Einleitung
Historisch gesehen sind grenzüberschreitende Migrationen nichts Neues und damit ein normaler Vorgang gesellschaftlicher Entwicklungen. Es gab immer Menschen, die in einem anderen Land bessere Bedingungen zum Arbeiten und Leben für sich und ihre Familien gesucht haben oder vor kriegerischen Auseinadersetzungen oder Gewalt geflohen sind. Die gleichberechtigte Teilhabe und Integration von Migranten in zunehmend multiethnisch geprägten Gesellschaften ist aber keineswegs eine Zwangsläufigkeit. Im Gegenteil: So deuten viele Anzeichen zu Beginn des 21. Jahrhunderts darauf hin, dass gesellschaftliche Integrationsprobleme und Konflikte im allgemeinen wie auch speziell mit ethnischen Minderheiten zunehmen. Nach der Ermordung des islam-kritischen Filmemachers Theo Van Gogh in den Niederlanden und der darauf folgenden Kritik an den Moslems tauchte das Wort "Parallelgesellschaft" in den Medien auf. Plötzlich wurde in Deutschland danach gefragt, ob solche Szenen der Gewalt nicht auch hier Realität werden könnten. Immerhin gibt es in Deutschland rund 3,5 Millionen Moslems. Der Begriff "Parallelgesellschaft" findet auf fast inflationäre Weise Eingang in die Diskussionen und etabliert sich immer mehr zum Kampfbegriff. Die Radikalisierung in den Niederlanden und der "Kopftuchstreit" in Deutschland stehen dabei stellvertretend für einen neu entfachten "Kulturkampf", der immer mehr um sich zu greifen droht. Die Attentate vom 11. September 2001 in New York, der internationale "Kampf gegen den Terror" und fundamentalistische Selbstmordattentäter nähren diesen Kulturkampf und verstärken die bislang vorhandene Kluft zwischen dem sogenannten "christlichen Europa" und den eingewanderten Moslems. Durch die Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei wird die Angst vor einer Parallelgesellschaft zusätzlich geschürt. In der vorliegenden Arbeit will ich einen Überblick über verschiedene Definitionen des Begriffes "Parallelgesellschaft" aufzeigen. Dabei möchte ich erörtern, ob der Begriff angemessen oder als politischer "Kampfbegriff" in den Medien verwendet wird. Anschließend folgt ein Exkurs in wissenschaftliche Diskussionen um Integration und Segregation sowie eine Gegenüberstellung von Pro- und Contra Argumenten zu Stadtteilen mit hohem Migrantenanteil, den sogenannten "Parallelgesellschaften".
Definitionen von "Parallelgesellschaft"
Wer den Begriff "Parallelgesellschaft" definieren möchte, kommt um die Definition des allgemeinen Gesellschaftsbegriffes nicht umhin. Vereinfacht ausgedrückt verstehen wir unter Gesellschaft eine zumeist größere Anzahl von Menschen aller Altersstufen, die sich in einer bestimmten Weise organisiert betrachten und eine gemeinsame Kultur haben. Jede Gesellschaft lässt sich von ihrer Kultur bestimmte Auffassungen, Überzeugungen und Verhaltensweisen vorgeben, ohne die es zu Konflikten kommen würde. Vieles, was uns in einer anderen Kultur absurd und unlogisch erscheint, ist zum Weiterfunktionieren ihrer Gesellschaft notwendig (vgl. Schoeck 1982). Diese Definition zufolge wäre dann die Parallelgesellschaft eine Gesellschaft, welche sich parallel (besser: nebenher) zu einer anderen – bereits existierenden – Gesellschaft entwickelt und sich durch ihre Kultur von dieser unterscheidet. Je stärker sich diese nun abzugrenzen versucht, desto mehr ist sie durch ihr "Anderssein- wollen" jedoch auch von ersterer abhängig. Je größer die Abgrenzungsbestrebungen sind, desto größer wird die Gefahr der Assimilation derselben (vgl. Schoeck 1982). Wilhelm Heitmeyer untersuchte den gesellschaftlichen Kontext, der zur Entstehung von Parallelgesellschaften führt und zeigt auf, dass diese Subgesellschaften das Produkt einer sozialen und kulturellen Segregation sind (vgl. Heitmeyer 1996). Ihren Ausgang nehmen diese Subgesellschaften in den ökonomischen und sozialen Krisen der Mehrheitsgesellschaft. Während es