich ausreden lassen, nicht zu viel reden, Schweigende aktiv einbeziehen sowie für einen klaren thematischen Ablauf sorgen und den roten Faden im Auge behalten (…).
Politics als rollenbasierter Argumentationsprozess in der Verhandlungsphase
Die politics-Ebene von Planspielen kennzeichnet das Herzstück eines jeden Planspiels: die Verhandlungsphasen. Dazu gehört die vorherige Modellierung der strategischen Interaktion der Akteur*innen, ihrer formellen und informellen Druck- und Machtmittel, ihrer Verhandlungstaktik, möglicher Kuhhandel-Optionen, Kompromisse usw. Dieser taktische, rhetorische und machtbezogene Kern sollte bereits in den Rollenkarten enthalten sein, um die institutionellen Aushandlungsprozesse möglichst realistisch zu gestalten. Denn sie sind das neuralgische Zentrum der Methode Planspiel. Diese Phase steht und fällt mit der Bereitschaft und Fähigkeit der Teilnehmer*innen, sich auf ihnen fremde, unbekannte oder gar unangenehme Rollen einzulassen.
Insgesamt können die bisher erprobten Verhandlungsrunden als Erfolg bezeichnet werden: So gut wie alle Schüler*innen loben in den Fragebögen insbesondere die Verhandlungsphase im Bürgerrat und wünschen sich teilweise sogar mehr Zeit dafür. Die lernpsychologisch bekannte intrinsische Motivationswirkung der Rollenübernahme und des Spielens schien sich auch hier zu bestätigen. Auch, dass die Rollen lebensweltliche waren, kam überwiegend gut an, von manchen wurden sogar ausführlichere biografische Informationen zu ihrer Rolle gewünscht. Sehr hilfreich waren dabei die anfänglichen Fragen an die eigene Rolle, die mit geschlossenen Augen im Stil einer Gedankenreise still beantwortet wurden:
Wie war oder ist deine Kindheit? Wie sah der Ort aus, an dem du aufgewachsen bist oder gerade aufwächst? Wer ist deine Familie? Was haben deine Eltern gearbeitet oder was arbeiten deine Eltern gerade? Wie sieht dein Alltag heute aus? Wo triffst du dich mit Freundinnen und Freunden? Was machst du morgens, nachmittags, abends? Was machst du in deiner Freizeit? (…)