Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Zu- und Einwanderungsland. Diesen Sachverhalt anzuerkennen und politisch und rechtlich auszugestalten - damit hat sie sich lange Zeit schwer getan. Nach den ersten Reformen des Ausländergesetzes 1990 und 1993 sowie der Öffnung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts für Zuwanderer im Jahre 2000 trat im Jahr 2005 das Zuwanderungsgesetz in Kraft.
Dank des Statistischen Bundesamtes haben wir kurz danach erfahren: Jedem fünften in Deutschland lebenden Menschen ist die Zuwanderung in die Familienbiographie eingeschrieben. Und für die Zukunft steht fest, dass die demographischen Ungleichgewichte einer alternden Bevölkerung zwar durch Zuwanderung allein nicht korrigiert, einige ihrer problematischen Folgen für Wirtschaft, private Haushalte und die sozialen Sicherungssysteme aber doch abgemildert werden könnten, wenn es denn bei einer positiven Wanderungsbilanz bliebe. Damit zeichnet sich ab: Es gibt keine Alternative zur Integration von Migrantinnen und Migranten. Sie werden gebraucht, und sie sind umgekehrt ihrerseits an ihrer Integration interessiert, geht es dabei doch um den Zugang zu den für die Lebensführung wichtigen gesellschaftlichen Bereichen wie Bildung, Arbeit, Gesundheit, Wohnung, Recht und Sicherheit.
Es kann daher fast nicht mehr erstaunen, dass sich gegenwärtig alle um Integration als politisches Symbol versammeln. Zwischenzeitlich öffentlichkeitswirksam kommunizierte Übertreibungen, denen zufolge überall Anzeichen für das Scheitern der Integration auszumachen sind, haben den von Kanzlerin Angela Merkel einberufenen Integrationsgipfel provoziert; und mittlerweile ist in zahlreichen ministeriellen Arbeitsgruppen am nationalen Integrationsplan gearbeitet worden. Die List der Vernunft hat offenbar die Migrations- und Integrationsskeptiker zu den Beförderern genau der politischen Anstrengungen werden lassen, welche von den Befürwortern lange vergeblich angemahnt wurden. Aber politische Konjunkturen sind vergänglich. Will man auf den Feldern von Migration und Integration nicht die Übersicht verlieren, empfiehlt es sich, Fragen der gesellschaftlichen Integration von Migranten, Möglichkeiten ihrer politischen Gestaltung und symbolische Politik auseinander zu halten:
Der Grad der gesellschaftlichen Integration von Migranten gibt - soziologisch gesehen - im Kern Antwort auf die Frage, in welchem Ausmaß es diesen gelingt, an den für die Lebensführung bedeutsamen gesellschaftlichen Bereichen teilzunehmen, also Zugang zu Arbeit, Erziehung und Ausbildung, Wohnung, Gesundheit, Recht, Politik, Massenmedien und Religion zu finden. Die moderne Gesellschaft mutet allen Individuen - nicht nur Migranten - zu, dies eigenständig und in Ausrichtung an den in den verschiedenen Bereichen jeweils gültigen Anforderungen zu realisieren. Integration bezeichnet daher eine Problemstellung, mit der unterschiedslos alle Menschen konfrontiert sind. Dabei ist kein Individuum auf Dauer in "die Gesellschaft" als solche integriert. Integration erfolgt stets nur auf Zeit in die jeweils bedeutsamen sozialen Zusammenhänge, und sie gelingt keineswegs selbstverständlich, wie die jüngste Debatte um "das abgehängte Prekariat" zeigt; jedes Individuum muss sich ggf. stets aufs Neue darum bemühen.
Ausschlaggebend für den Verlauf von Integration sind die Bedingungen, unter denen die Individuen sich dieser modernen Zumutung stellen. Diese betreffen einerseits die sozialen Anforderungen, wie sie auf Märkten, im Erziehungssystem, im Recht, in der Politik oder im Gesundheitswesen gültig sind, andererseits die den Individuen zur Verfügung stehenden materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen. Das gilt zunächst für alle. Migrantinnen und Migranten unterscheiden sich ggf. von anderen im Hinblick auf ihre individuelle Ausstattung - insbesondere mit kulturellen und sozialen Ressourcen: Sie müssen meist die Verkehrssprache des Zuwanderungslandes, insbesondere die Schriftsprache erlernen, ihr erlerntes Wissen und Können, ihre Wertvorstellungen und normativen Erwartungen gemäß den Anforderungen der Gesellschaft neu ausrichten und erweitern sowie in neue soziale Beziehungen zu relevanten Organisationen und Personen treten, die den Zugang zu den wichtigen Lebensbereichen vermitteln. Ihre mitgebrachten Ressourcen können sich dabei sowohl als Potenziale als auch als Barrieren der Integration erweisen.
