Hintergrund
Im September 1992, nur wenige Wochen nach den pogromartigen Ausschreitungen gegen die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber sowie die Wohnungen (ehemaliger) vietnamesischer Vertragsarbeiter/-innen im so genannten ‚Sonnenblumenhaus’ in Rostock-Lichtenhagen, kam es auch in Quedlinburg zu gewalttätigen Übergriffen auf eine Unterkunft für Flüchtlinge. Anders jedoch als in Rostock formierte sich damals in der im Nordharz gelegenen Stadt eine Gruppe von Engagierten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Spektren, die sich schützend vor das Wohnheim stellten. Bei den rassistischen Ausschreitungen gab es mehrere Verletzte. Selbst Rettungskräfte wurden aus der Menge heraus attackiert. Im Windschatten der Ereignisse von Rostock und bereits im Jahr zuvor im sächsischen Hoyerswerda (1991) sind diese Vorfälle indessen weitgehend in Vergessenheit geraten. Das damalige Geschehen nach 20 Jahren wieder ins Gedächtnis der Öffentlichkeit zu rufen und Anstöße zu einer kritischen Erinnerungskultur zu geben, war daher das Ziel des vom Quedlinburger Kulturzentrum Reichenstraße getragenen Projekts "Erlebt und vergessen?!"
Inhalt und Verlauf des Projekts „Erlebt und ergessen?!“
Initiator/-innen und Akteur/-innen des Projekts waren in erster Linie Jugendliche aus Quedlinburg, die das Geschehen im September 1992 allenfalls als Kinder miterlebt hatten. Bereits in den ersten Überlegungen wurde deutlich, dass die Auseinandersetzung mit den damaligen rassistischen Ausschreitungen, aber auch mit dem couragierten Auftreten einiger Bürger/-innen, die sich gewaltfrei, den Randalierer/-innen entgegenstellten, nicht in „historisierender“ Form erfolgen sollte. Vielmehr ging es den Jugendlichen darum, mit ihrem Projekt in der regionalen Öffentlichkeit Diskussionen anzustoßen, nicht nur über das Verhalten der im September 1992 Beteiligten, sondern auch über die Frage, wie jede/r Einzelne, die Politik, Verwaltung und Behörden heute reagieren würden, sollte es zu ähnlichen Übergriffen wie vor 20 Jahren kommen.
Die Jugendlichen entschlossen sich, eine breite Öffentlichkeit über das Medium „Film“ anzusprechen. Auf diese Weise entstand die Idee, einen Dokumentarfilm mit dem Titel „Erlebt und vergessen – 6 Tage im September“ zu produzieren, der anlässlich des 20. Jahrestages der Ausschreitungen eine Woche lang an verschiedenen Orten in der Quedlinburger Innenstadt gezeigt werden sollte.
In einem ersten Schritt begannen die Akteur/-innen des Projekts mit einer breit angelegten Spurensuche. Die Namen der damals beteiligten Personen wurden recherchiert, um Ansprechpartner/-innen für Zeitzeugeninterviews zu finden. In dem Dokumentarfilm sollten vor allem die unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen jener Beteiligten zum Ausdruck kommen, die damals den Mut gefunden hatten, sich für den Schutz der Flüchtlinge zu engagieren. Aber auch Zeitungsartikel und Filmberichte über die Ausschreitungen fanden Eingang in die Materialsammlung, die letztendlich die Grundlage für den 15-minütigen Film lieferte, der von den Jugendlichen selbst geschnitten und bearbeitet wurde.
Bereits während der Vorbereitungen hatten die Projektbeteiligten zahlreiche Kontakte geknüpft, um die Vorführung von „Erlebt und vergessen?!“ in Quedlinburg vorzubereiten. Demnach gab es rechtzeitige gemeinsame Planungen und Absprachen mit der städtischen Verwaltung, um mögliche technische und administrative Hürden aus dem Weg zu räumen. Zudem suchten die Jugendlichen den Kontakt zum „Runden Tisch gegen extrem rechte Gewalt“, um den Film in Rahmen der Projekte von „Stadt ohne Rassismus – Stadt mit Courage“ zu platzieren. Schon zu einem frühen Zeitpunkt wurde auch der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) informiert, der die Jugendlichen bei der Umsetzung des Projekts begleitete und über deren Engagement in der Vorabendsendung „Geschichte Mitteldeutschlands“ berichtete.