von der "Basis" Proteste gegen Einsparungen, Steuererhöhungen und Arbeitslosigkeit gibt, wird von der "Spitze" die Debatte über Werte und eine christliche Leitkultur wieder belebt (vgl. Koch 2005). Damit, so Heitmeyer- "wachsen feindselige Mentalitäten, die sich gegen schwache Gruppen richten, die- soweit sie artikulations- und mobilisierungsfähig sind- ihrerseits mit Abwehr, Distanz, Rückzug oder aufgrund ihrer schwachen Position meist mit verdeckter Aggression reagieren (Heitmeyer 2005). Wie derzeit die Moslems werden zum teil ganze Gruppen gegen andere instrumentalisiert, Generalverdächtigungen gegenüber Lebensstilen oder religiöse Überzeugungen ausgesprochen und zur öffentlichen Tagesordnungen erhoben. Auch Klaus J. Bade spricht von einem sozial bedingten Rückzug und davon, dass es Parallelgesellschaften nur in den Köpfen derer gibt, die Angst davor haben. " Ich habe Angst und glaube, dass der andere daran schuld ist. Wenn das ebenso simple wie gefährliche Gerede über Parallelgesellschaften so weiter geht, wird sich die Situation verschärfen. Dieses Gerede ist also nicht Teil der Lösung, sondern teil des Problems" ( Bade 2004). Arno Widmann äußerte sich sprachkritisch zum Begriff "Parallelgesellschaft" in der "Berliner Zeitung" vom 23.11.2004: " Parallelgesellschaften gibt es überall. Jede Gesellschaft setzt sich aus Parallelgesellschaften zusammen. Der Versuch, die Entstehung von Parallelgesellschaften in der Gesellschaft zu verhindern, charakterisiert den autoritären Staat. Sollte es einer Gesellschaft gelingen, alle Ansätze von Parallelgesellschaften in ihr zu unterbinden, so wäre sie totalitär" (Widmann 2004).
Beispiel USA
Als historisches Einwanderungsland haben sich die USA seit jeher als ein Schmelztiegel unterschiedlicher Sprachen, Nationalitäten und Religionen verstanden. Die Möglichkeit zu Parallelgesellschaften ist hier in sehr verschiedenen Abstufungen anzutreffen und wurde vor allem von ostasiatischen Einwanderergruppen (Chinesen, Koreaner) wahrgenommen (vgl. Mintzel 1997). Lebhafte lokale Ansätze einer deutschsprachigen Parallelgesellschaft wurden nach dem Kriegseintritt der USA gegen das Deutsche Reich und Österreich- Ungarn im Ersten Weltkrieg abgebrochen. Einige Gemeinschaften, wie etwa die Amischen, erlangten augrund der großen Religionsfreiheit die Möglichkeit, in großer Abgeschiedenheit von der Hauptgesellschaft leben zu können. Eine andere in den Bereich der Parallelgesellschaft kommende Gruppe bildet besonders im Süden des Landes die afroamerikanische Bevölkerung, die trotz der rechtlichen Gleichstellung angesichts fortgesetzter Diskriminierung eine eigene Lebenskultur behielt und entwickelt hat (vgl. Mintzel 1997).
Beispiel Deutschland
Bis 1933 gab es einige traditionelle Parallelgesellschaften in Deutschland: die Sinti und Roma, die Dänen in Schleswig-Holstein, weniger jedoch die Juden, die sich stark an die deutsche Hauptgesellschaft angepasst hatten, obwohl es Ausnahmen gab (vgl. Bade 1992). Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland noch die Parallelgesellschaft der Flüchtlinge und Vertriebene, z. B. die Sudetendeutschen. Im beginnenden Wirtschaftswunder holte die deutsche Regierung dann türkische Gastarbeiter ins Land, woran anknüpfend sich langsam islamisch geprägte Subkulturen etablierten (Türken, Marokkaner etc.). Zu deren islamischen Kulturaspekten gehören der Besuch der Moschee, durch fehlenden Islamunterricht an deutschen Schulen auch zunehmend eigener Privatschulen mit arabischer Unterrichtssprache und eigenen Wertevorstellungen, aber auch ein neu entwickeltes, "fundamentalistisches" Islam-Bild, das durchaus von der Islamauffassung ihrer Herkunftskulturen in Richtung auf Radikalität abweichen kann. Vielleicht ist dies ein typischer "Diaspora"-Effekt, für den es eine deutsche Redensart gibt: "Je weiter von Rom, desto besser die Katholiken" (vgl. Bade 1992).
