Einleitung
Die vermeintliche Entwicklung von "Parallelgesellschaften" in Deutschland ist seit Mitte dieses Jahrzehnts das am häufigsten vorgebrachte Argument für die Auffassung, dass die Integration von Zuwanderern in der Bundesrepublik misslungen sei. Von Beginn an bis zur breiten Debatte ab 2004 gilt dabei der Islam als Ursache oder Merkmal gesellschaftlicher Desintegration. Ende 2004 erfuhr die "Parallelgesellschaft" als Konzept zur Beschreibung der Zuwanderungswirklichkeit aber auch öffentliche Kritik. Ihre Kritiker argumentierten, die Behauptung der Existenz von Parallelgesellschaften diene in erster Linie dem Ziel der Abqualifizierung gesellschaftlicher Pluralität.
Zwei Fragen an die Migrationsforschung wirft die Debatte indessen unmittelbar auf: eine phänomenologische und eine normativ-politische.
Erstens: Gibt es eine (türkische) Parallelgesellschaft?
Zweitens: Was bedeutet die Existenz einer Parallelgesellschaft für die gesamtgesellschaftliche Integration ihrer Angehörigen?
Im vorliegenden Text wird unter Rückgriff auf Ergebnisse von Befragungen der Stiftung Zentrum für Türkeistudien zu den Lebenslagen erwachsener Türkeistämmiger in Nordrhein-Westfalen aus den Jahren 1999 bis 2004 versucht, eine empirisch fundierte Antwort auf diese beiden Fragen zu geben. Jährlich wurden 1 000 Personen per Zufallsauswahl telefonisch befragt.
Voraussetzung ist zunächst die Definition dessen, was unter einer Parallelgesellschaft und unter Integration zu verstehen ist, wie beide Konzepte durch die Migrationsforschung operationalisiert werden können und wie sie sich zueinander verhalten.
Parallelgesellschaft und Integration
Thomas Meyer schlägt fünf Indikatoren für die Existenz parallelgesellschaftlicher Strukturen in Migrantencommunities vor:
ethno-kulturelle bzw. kulturell-religiöse Homogenität;
nahezu vollständige lebensweltliche und zivilgesellschaftliche sowie weitgehende Möglichkeiten der ökonomischen Segregation;
nahezu komplette Verdopplung der mehrheitsgesellschaftlichen Institutionen;
formal freiwillige Segregation;
siedlungsräumliche oder nur sozial-interaktive Segregation, sofern die anderen Merkmale alle erfüllt sind.
Diese Definition legt die Messlatte für das Vorliegen parallelgesellschaftlicher Strukturen ausgesprochen hoch. Auch ohne empirische Prüfung kann man davon ausgehen, dass Parallelgesellschaften von Zuwanderern zumindest in Deutschland in diesem Sinne nicht existieren. Die Möglichkeiten zur Segregation sind hier, gemessen an den oben formulierten Kriterien, doch eher begrenzt, insbesondere was die Bildung alternativer Institutionen der Migrantengesellschaft betrifft. Eine Operationalisierung dieser Indikatoren ist aber für eine dynamische Betrachtung sinnvoll: Gibt es eine Entwicklung hin zur oder weg von der Parallelgesellschaft?
Wie verhält sich die oben gegebene Definition von Parallelgesellschaften zur Zuwandererintegration? Meyers Definition fokussiert die Form, das "Wie" des Zusammenlebens, weniger die Frage, ob die Form des Zusammenlebens (oder Getrenntlebens) mit einer sozialen, ökonomischen und kulturellen Benachteiligung der Minoritätengruppe einhergeht. Damit umfasst der Begriff der Parallelgesellschaft nur einen Ausschnitt dessen, was durch Integration bzw. Desintegration beschrieben wird, insbesondere indem er den Umfang der sozialen und wirtschaftlichen Teilhabe ausblendet. Diese Teilhabedimension muss aber berücksichtigt werden, wenn es um die Einschätzung der gesellschaftlichen Folgen von Parallelgesellschaften geht, da sie der wohl wichtigste Bestandteil gesellschaftlicher Integration ist.