Die öffentlichen Vorführungen des Films in Quedlinburg, meist nach Einbruch der Dunkelheit, stießen auf breite Resonanz sowohl in der Bevölkerung als auch in den Medien. Die Reaktionen waren überwiegend positiv. Das Ziel der Projektakteur/-innen, mit dem Film einen Gesprächsanlass über die Ereignisse vom September 1992 zu bieten, wurde weitgehend erreicht. Befürchtungen, dass die Filmvorführungen beispielsweise durch Neonazis gestört werden könnten, erfüllten sich glücklicherweise nicht. Nur vereinzelt kam es zu Beschwerden, etwa wegen angeblicher „Ruhestörung“. In einem Fall kappte ein junger Mann kurzfristig das Stromkabel, konnte damit die Vorführung jedoch nicht verhindern.
Flankiert wurde die Präsentation des Films von zwei weiteren Veranstaltungen. Zum einen durch eine Podiumsdiskussion, an der Vertreter/-innen des Innenministeriums des Landes Sachsen-Anhalt, der Kirche sowie der örtlichen Zivilgesellschaft teilnahmen. Zum anderen wurde ein Zeitzeugengespräch organisiert, in dem drei damals Beteiligte von ihren Erfahrungen im September 1992, aber auch über die spätere persönliche Verarbeitung des Erlebten berichteten. Beide Veranstaltungen waren mit bis zu 90 Zuhörer/-innen sehr gut besucht.
Zum Gelingen des Projekts „Erlebt und vergessen?!“ trugen mehrere Aspekte bei. Zum einen griffen die Jugendlichen mit den rassistischen Ausschreitungen vom September 1992 ein Thema auf, das bis dahin zwar in der öffentlichen Erinnerungskultur der Region allenfalls eine randständige Rolle spielte, latent jedoch in den persönlichen Erinnerungen vieler der damals Beteiligten weiterhin präsent war und ist. Die Jugendlichen näherten sich also einer Geschichte, die gleichsam „noch qualmte“ (Barbara Tuchmann) und über die zahlreiche Zeitzeug/-innen berichten konnten. Die am Projekt beteiligten Jugendlichen, konnten sich demnach auf unterschiedlichen Wegen dem Thema nähern und auf eine breite Palette an Quellen und Dokumenten sowie auf weitere historische Spuren zurückgreifen. Diese Multiperspektivität wiederum förderte die erklärte Absicht, über die damaligen Ereignisse nicht zuletzt in einen intergenerationellen Dialog zu treten, der im Hinblick auf das historische Geschehen etwa in der Zeit des Nationalsozialismus aufgrund des sich immer deutlicher abzeichnenden Endes der „Zeitzeugenschaft“ zunehmend seltener möglich sein wird.
Von zentraler Bedeutung war zudem, dass die Initiator/-innen von Beginn an den Kontakt zu zahlreichen Akteur/-innen, Institutionen und Initiativen vor Ort suchten. Dies steigerte zum einen die Akzeptanz des Projekts, zum anderen dessen Resonanz. Durch die transparente Vermittlung des Vorhabens wurden schon von Beginn an etwaige Ressentiments und Berührungsängste abgebaut oder reduziert. Organisatorische Herausforderungen konnten somit auf unterschiedliche Schultern verteilt werden. Nicht zuletzt erschlossen sich die Jugendlichen auch finanzielle Ressourcen, um das Projekt umzusetzen. „Erlebt und vergessen?!“ wurde von der Stiftung „Demokratische Jugend“ durch das Programm „Zeitensprünge“ unterstützt. Unter dem Motto „Erfragen – Entdecken – Dokumentieren“ fördert das Programm Geschichtsprojekte in den neuen Bundesländern, bei denen sich Jugendliche auf historische Spurensuchen zu unterschiedlichen Epochen und Themenfeldern in ihrem lokalen Umfeld begeben. Doch auch in anderen Regionen Deutschlands gibt es Fördermöglichkeiten für von Jugendlichen getragene schulische und außerschulische Geschichtsprojekte (vgl. Weiterführende Unterstützung/Hilfen in der Linkliste).
Weitere Informationen zum Projekt „Erlebt und vergessen?!“ finden sich unter folgenden Links:
Dachverein Reichenstraße e.V., Quedlinburg:Externer Link: http://www.reichenstrasse.de
MDR-Bericht über „Erlebt und vergessen?!“: Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=V8R0-gx-Vw0
Stiftung Demokratische Jugend – Das Jugendprogramm Zeitensprünge: Externer Link: http://www.jugendstiftung.org/foerderung/jugendprogramm_zeitenspruenge/index.html
Eigener Text von Heiko Klare und Michael Sturm (Externer Link: mobim)
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