Integration vs. Segregation
Im Folgenden möchte ich einen allgemeineren Überblick in Bezug auf die Integration und Segregation aufzeigen, um daraus einen Zusammenhang zu der Debatte um die "Parallelgesellschaften" herzustellen zu können. In der Bundesrepublik rechnete ursprünglich niemand mit der dauerhaften Niederlassung der Zuwanderer – folglich bemühte sich kaum jemand um Integration. Den Folgen dieser Fehleinschätzung steht heute die deutsche Bevölkerung gegenüber: Die meisten Arbeitsmigranten und ihre Kinder sind de facto bis heute noch immer keine vollwertigen Mitglieder der deutschen Gesellschaft (vgl. Leggewie 1991). Sie sind nach wie vor Staatsbürger ihres Herkunftslandes, sie heiraten überwiegend untereinander, sprechen zum Teil nur unzureichend Deutsch und sind beträchtlich häufiger arbeitslos oder von Sozialhilfe abhängig als der Durchschnitt der einheimischen Bevölkerung. All dies spricht in der politischen Diskussion als Argument gegen zukünftige Zuwanderung. Von Zuwanderung ist Deutschland jedoch abhängig, und es lässt sich auch nicht leugnen, dass Zuwanderung ganz erhebliche positive Effekte nach sich zieht. Vor diesem Hintergrund ist es also von großer Bedeutung, Zuwanderung nicht nur zuzulassen – sie eventuell sogar zu fördern, auf jeden Fall jedoch alles daran zu setzen, die Zuwanderer gezielter zu integrieren und nicht sich selbst zu überlassen. Das Ziel der Integration sind gleichwertige regionale Lebensbedingungen für Deutsche und Zuwanderer (vgl. Esser 1980). So soll Zuwanderern ein gleichberechtigter Zugang zum Bildungsstand, zu allen Positionen am Arbeitsmarkt, zum Wohnungsmarkt und anderen gesellschaftlichen Teilsystemen einschließlich des politischen Systems ermöglicht werden. Dafür sind Anstrengungen von beiden Seiten erforderlich, nicht nur von den Zuwanderern. Auch Gewerkschaft, Politik und Kultur der Aufnahmegesellschaft sind gefordert, ihren Beitrag zu leisten. Vor dieser Aufgabe stellt sich die Frage, ob Ausländerquartiere überhaupt zugelassen oder durch staatliche oder kommunale Eingriffe von Anfang an verhindert werden. Um diese Frage zu beantworten, sollen im Folgenden die Vor- und Nachteile von Ausländerquartieren herausgearbeitet werden.
Pro Ausländerquartiere
Ausländerquartiere sind nicht prinzipiell als negative Erscheinungen zu bezeichnen, denn sie erfüllen notwendige Funktionen als Ort vertrauter Heimat in der Fremde, wo der neu Eingewanderte Nachbarn findet, die seine Sprache sprechen und seine Gewohnheiten teilen. Er findet dort eine Unterkunft, eine auf seine Bedürfnisse zugeschnittene Infrastruktur, erhält Informationen über die neue Umgebung sowie materielle und emotionale Unterstützung. Sie bieten den jüngst Zugewanderten die räumliche Nähe von Menschen gleicher Lebenssituation und damit auch gleicher Interessenlagen. Dies fördert ihre Organisationsfähigkeit und bietet damit eine wesentliche Voraussetzung dafür, sich politisch Gehör zu verschaffen. Demnach werden Ausländerquartiere als Brücke zwischen den zwei Gesellschaften verstanden (vgl. Häußermann und Siebel 2003). Häußermann und Siebel sind der Ansicht, dass sich erst auf der Basis derart gesicherter Identität, die nur durch eine homogene Umwelt hervorgerufen wird, die Zuwanderer sich den Neuen und Fremden öffnen können. Segregation dient nach ihrer Auffassung der Vermeidung von Konflikten sowie der Integrationsförderung. Auch Krummacher und Waltz schätzen Ausländerquartiere als Übergangsinstitutionen ein und betonen deren Orientierungs- Selbsthilfe- und Schutzfunktion (vgl. Krrumacher, Waltz 1996). Tatsache ist offensichtlich, dass Segregation per se nicht als Problem gilt. Die Absonderung der Oberschicht in ihren Wohngebieten müsste sonst mit gleicher Besorgnis betrachtet werden wie die der Unterschicht – was nicht der Fall ist.