Die Migrationsforschung hat eine Reihe von Modellen entwickelt, welche die Integration von Zuwanderern beschreiben sollen. Verbunden mit diesen Konzepten sind jeweils spezifische Theorien des Integrationsverlaufs. Trotz einer Fülle unterschiedlicher Modelle lassen sie sich auf zwei Grundtypen reduzieren: Entweder werden mögliche Integrationsverläufe im Spannungsfeld von Akkulturation (also die Übernahme kultureller Standards der Aufnahmegesellschaft) und gesellschaftlicher Teilhabe verortet oder aber durch die Nähe oder Distanz zur Herkunfts- bzw. Aufnahmecommunity beschrieben. Die Integrationsverläufe, die sich aus den beiden Modellen ergeben, beruhen entsprechend auf unterschiedlichen Annahmen:
Sind etwa bei Wilhelm Heitmeyer Inklusion - also die Möglichkeit gleichberechtigter Teilhabe bei Aufrechterhaltung kultureller Differenz - und Assimilation (also die Erreichung gleichberechtigter Teilhabe bei Aufgabe der Herkunftskultur) zumindest theoretisch gleichwertige Alternativen, weil Handlungsorientierungen und Teilhabechancen als zumindest theoretisch-konzeptionell unabhängig voneinander aufgefasst werden, ist die Annahme bei Hartmut Esser eine grundsätzlich andere. Empirisch gelingt nachhaltige Sozialintegration nur auf der Grundlage assimilativer Muster, genauer: Erfolgreiche Prozesse der Akkulturation, Platzierung, Interaktion und der Identifikation sind interdependent. Insbesondere die erfolgreiche Platzierung kann eigentlich nur in der Aufnahmegesellschaft stattfinden, da die ethnische Community keine adäquaten Platzierungen in hinreichender Zahl bietet. Dies setzt jedoch Akkulturation und ein Mindestmaß an Interaktion voraus, womit im Anschluss auch die Identifikation mit der neuen Heimat verbunden sein sollte.
In der ethnischen Community laufen die Minoritäten vielmehr zunehmend Gefahr, sich in ethnische Mobilitätsfallen zu begeben, in denen sie höchstens schlechte und mittelmäßige Platzierungen erreichen können. Die "Entkopplung" insbesondere von Kulturations- und Platzierungsprozessen ist bei Esser nicht vorgesehen.
Speziell für integrationspolitische Schlussfolgerungen, die aus den beiden Modellen abgeleitet werden können, sind diese Unterschiede sehr bedeutend - und für die Einschätzung der Folgen der Etablierung parallelgesellschaftlicher Strukturen für die Teilhabechancen derjenigen, die ihr angehören. Es stellt sich, anders formuliert, die Frage nach der Zwangsläufigkeit der Entstehung ethnischer Schichtung in multikulturellen Gesellschaften. Empirische Befunde zu Deutschland sprechen bisher für eine solche Zwangsläufigkeit. Zum Beispiel hat Robert Kecskes die sozialen Netzwerke türkeistämmiger Jugendlicher in Köln untersucht. Im Ergebnis stellt er eine ausgeprägte, im Jungerwachsenenalter noch zunehmende ethnische Schließung fest, innerhalb derer sich allerdings sehr unterschiedliche Einstellungen, Lebensstile und Identitäten etabliert haben. Letztendlich bestehe aber für die Mehrheit der jungen Erwachsenen das Problem der Beschränkung auf das Positionierungssystem der eigenen Community, das im Vergleich zur Aufnahmegesellschaft nur marginale Platzierungen ermöglicht. Die türkischen Jugendlichen sind in der Mehrheit nicht assimiliert, in keinem Wortsinn. Kecskes misst, wie auch Esser, den "ethnischen Mobilitätsfallen" große Bedeutung zu, da "das ethnische Positionssystem weniger differenziert ist als das Positionssystem der Aufnahmegesellschaft und dieses unterschichtet (... und) schneller das obere Ende erreicht (ist), das jedoch (...) noch immer einer marginalen Stellung entspricht."
Auch Wolfgang Glatzer zeigt in seiner Studie zum Integrationsstand von Jugendlichen mit italienischem und türkischem Migrationshintergrund, dass die sozialstrukturelle (Erwerbsbeteiligung, Haushaltseinkommen, Abiturientenquote, Wohneigentumsquote) und die sozialkulturelle Partizipation (deutsche Sprachkenntnisse, deutscher Medienkonsum, Fremdheitsempfinden) eng verknüpft zu sein scheinen und gleichgerichtet verlaufen.
Türkische Parallelgesellschaft in NRW?
Die Frage nach der Entwicklung einer türkischen Parallelgesellschaft in Deutschland haben die Autoren des vorliegenden Beitrags durch eine Längsschnittuntersuchung zum interkulturellen Zusammenleben der türkeistämmigen Bevölkerung Nordrhein-Westfalens zu beantworten gesucht, wobei die oben genannten Indikatoren von Thomas Meyer für die Existenz von Parallelgesellschaften durch unterschiedliche Merkmale operationalisiert wurden.