Ob Migranten ihre Kompetenzen zur Geltung bringen können, hängt auch von den sozialen Bedingungen und Barrieren ab, auf die sie treffen. Sehen sich Migranten in verschiedenen Bereichen der Integration Anforderungen gegenüber, die für alle gleich gültig sind? Oder treffen sie auf Barrieren, die insbesondere sie benachteiligen, sei es auf dem Arbeitsmarkt beim Zugang zu Arbeitsplätzen, sei es im Bildungssystem hinsichtlich der Vermittlung von Wissen und der Zuweisung von Kompetenz und Karriereaussichten, sei es im Staat beim Zugang zu bürgerlichen und sozialen Rechten, sei es in Kommunen beim Zugang zu Leistungen der Gesundheit, der Beratung und Fürsorge, sei es in Familien hinsichtlich der Ausrichtung auf Erziehung und Ausbildung oder des Knüpfens von Freundschaften.
Die Integration, ihre Verläufe, ihre Erfolge und Misserfolge sind in erster Linie das Ergebnis der Anstrengungen der Migranten, die Anforderungen in den verschiedenen Bereichen zu erfüllen: also in den Arbeit nachfragenden oder Leistungen bereitstellenden Organisationen in Wirtschaft, Erziehung und Ausbildung, Gesundheit, Recht und Politik. Den Migranten und ihren Familien werden trotz und wegen der Freiheit der kulturellen Lebensgestaltung erhebliche Anpassungsleistungen abverlangt. Zugleich sind ihre Erfolgsaussichten aber durch Hürden eingeschränkt, die kaum funktionalen Erfordernissen von Unternehmen, Schulen, Verwaltungen oder Krankenhäusern geschuldet sind, sondern vielmehr der Kontrolle der Arbeitgeber über den Zugang zu Arbeits- und Ausbildungsplätzen, den organisatorischen Alltagsroutinen in Verwaltungen und Schulen oder der Durchsetzungsfähigkeit der Mittel- und Oberschichten in der Konkurrenz um Bildung. Integration heißt auch Konkurrenz um knappe Güter und Irritation organisatorischer Alltagsroutinen durch ein sich wandelndes Publikum. Sie kann nur durch beides hindurch gelingen - und sie kann, weil sie in Unternehmen, Schulen, Krankenhäusern und lokalen Verwaltungen sowie in Familien erfolgen muss, nicht etwa allein oder auch nur vorwiegend politisch verordnet und ebensowenig politisch bewirkt werden. Denn ggf. verdient man Geld in Unternehmen, erwirbt Wissen in der Schule, überwindet Krankheiten mit Hilfe des Arztes und wird geliebt in der Familie.
In der politisch-öffentlichen Diskussion über Migration und Integration muss auf eine solche Selbstverständlichkeit wie die, dass die Politik nicht stellvertretend integrieren kann, immer wieder hingewiesen werden; denn hier trifft man auf einen erstaunlichen Glauben an die Reichweite der Politik, der doch sonst längst abhanden gekommen ist. Es gilt zu unterscheiden zwischen der Frage, welche Möglichkeiten die Politik in der Gestaltung von Integrationsprozessen hat, und welche Bedeutung der Kommunikation von Integrationspolitik als politischem Symbol zukommt. Der Politik stehen im Feld der Integration wie auch sonst im Kern drei Möglichkeiten zur Verfügung: Recht, Geld und mobilisierende "Überredung". Es wird Geld für Integrationskurse bereitgestellt, das Zuwanderungsgesetz legt aber zugleich fest, dass Migranten, die es nötig zu haben scheinen, auch teilnehmen müssen, andernfalls drohen ihnen Sanktionen. Die übrigen Migranten, die nicht mehr zur Teilnahme an diesen Kursen gezwungen werden können, werden durch Kampagnen dazu "überredet".
Integrationspolitik kann, genau betrachtet, aus nichts anderem bestehen als aus solchen Bündeln von Gesetzen, der Bereitstellung von Geld für Programme und Maßnahmen sowie aus "mobilisierenden Überredungen". Diese sind entweder an die Migrantenfamilien und ihre Integrationsressourcen - Sprache, Wissen und Können, soziale Beziehungen - oder an die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche der Integration und ihre Organisationen in der Wirtschaft, Erziehung, Gesundheit, Religion, an das Recht oder die Politik selbst adressiert. Man verbietet rechtlich Diskriminierung, fördert Beschäftigung sowie Aus- und Weiterbildung mit Geld, mobilisiert Migrantinnen und Migranten und ihre Vereine und Verbände zur Integration und überredet die Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen zu Beschäftigungspakten und anderen Selbstverpflichtungen sowie "die Zivilgesellschaft" - also lokale Sport- und andere Vereine, Kulturorganisationen, Nachbarschaften oder freie Träger - zu mehr Offenheit für "Verschiedenheit": "Managing diversity" und "interkulturelle Öffnung" lauten die europaweiten Mobilisierungsformeln. Damit wird in das öffentliche Bewusstsein gerückt, dass die Integration von Migranten eine generationenübergreifende und keine vorübergehende Problemstellung ist.