Contra Ausländerquartiere
Auch wenn die Argumentation für die Ausländerquartiere noch so positiv und überzeugend klingen mag, so können sie aber – besonders in Reaktion auf gescheiterte Integrationsversuche – auch zu Orten des Rückzuges in die eigene Gemeinschaft und damit zur Mobilitätsfalle werden (vgl. Häußermann, Siebel 2003). Ethnische Segregationen können zudem – und das steht der Argumentation von Häußermann und Siebel entgegen – zu einer Vergrößerung der sozialen Distanz zwischen den Gesellschaften und damit einer beiderseitigen geringerer Integrationsbereitschaft führen. Schließlich führen ethnische Konzentrationen zur größeren Sichtbarkeit der Minderheit und lösen so ein Gefühl der Bedrohung bei der Mehrheit aus, was wiederum Konflikte verschärfen kann (vgl. Sackmann 1997). Statt einer erzwungenen Politik der Isoliertheit der Zuwanderer über das ganze Stadtgebiet hinweg, ist es viel wichtiger, den Zuwanderern die Übergänge zu den Netzwerken offen zu halten, ihnen gleichzeitig jedoch die Übergänge in die Gesellschaft der Einheimischen so leicht wie möglich zu machen, d.h., freiwillige Segregation muss zugelassen, die durch Diskriminierung und Mechanismen des Wohnungsmarktes erzwungene dagegen verhindert werden.
Zusammenfassung / Schlussbemerkung
Die Diskussion um die Thematik Parallelgesellschaft ist letztlich ein Ausdruck des Reifegrades demokratischen Grundverständnisses. In erschreckender Art zeigt sich dabei, wie in dieser Gesellschaft mit Problemen umgegangen wird. Beinahe selbstverständlich geht die Mehrheitskultur von einer Höherwertigkeit eigener Werte und Normen gegenüber den Werten und Normen der Einwanderer aus. Damit entfernt sie sich immer mehr von der seinerzeit propagierten Integrationsidee, die vom Prinzip der Gleichwertigkeit der Menschen und Kulturen ausgeht (vgl. Cohn-Bendit, Schmid 1992). Die zahlreichen Einwanderer der 60er und 70er Jahre haben maßgeblich zum wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland beigetragen. Sie wurden jedoch durch von der Mehrheitsgesellschaft geschaffene Ghettos zu einer künstlich erzeugten Homogenität verdammt. Nur wenigen gelang der soziale Aufstieg und diese wurden assimiliert. Der Rest reagiert mit vermehrter Abkapselung und Rückbesinnung auf seine kulturellen Wurzeln. Damit bietet man wieder eine Angriffsfläche für Stigmatisierung seitens der Mehrheitsgesellschaft. Es wird heute übersehen, dass durch die größer werdenden Kontrollen zum Schutz vor "Terror" gleichzeitig die Freiheitsrechte der Mehrheitsgesellschaft eingeschränkt werden. Damit scheint der Angstbegriff "Parallelgesellschaft" zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden (vgl. Leggewie 1991). Dabei ist es nicht die Parallelgesellschaft, vor der man Angst haben sollte, sondern vielmehr die Intoleranz und die Unfähigkeit zur interkulturellen Kommunikation.
(Driton Gashi arbeitet als Schulsozialarbeiter und als Berater für Lehrer, Erzieher, Referendare etc. in Migrationsfragen.)
Aus: Driton Gashi: Parallelgesellschaften, Externer Link: (19.11.2007)