Die Stiftung Zentrum für Türkeistudien befragt seit 1999 in jährlichem Abstand repräsentativ 1000 erwachsene türkeistämmige Migrantinnen und Migranten zu ihren Wohnverhältnissen, interkulturellen Kontakten, Diskriminierungserfahrungen und der Nutzung eigenethnischer Infrastrukturen. Die Daten sind geeignet, die von Meyer entwickelten Indikatoren für Parallelgesellschaften durch die Merkmale Religiosität (kulturelle Homogenität), Kontakte zu Deutschen (lebensweltliche Segregation), Organisationsgrade (Verdopplung von Institutionen), Diskriminierung (Freiwilligkeit von Segregation) und ethnische Quartiersbildung (Wohnraumsegregation) zu operationalisieren. Obwohl sich die Befragung auf das Bundesland Nordrhein-Westfalen beschränkt, dürften die Ergebnisse in ihren Grundtendenzen auch auf die Bundesrepublik insgesamt zu übertragen sein, da immerhin jede(r) dritte Türkeistämmige in NRW lebt.
Die These der Entwicklung zu parallelen Gesellschaftsstrukturen von Deutschen und Türken erhält durch die Ergebnisse der Längsschnittuntersuchung keine Nahrung. Vielmehr ist in denjenigen Bereichen, in denen sich eindeutige Trends im Untersuchungszeitraum abzeichnen, eine leicht zunehmende gesellschaftliche Durchmischung zu konstatieren. Allerdings hat sich die Identifikation mit dem Islam vergrößert, womit zugleich die religiös-kulturelle Homogenität der Gruppe sowie die Empfindung von Diskriminierung im Untersuchungszeitraum gewachsen sind. Im Folgenden werden die Ergebnisse im Einzelnen skizziert.
Religiöse Homogenität
Erwartungsgemäß gehört die überwiegende Mehrheit der türkischen Migrantinnen und Migraten mit 95 Prozent dem muslimischen Glauben an. Von diesen stellen die Sunniten mit 90 Prozent wiederum die deutliche Mehrheit, 9 Prozent sind Aleviten und nur wenige gehören der schiitischen Richtung des Islam an. Diese Verteilung unterstützt die Annahme einer religiös-kulturellen Homogenität der Türkinnen und Türken als eine Voraussetzung für die Entstehung von Parallelgesellschaften. Die Mehrheit der Befragten definiert sich nicht nur als "formal" dem Islam zugehörig, sondern auch emotional. Die Hälfte - 50 Prozent - betrachtet sich selbst als eher religiös und knapp jeder Fünfte - 22 Prozent - als sehr religiös. 24 Prozent fühlen sich selbst als eher nicht und 4 Prozent als gar nicht religiös.
Der Vergleich der Anteile in den jeweiligen Kategorien zeigt, dass die Religiosität unter den Migranten offensichtlich im Zeitverlauf zunimmt. Der Anteil der sehr und eher Religiösen ist 2004 zusammen auf 72 Prozent gestiegen, im Jahr 2000 betrug er 57 Prozent. Darüber, ob dies eine Folge des 11. September und der Kriege in Afghanistan und Irak sowie ein mehr oder weniger erzwungenes Bekenntnis zum Islam ist, kann nur spekuliert werden. Bei mehrheitlicher Zugehörigkeit zum sunnitischen Islam ist die türkische Gesellschaft in Deutschland damit zwar nicht homogen, aber doch stark religiös geprägt - und diese Prägung hat im Untersuchungszeitraum linear und deutlich zugenommen.
Lebensweltliche Segregation
Die lebensweltliche und zivilgesellschaftliche Segregation als ein weiteres Merkmal von Parallelgesellschaften wird hier anhand der Häufigkeit interethnischer Freizeitkontakte indiziert. 44 Prozent der Befragten unterhalten enge, freundschaftliche Beziehungen zu Deutschen, im Rahmen derer man sich fast täglich (ca. 23 Prozent) oder häufig (ca. 20 Prozent) - mindestens einmal in der Woche - trifft. Ein weiteres knappes Viertel hat manchmal Freizeitkontakt zu Deutschen mit mindestens einem Treffen im Monat. 35 Prozent haben jedoch nur wenig Kontakte, 16 Prozent treffen sich selten (mehrmals im Jahr) und 19 Prozent so gut wie nie mit Deutschen auf privater Ebene. Im Zeitvergleich zeigt sich eine leichte, jedoch stetige Zunahme der interkulturellen Freundschaftsbeziehungen.
