Oft werden Schülerinnen und Schüler von Haupt- und Realschulen stigmatisiert – wie dies etwa die folgende Sammlung von zugeschriebenen Eigenschaften seitens der Multiplikatoren auf einer DBAW-Fortbildung zeigt:
Stichworte
"verweigerndes Verhalten", "Motivationsprobleme", "unkonzentriert", "geringes Vorstellungsvermögen", "Hemmungen sich einzubringen", "fehlendes Vorwissen", "fehlendes Durchhaltevermögen", "störendes Verhalten" und "erst mal zuschauen, dann eventuell mitmachen".
Die gesellschaftlichen Vorurteile zwischen Abitur und Mittlerer Reife lassen sich auch anders sehen. (© Zeit.de)
Die gesellschaftlichen Vorurteile zwischen Abitur und Mittlerer Reife lassen sich auch anders sehen. (© Zeit.de)
Diese zu Vorurteilen einladende Abfrage der Fortbildungsteilnehmenden wurde dafür genutzt, die eigene verzerrte Wahrnehmung als solche zu reflektieren und sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Dass aber zum Beispiel der soziale Kompetenz- bzw. Gruppenzusammenhalt dieser Zielgruppe recht hoch ist, und viele im Gegensatz zu Studierenden viel früher "selbstständig" im Berufsleben stehen – um bei einem pauschalisierenden Blick zu bleiben –, wird auf Anhieb nicht genannt.
Das Bildungsprogramm DBAW richtet sich also an die Zielgruppe sogenannter "bildungsbenachteiligten" Jugendlichen, doch was steht hinter diesem Begriff? Laut Nationalem Bildungsbericht 2010 sind Kinder und Jugendliche bildungsbenachteiligt, wenn einige der folgenden Risikofaktoren zutreffen:
geringes Einkommen oder Arbeitslosigkeit der Eltern
schwierige Wohnverhältnisse, die ungünstige Lernumgebungen schaffen
Benachteiligungen im Zusammenhang mit Migrationshintergründen
Aufwachsen bei nur einem Elternteil.
Nach wie vor scheinen in Deutschland – wie zuletzt im
Der ehemals gebrauchte Begriff "bildungsferne" Jugendliche personalisierte diese Problemlagen. Heutzutage ist er dem Begriff "bildungsbenachteiligte" Jugendliche gewichen. Er macht stärker auf die strukturell-gesellschaftliche Perspektive aufmerksam, bleibt aber dennoch stark defizitorientiert und hinkt am einseitig schulischen Bildungsbegriff. Fernab von persönlicher Stigmatisierung dagegen erscheint der im aktuellen Bildungsbericht verwendete Terminus von "Risikolagen"
Die Zielsetzungen der demokratischen Bildungsreformen der 1960er und 1970er mit allgemeiner Chancengleichheit, die auch individuelle Förderung verlangt, scheinen noch in weiter Ferne.
Bedeutung der sozio-ökonomischen Herkunft
"In kaum einem anderen Industriestaat [entscheidet] die sozio-ökonomische Herkunft so sehr über den Schulerfolg und die Bildungschancen wie in Deutschland."
Quelle: bmbf.de (Externer Link: https://www.bmbf.de/de/internationale-vergleichsstudien-1229.html), letzter Aufruf 15.09.2017
Insbesondere Jugendliche, die mit einer anderen Muttersprache als Deutsch aufwachsen, verfügen nicht über dieselben Chancen, wie andere. Ein zentraler Grund dafür, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund an niedriger qualifizierenden Schulen stark überrepräsentiert. Dies liegt zum Beispiel an der fehlenden sprachlichen Unterstützung in Kindertagesstätten und Grundschulen. Dieser "monolinguale Schulhabitus"
"Scheiß auf Politik" – Rap von Jugendlichen (DBAW-DVD). In diesem Video zeigen zwei Jugendliche kontroverse Sichtweisen auf Politik. (© DBAW-Video)
"Scheiß auf Politik" – Rap von Jugendlichen (DBAW-DVD). In diesem Video zeigen zwei Jugendliche kontroverse Sichtweisen auf Politik. (© DBAW-Video)
Nach eigener Recherche zu dieser Zielgruppe
mit wenigen Vorkenntnissen spielbar,
attraktiv durch die zentrale Rolle der Medien und
mit geringeren sprachlichen Barrieren für weite Zielgruppen.
