Ich kann es nicht mehr hören, die ständige Debatte darüber, ob wir Kinder von Einwanderern nicht irgendwie zwischen den Stühlen sitzen? Nein, ich fühle mich nicht so, vielmehr sitze ich in einem Sessel, der mit feinen türkischen Stoffen bezogen und in echter deutscher Wertarbeit hergestellt worden ist.
Wie ich jetzt auf das "Zwischen-den-Stühlen-Ding" komme? Gestern Abend lief bei mir in der Küche wieder das Radio. Und während ich den abendlichen Tee vorbereitete, hörte ich mir eine Diskussionsrunde über die Integration von jungen Türkinnen und Türken in Deutschland an:
"Wie ist das denn bei Ihnen, Sevim? Haben Sie das Gefühl, zwischen zwei Kulturen zu leben?", fragte die Moderatorin mit einfühlsamer Stimme.
"Also, früher in der Schulzeit, da war es schwierig, mit den deutschen Freundinnen mitzuhalten, was Weggehen angeht und so", antwortete die junge Frau selbstsicher. "Aber heute ist das zum Glück anders. Ich picke mir die Dinge aus der jeweiligen Kultur heraus, die mir wichtig und lebenswert erscheinen."
Und so geht's nicht nur Sevim. Ich empfinde das Leben mit der deutschen und der türkischen Kultur eher als eine Bereicherung denn als eine Belastung. Doch die positiven Seiten geraten meist in Vergessenheit, wenn so manche "deutsche Ureinwohner" bestrebt sind, Kinder von Einwanderern wegen ihrer vermeintlichen kulturellen Identitätslosigkeit zu bemitleiden. Schließlich ist das ja auch einfacher als zu akzeptieren, dass wir meist einen deutschen Pass haben und uns sowohl in der deutschen als auch in der türkischen Kultur zu Hause fühlen.
Gut, das Ganze besteht nicht nur aus Vorteilen. Sevim hat es auf den Punkt gebracht: Da war doch noch die Schulzeit, die gerade am Wochenende bedrückend sein konnte - zum Beispiel immer dann, wenn sich die gesamte Klasse am Samstagabend traf und für mich ein Diskobesuch ohne beschützende männliche Begleitung nicht infrage kam. Das hätte mein Vater nie erlaubt, auch wenn er für damalige Türkische-Väter-Verhältnisse recht liberal war. So weit wollte er es dann doch nicht kommen lassen. Denn türkische Eltern der ersten Generation kennen Diskotheken meist nur aus alten türkischen Filmen. Und da werden jungen Mädchen heimlich ominöse Drogen in die Cola geworfen, dann werden sie verschleppt, vergewaltigt und landen im Bordell oder als drittklassige Sängerin in einer verruchten Bar.
Es ist wohl gerade diese Zeit, in der sich vor allem türkische Mädchen und junge Frauen zwischen den Kulturen fühlen. Doch mit wachsendem Selbstbewusstsein und mit stärkerer Entscheidungsfreiheit lassen sich beide Kulturen gut vereinen: zu Hause, beim großen Familientreffen, bei dem es bewusst eher türkisch zugeht, im Büro, wo ich es genieße, deutsch zu sprechen, oder in der Freizeit, in der ich mit meinem Mann Backgammon spiele, tanzen gehe oder deutsch-türkische Freunde besuche.
Dass ich mich aber nie als Deutsche fühlen werde, obwohl ich seit zehn Jahren den deutschen Pass habe und im Ruhrgebiet geboren wurde, liegt sicherlich nicht nur an meiner inneren Haltung. Letzten Endes machen mir "deutsche Ureinwohner" immer wieder klar, dass ich keine Deutsche bin. Zum Beispiel dann, wenn es um Vorurteile geht. [...]
"Warum fühlen wir uns eigentlich mehr türkisch als deutsch?", fragte mich letztens meine Freundin Buket, während wir miteinander telefonierten. Buket arbeitet als Deutsch- und Geschichtslehrerin an einer Gesamtschule und ist, so wie ich, in Deutschland geboren. Ich nahm den Hörer auf die andere Seite und blickte nachdenklich auf den Wald vor unserer Terrasse. Liegt es an uns oder an der deutschen Gesellschaft? Wir kamen ins Grübeln. Einig waren wir uns darüber, dass wir nie als Deutsche gesehen würden.
"Woher kommen Sie?", werde ich oft gefragt, worauf ich dann meist antworte: "Aus dem Ruhrgebiet."
"Nein, wo sind Sie geboren?", geht es dann weiter.