Zivilgesellschaftliche Segregation
Die Einbindung in gesellschaftliche Organisationen ist in der türkischen Community weniger ausgeprägt als bei Deutschen, hat aber in den letzten Jahren zugenommen. Zum Teil gliedern sich die Migranten in das intermediäre System der Mehrheitsgesellschaft ein, zum Teil hat sich eine eigene ethnische Infrastruktur etabliert. Inzwischen existieren in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen türkische Organisationen und Institutionen. Stellen diese aber tatsächlich eine Dopplung der Angebote der Aufnahmegesellschaft dar, wie sie eine Parallelgesellschaft kennzeichnen würden?
Insgesamt sind 42 Prozent der Befragten in keinem Verein organisiert. 19 Prozent sind nur Mitglied eines deutschen und 18 Prozent sowohl eines deutschen als auch eines türkischen Vereins. Somit gehört mehr als ein Drittel (37 Prozent) aller Befragten auch einem deutschen Verein an. Neben den 19 Prozent, die sowohl Mitglieder eines deutschen als auch eines türkischen Vereins sind, gehören 22 Prozent ausschließlich einem türkischen Verein an. Der Vergleich mit den Ergebnissen der vergangenen Jahre zeigt, dass der Anteil der Nichtorganisierten sinkt. Zugleich hat in den Jahren 2003 und 2004 die ausschließliche Mitgliedschaft in türkischen Vereinen wieder abgenommen, nachdem sie im Jahr 2002 leicht angestiegen war. Kontinuierlich steigt der Anteil derer, die sowohl in deutschen als auch in türkischen Vereinen oder Verbänden organisiert sind. Auch der Anteil der in deutschen Verbänden Organisierten steigt leicht an. Diejenigen deutschen Organisationen, in denen die Migrantinnen und Migranten mit 17 Prozent am häufigsten anzutreffen sind, sind die Gewerkschaften. An zweiter Stelle folgen mit 16 Prozent die Sportvereine. Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft ist in allen "Gastarbeiternationen" traditionell stark ausgeprägt. Bei den türkischen Vereinen liegt das Schwergewicht eindeutig im kulturellen und religiösen Bereich. 12 Prozent gehören einem Kulturverein und 22 Prozent religiösen Gemeinschaften an. Generell betrachtet, gründet sich ein zentraler Teil der Mitgliedschaft in türkischen Organisationen auf ein Bedürfnis religiöser und kultureller Anbindung, das deutsche Organisationen nicht einlösen können. Damit erfüllen die türkischen Organisationen aber eine Komplementär- und keine Dopplungsfunktion zu deutschen Angeboten.
Diskriminierungserfahrungen - Freiwilligkeit der Segregation
Integration setzt voraus, dass die aufnehmende Gesellschaft die Zuwanderer auch an Ressourcen und Prozessen teilhaben lässt. Ein geeigneter Indikator für die Freiwilligkeit von Abgrenzung ist das Empfinden von Diskriminierung. Insgesamt gaben 77 Prozent der Befragten an, im Alltag die Erfahrung ungleicher Behandlung von Deutschen und Ausländern gemacht zu haben - 11 Prozent in einem bestimmten Lebensbereich und 66 Prozent in unterschiedlichen Lebensbereichen. 1999 belief sich die Quote der wahrgenommenen Diskriminierung auf 65 Prozent, wobei 52 Prozent sich mehrfach und 14 Prozent sich einmal diskriminiert fühlten. Im Jahr 2001 war der Anteil auf 71 Prozent gestiegen, 2002 lag er ebenso wie 2003 bei 80 Prozent.
Ob dabei auch eine gestiegene Sensibilität oder Empfindlichkeit der Migranten eine Rolle spielt oder ob die Ungleichbehandlung tatsächlich zugenommen hat, kann hier nicht geklärt werden. Dennoch ist eine erschreckend hohe Diskriminierungswahrnehmung zu konstatieren, die im Zeitvergleich zunächst deutlich gestiegen ist und seit dem vergangenen Jahr wieder sinkt. Wie bei der Zunahme der Religiosität liegt es auch hier nahe, einen Zusammenhang zur Debatte um den Islam im Zuge des 11. September 2001 herzustellen, der sich allerdings nicht beweisen lässt. Die Bereiche, in denen am häufigsten Diskriminierung empfunden wird, sind diejenigen, in denen generell ein hohes Maß an ökonomischer oder sozialer Konkurrenz und Konflikte um knappe Ressourcen herrschen: Rund die Hälfte der befragten Migranten gaben an, am Arbeitsplatz (57 Prozent), bei der Wohnungssuche (49 Prozent) und bei der Arbeitssuche (48 Prozent) diskriminiert worden zu sein.