DBAW möchte die scheinbare Alternativlosigkeit sogenannter "bildungsbenachteiligter" Jugendlichen aufweichen, was sich im pädagogischen Ansatz widerspiegelt. Es geht darum, dass die Jugendlichen Lernerfahrungen sammeln, die die erlebte Selbstwirksamkeit fördern und den gefühlten "Graben" zur etablierten Politik verkleinern. Ressourcenorientiert möchte DBAW die Jugendlichen im Planspiel
in ihrer Selbstwahrnehmung als "Akteure" fördern,
neue Handlungsstrategien für eigene Positionen zu entwickeln helfen,
strukturelle Perspektiven auf das Gesellschaftliche vorstellen, um
Bestehendes zu hinterfragen und
neue gesellschaftliche Räume wie Handlungsoptionen in der Simulation kennenzulernen (wie z. B. das Rathaus, Formen politischer Beteiligung wie Unterschriftensammlung etc.).
Es geht also um eine Auseinandersetzung mit dem Politischen, die hilft, die eigene Position im Gesellschaftlichen zu hinterfragen und neben der persönlichen Verantwortung auch Perspektiven auf strukturelle Aspekte von Macht kennenzulernen.
Recherche-Ergebnisse zur Zielgruppe
Eigene Recherchen zu dieser Zielgruppe
Die Jugendlichen verfügen über implizite Vorstellungen von Demokratie und halten mehrheitliche Abstimmungen für ein legitimes Mittel der Politik.
Sie lehnen mehrheitlich diktatorische oder extreme Herrschaftsformen ab.
Sie legen besonderes Gewicht auf eine möglichst gerechte Lebensform.
Sie unterschätzen sehr stark ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten bei der Entwicklung politischer Verhältnisse.
Sie tragen ein implizites Bild der kulturellen Strömungen unserer Zeit mit sich: eine Mixtur aus gemeinsamen Grundüberzeugungen, Widersprüchen und Ambivalenzen.
Sie zeigen sich leicht beeinflussbar durch Außensichten, Vorbilder, Führerpersönlichkeiten und mediale Settings.
Ausgehend von diesen Erkenntnissen orientierte sich das Bildungsprogramm DBAW wie folgt:
Den sogenannten "bildungsbenachteiligten" Jugendlichen ist eine eigenständige Auseinandersetzung mit politischen Themen und Prozessen innerhalb einer stark handlungsoffenen Methode Planspiel durchaus zuzutrauen.
Wichtig ist, dass einseitige Perspektiven auf "die" Gerechtigkeit in der Reflexion mit aufgebrochen und um weitere Sichtweisen innerhalb der Gruppe ergänzt werden. Kurz: Verschiedene Ansichten auf Gerechtigkeit(en) innerhalb dieser Zielgruppe müssen geschützt werden.
Um Lernprozesse der eigenen Selbstwirksamkeit nachhaltig anzuregen, sollten die Jugendlichen im Spielverlauf selbstständig als Akteur_innen Verantwortungsübernahme übernehmen.
Innerhalb des Spielverlaufes sollten stets Situationen geschaffen werden, die einmal etablierte Machtaufteilungen ("Führerpersönlichkeiten" und "Mitläufer") kritisch hinterfragen und diese Dynamiken herausfordern.
Weitere Informationen:
bpb.de / Aus Politik und Zeitgeschichte: Joachim Detjen: Politische Bildung für bildungsferne Milieus (2007):
bpb.de / Aus Politik und Zeitgeschichte: Benedikt Sturzenhecker: "Politikferne" Jugendliche in der Kinder- und Jugendarbeit (2007):
bpb.de: Politisches einfach erklärt: Webseiten: http://www.bpb.de/lernen/projekte/inklusiv-politisch-bilden/204007/politisches-einfach-erklaert-webseiten
Quellen
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Flam, Helena / Kleres, Jochen (2007): Gesetze, institutionelle Rahmenbedingungen und Orientierungen, in: Flam, Helena (Hg.) (2007): Migranten in Deutschland. Statistiken – Fakten – Diskurse. Konstanz. UVK Verlagsgesellschaft, S.64-86.
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Szczesny, Markus; Watermann, Rainer Differenzielle Einflüsse von Familie und Schulform auf Leseleistung und soziale Kompetenzen Journal for educational research online 3 (2011) 1, S. 168-193. Online unter: Externer Link: http://www.pedocs.de/volltexte/2011/4687/pdf/JERO_2011_1_Szczesny_Watermann_Differenzielle_Einfluesse_S168_D_A.pdf.
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Reich, Kersten (2005): Medial vermittelte politische Bildung bei bildungsfernen Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus systemisch-konstruktivistischer Sicht, Köln.
Roth, Hans-Joachim (2005): Medial vermittelte politische Bildung bei bildungsfernen Jugendlichen mit Migrationshintergrund, Köln.