"In Bochum!", sage ich selbstsicher, wohingegen mir kopfschüttelnd die nächste Frage gestellt wird.
"Ihre Eltern, aus welchem Land sind die?", wird dann mein Gegenüber langsam ungeduldig. Und schließlich kommt nach meiner Antwort die Erleichterung: Ja, wusste ich es doch, Sie sind Türkin!" Und da kannst du noch so gut die deutsche Sprache sprechen, den deutschen Pass besitzen oder in diesem Land geboren sein! Eine volle Akzeptanz existiert in der deutschen Gesellschaft nun mal nicht. Und auf der anderen Seite stellt sich bei mir die Frage: Will ich überhaupt als Deutsche wahrgenommen werden?
Seit die Diskussion um die Integration von Türken im vergangenen Jahr erneut angefacht wurde, sprechen Buket und ich immer öfter über dieses Thema. Jeder Urdeutsche würde uns als voll integriert bezeichnen. Schließlich hockt Buket ganz selbstverständlich mit ihrer Familie Heiligabend unter dem geschmückten Weihnachtsbaum, während ich mich mit Grönemeyers "Bochum, ich komm aus Dir" bestens identifizieren kann. Das sind Gewohnheiten und Gefühle, die sich in all den Jahren entwickelt haben. Ebenso wie das Bemalen von Eiern zu Ostern oder die weihnachtliche Dekoration im Haus am Ende des Jahres. Nachdenklich werde ich erst bei der Frage: "Wann geht's denn wieder zurück in die Heimat?", die manche älteren Deutschen gerne mal stellen. Doch zu Hause ist für mich dort, wo ich lebe und arbeite, dort, wo Familie und Freunde sind, der Ort, mit dem ich eine lange und tiefe Verbindung habe.
Plötzlich fallt mir meine frühere Nachbarin Frau Althuber ein, die mich nach jedem Urlaub fragt: "Na, wie war es denn inne Heimat?"
Die 84-jährige Dame ist immer noch felsenfest davon überzeugt, dass Urlaub à la Turca darin besteht, den Ford Transit bis oben hin voll zu packen und drei Tage lang durch die Walachei zu fahren, um dann in irgendeinem Dorf mit Schafen und Eseln, abgeschnitten von jeglicher Zivilisation, Baumwolle zu pflücken und Hammelfleisch zu essen.
"Frau Althuber", sage ich, "ich bin hier geboren, da kann man nicht von Rückkehr sprechen."
Jetzt ist die alte Dame völlig konfus. Schließlich kennt sie nur den Gastarbeiter Toni, der früher bei ihr zur Untermiete gewohnt hat und eigentlich nur fünf Jahre in Deutschland bleiben wollte, um dann in sein sizilianisches Dorf zurückzukehren. Aber Toni hat seine Frau Maria aus Italien nachgeholt. Dann haben sie hier noch zwei Kinder bekommen und leben jetzt in Recklinghausen. Und all die Tonis und Hasans sind nun mal keine Gastarbeiter mehr. Ihre Kinder fühlen sich in Recklinghausen, Köln und Bochum zu Hause; ebenso lieben sie aber den Strand in Antalya oder in Rimini und freuen sich auf die Oma in Istanbul.
Unsere Pässe sind mittlerweile deutsch und unsere Herzen fühlen türkisch. Für mich ist das ein Kultur-Zapping der feinen Art:
Mal bedienen wir uns der deutschen Lebensform, mal genießen wir die Vorteile, die die türkische Kultur bietet.
Und während die einstündige Radiosendung sich dem Ende neigt, wird mir klar: Nein, ich sitze nicht zwischen den Stühlen, sondern in meinem breiten Sessel aus feinen türkischen Stoffen, hergestellt in deutscher Wertarbeit. Und es sitzt sich gut auf diesem deutsch-türkischen Sessel, vor allem dann, wenn es türkischen Tee und deutschen Kuchen dazu gibt!
Aus: Canan Büyrü: Macht der Kulturen, in: Acevit, Aysegül/Bingül, Birand, Was lebst Du? Jung, deutsch, türkisch - Geschichten aus Almanya, München 2005, S. 229-233.
Aufgaben:
Wie empfindet Canan Büyrü das Leben mit zwei Kulturen?
Welche Probleme/ Nachteile und welche Chancen/ Vorteile schildert sie?
Welche zwei Modelle im Umgang mit einem multikulturellen Hintergrund werden aufgezeigt? Welches ist die "Lösung" von Canan Büyrü? Welches würdest du - hättest du einen multikulturellen Hintergrund - bevorzugen? Eins der beiden oder gar ein ganz anderes?