Siedlungsräumliche Segregation
Mehr als die Hälfte der Befragten (58 Prozent) wohnt in überwiegend deutsch geprägten Gegenden. 15 Prozent leben in gleichmäßig gemischten Vierteln und ein Fünftel in überwiegend von Türken bewohnten Stadtteilen. Der Anteil von 21 Prozent, die in überwiegend türkisch geprägten Gegenden leben, deutet aber doch darauf hin, dass sich zumindest in einigen Stadtteilen ethnisch verdichtete Wohnquartiere herausgebildet haben.
Vergleicht man den Befund von 2004 mit den Zahlen der Vorjahre, ist kein eindeutiger Trend erkennbar. Unter dem Vorbehalt, dass das Untersuchungsdesign keinen Schluss auf Kausalitäten zulässt, wird bei der Untersuchung des Zusammenhangs von ethnischer Zusammensetzung der Wohngegend und der Zufriedenheit mit den Wohnverhältnissen und dem sozialen Umfeld sichtbar, dass Befragte, die in deutschen Wohngegenden leben, zufriedener sind als Befragte, die in türkisch geprägten Quartieren leben. Das lässt darauf schließen, dass es sich nicht immer um eine freiwillige Segregation handelt. Die Unzufriedenheit dürfte indessen nicht nur mit der ethnischen Zusammensetzung, sondern auch mit der generellen Situation der jeweiligen Quartiere zusammenhängen, da ethnische Kolonien häufig in Stadtteilen mit niedriger Wohnqualität angesiedelt sind.
Die Integrationsperspektive der Angehörigen von Parallelgesellschaften
Wie verteilen sich die beschriebenen Merkmale aber auf die Individuen in der türkischen Community in NRW? Inwiefern haben einzelne Gruppen tatsächlich so etwas wie parallele Subgesellschaften gebildet? Um die Angehörigen einer türkischen Parallelgesellschaft zu identifizieren und so ihre Integrationsperspektive zu untersuchen, mussten für die hier verwendeten Indikatoren Grenzwerte festgelegt werden, jenseits derer die Befragten als segregiert oder nicht segregiert definiert werden.
Die Datenanalyse zeigt, dass nur eine kleine Gruppe von einem Prozent mit Blick auf alle fünf Indikatoren der Parallelgesellschaft die definierten Segregationsgrenzwerte überschreitet. Knapp 4 Prozent liegen bei vier und knapp 18 Prozent bei drei Bereichen über diesen Werten. Ein Drittel überschreitet in zwei Bereichen und ebenso viele in einem Bereich die Grenze zur Segregation. Gut jeder zehnte türkeistämmige Migrant ist hinsichtlich keines der Merkmale segregiert (vgl. Tabelle 1 der PDF-Version).
Diejenigen Befragten, die in drei oder mehr Bereichen die Grenzwerte überschreiten, wurden anschließend in einer Gruppe, die als potenziell segregiert gelten kann, zusammengefasst, diejenigen, die in zwei oder weniger Bereichen die Grenzwerte überschreiten, zur Gruppe der nicht Segregierten. Daraus ergibt sich ein Anteil von 77,5 Prozent, der als nicht segregiert gelten kann, und ein Anteil von 22,5 Prozent, der als tendenziell segregiert einzustufen ist - bzw. vermehrt parallelgesellschaftliche Strukturen ausbildet.
In der Gruppe der tendenziell in parallelgesellschaftlichen Strukturen Lebenden sind Migranten ab 60 Jahre und solche mit schlechten Deutschkenntnissen deutlich überrepräsentiert. Betrachtet man die Zusammenhangsmaße, so besteht der stärkste Zusammenhang zwischen Segregation und Deutschkenntnissen sowie Segregation und der beruflichen Stellung. Aber auch das Alter und die Aufenthaltsdauer, das Land des Schulbesuchs und die formale Schulbildung in Deutschland, die berufliche Stellung und das Haushaltseinkommen sind hier zu nennen. Das Geschlecht spielt hingegen kaum ein Rolle.