Unter den Bedingungen von internationaler Migration und Integration kommt es zur Neuauflage einer den europäischen Wohlfahrtsstaaten vertrauten und sie im Kontext der Globalisierung verstärkt herausfordernden Problemstellung: Es geht nicht nur um die Gewährleistung von Teilnahmechancen und sozialer Sicherheit für alle Individuen, sondern auch um die Verhinderung der Stabilisierung von Ungleichheits- und Ausschlussverhältnissen. Ihrem institutionalisierten Selbstverständnis nach gehört es zu den Aufgaben von modernen Wohlfahrtsstaaten, allen Individuen die Chance einzuräumen, die Ungleichheitsverhältnisse, in die sie hineingeboren worden sind, hinter sich lassen zu können: ihnen nicht schicksalartig ausgeliefert zu sein. Der "aktivierende Wohlfahrtsstaat" verlangt den Individuen mehr Eigenverantwortung ab, er setzt nicht mehr - wie der fürsorgende Wohlfahrtsstaat - auf materielle Gleichheit, sondern auf Chancengleichheit bei Akzeptanz von materieller Ungleichheit. Er verspricht aber im Gegenzug, all jenen, die sich in prekären Verhältnissen befinden, Unterstützung zu gewähren, um aus diesen herauszukommen. Die Resultate der PISA-Studien haben an der Einlösbarkeit dieses Versprechens bestehende erhebliche Zweifel untermauert. Die festgestellte Stabilität der Bildungsungleichheit betrifft nicht nur die Migrantenkinder, sondern alle bildungsfernen Schichten - sie scheinen ihrem Schicksal kaum entkommen zu können. Die Migranten und ihre Kinder sind nur die jüngsten Kandidaten, die von den Mechanismen der Stabilisierung sozialer Ungleichheit und sozialem Ausschluss erfasst werden.
Vor diesem Hintergrund erschließt sich die Ambivalenz der zentralen Stellung von Integration als einem politischen Symbol. In dem Maße, in dem Migration und Integration als politisch unabweisbare und dauerhafte Aufgabenstellungen begriffen worden sind, richtete sich in der öffentlichen Diskussion die Aufmerksamkeit auf die problematischen Resultate bisheriger Integrationsverläufe. Es ist sicher hilfreich, wenn die soziale Integration von Migranten und deren Nachkommen öffentlichkeitswirksam als Daueraufgabe angemahnt und wenn ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, dass alle gesellschaftlichen Bereiche in Deutschland wie in ganz Europa lernen müssen, sich darauf einzustellen und entsprechende Routinen auszubilden. Aber gerade weil Prozesse der Integration riskant sind und weil sie - insbesondere nach der späten Einsicht in die Erfordernisse ihrer politischen Gestaltung - Zeit brauchen, ist in ihrer jüngsten symbolischen Aufladung schon die Möglichkeit der Enttäuschung überhöhter Erwartungen eingeschlossen. Nicht alle Programme und Maßnahmen werden greifen, und sie können sich auch als unbeabsichtigte Barrieren erweisen. So gehen zum Beispiel in zahlreichen nordwesteuropäischen Ländern Arbeitsförderungsprogramme mit hoher Dauerarbeitslosigkeit (nicht nur) von Migranten einher, während die südeuropäischen Länder, die kaum solche Programme haben, keine vergleichbare Dauerarbeitslosigkeit von Migranten kennen. Wenn Integrationspolitik öffentlich vor allem als Sonderanstrengung begriffen wird und nicht als regulärer Teil einer ohnehin schwieriger gewordenen Gesellschaftspolitik in den europäischen Wohlfahrtsstaaten, Risiken der Zunahme von Ungleichheit und des sozialen Ausschlusses einzuschränken, dann wird die symbolische Aufladung dieser Politik den Boden dafür bereiten, dass misslingende Integration erneut einseitig zugeschrieben wird: sei es den Migranten als Verweigerung oder Versagen, sei es einer in ihren Möglichkeiten überschätzten Politik. Der Verlauf der Integration von Migrantinnen und Migranten ist absehbar nur ein Indiz unter vielen dafür, inwieweit europäischen Wohlfahrtsstaaten die Gestaltung von Integration insgesamt noch gelingt.
Aus: Michael Bommes: Integration - gesellschaftliches Risiko und politisches Symbol, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 22-23/2007) Externer Link: (02.11.2007)
Zum Autor:
Michael Bommes, Dr. phil. habil., geb. 1954; Professor für Soziologie und Direktor des Insitituts für Migrationsforschung und interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück, Neuer Graben 19/21, 49069 Osnabrück. E-Mail: E-Mail Link: mbommes@uni-osnabrueck.de