Mit zunehmendem Alter steigt der Anteil derjenigen, die in mindestens drei der fünf Bereiche parallelgesellschaftliche Tendenzen aufweisen. Besonders groß und mit deutlichem Abstand zur nächstjüngeren Gruppe ist der Anteil der ab 60-Jährigen. Entsprechend sind Angehörige der ersten Generation überproportional häufig unter den Segregierten zu finden, aber auch die als Erwachsene nachgereisten Ehepartner der zweiten Generation sind hier überrepräsentiert, wodurch sich der Alterszusammenhang verwischt. Angehörige der zweiten Generation, die in Deutschland geboren oder aufgewachsen sind, sind seltener unter den Angehörigen der Parallelgesellschaft zu finden (vgl. Tabelle 2 der PDF-Version).
Am sichtbarsten ist der Zusammenhang von Segregation und Deutschkenntnissen. Bei sehr oder eher schlechten Kenntnissen der deutschen Sprache ist die Wahrscheinlichkeit, in parallelgesellschaftlichen Strukturen zu leben, deutlich größer als bei guten oder sehr guten Sprachkenntnissen. Einfluss auf die Tendenz zum Leben in Parallelgesellschaften haben aber auch das formale Bildungsniveau, das in Deutschland erworben wurde, sowie die berufliche Stellung. Migranten, die nur eine geringe formale Bildung aufweisen oder als Arbeiter tätig sind, sind häufiger unter den Segregierten anzutreffen als Migranten mit hohem Bildungsniveau und Angestellte. Entsprechend sind Migranten mit einem niedrigen Einkommen eher dazu prädestiniert, sich in parallelgesellschaftlichen Strukturen zu bewegen, als Migranten mit einem höheren Einkommen.
Fazit und Diskussion
Unter unseren Befunden ist die zunehmende Religiosität das einzige Merkmal einer Parallelgesellschaft, das im Untersuchungszeitraum tatsächlich linear in Richtung der Entwicklung parallelgesellschaftlicher Strukturen weist. Damit ist die große Bedeutung, die dem Dialog mit dem Islam und der Integration der Muslime in den vergangenen Jahren zugewiesen wurde, durchaus berechtigt. Alle anderen Merkmale deuten jedoch nicht auf das Anwachsen parallelgesellschaftlicher Strukturen hin.
Allerdings sind die segregiert in Parallelgesellschaften lebenden Individuen - gemessen am beruflichen Status und dem Einkommen - schlechter sozial platziert als diejenigen außerhalb parallelgesellschaftlicher Strukturen, und sie haben aufgrund mangelhafter Deutschkenntnisse und geringerer formaler Qualifikationen schlechtere Teilhabechancen. Allerdings ist die Varianz bezogen auf die nicht Segregierten nur gering, was im generell geringen Niveau der Teilhabe begründet sein dürfte. Somit liegt die beste Vorsorge gegen die Entstehung ethnischer Schichtung in der Qualifizierung sowohl der jungen Migranten als auch der Neuzuwanderer, da Kulturation sich mit Blick auf unsere Daten als deutlich im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Platzierung, also der Teilhabedimension von Integration, erweist. Zugleich zeigt die von uns untersuchte Gruppe aber auch, dass mit Blick auf die Türkinnen und Türken nicht davon auszugehen ist, dass die Segregation bzw. das Leben in Parallelgesellschaften - verstanden als auf bewussten Entscheidungen beruhender Rückzug aus der Aufnahmegesellschaft - nur sehr bedingt mit mangelhafter Teilhabe im Zusammenhang steht. Es gibt vielmehr in großer Zahl Türkeistämmige, die sich mit Deutschland identifizieren und intensiv mit der Aufnahmegesellschaft interagieren, ohne es jedoch zu adäquaten gesellschaftlichen Platzierungen zu bringen. Ganz stark vereinfacht ausgedrückt: Die vorgestellten Daten sprechen dafür, dass es bei der Integration der Türkeistämmigen eher an Möglichkeiten als am Willen der Betroffenen fehlt.
Aus: Dirk Halm/Martina Sauer:
Zu den Autoren:
Dirk Halm: M.A., Dr. phil., geb. 1971; wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Zentrum für Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen, Altendorfer Str. 3, 45127 Essen. E-Mail: E-Mail Link: info@zft-online.de
Martina Sauer: Dipl.-Pol., Dr. rer. pol., geb. 1964; wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Zentrum für Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen, Altendorfer Str. 3, 45127 Essen. E-Mail: E-Mail Link: info@zft-online.de.