Migrationsforscher Klaus J. Bade über die Zuwanderung nach Deutschland
Als "Urgestein der deutschen Migrationsforschung" bezeichnete ihn einmal die "Welt": Klaus Bade. Tatsächlich engagiert sich der Professor schon seit rund 20 Jahren für eine bessere Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland, seit 1991 auch als Leiter des von ihm gegründeten Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück. Er kritisiert, dass das Thema Zuwanderung in Deutschland viel zu negativ besetzt sei. Dabei, sagt Bade, brauchen wir Zuwanderung - nur eben die richtige.
Das Parlament: Herr Bade, in Deutschland leben 15 Millionen Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund. Wenn Deutschland über diese Menschen redet, stehen meist die Probleme im Vordergrund: Integrationsversagen, Arbeitslosigkeit, Ghettoisierung, Islamismus. Entspricht diese negative Sicht der Realität?
Klaus J. Bade: Nein, absolut nicht. Die Integration wird in den Medien, in der Politik, sogar in der Wissenschaft skandalisiert. Das verstärkt den in deutschen Köpfen ohnehin verbreiteten negativen Migrationsbegriff, der Zuwanderung als Bedrohung von außen und als Ursache sozialer Probleme im Innern begreift. Das ist deutlich anders bei Kanadiern, Amerikanern und Menschen in anderen klassischen Einwanderungsländern, die einen positiven Migrationsbegriff haben und Zuwanderung als Hilfe von außen verstehen, die man gesetzlich gestalten kann. Es gibt hierzulande immer noch zu wenige Informationen über die positiven Aspekte der Zuwanderung.
Das Parlament: Welches sind denn diese positiven Aspekte?
Klaus J. Bade: Geläufigerweise wird über hohe Arbeitslosenzahlen und Sozialtransfers bei der Zuwandererbevölkerung geklagt. Meistens sind damit die so genannten Gastarbeiter und ihre Nachfahren gemeint. Dabei wird vergessen, dass gerade die Pioniermigranten dieser Gruppe am Arbeitsmarkt ein entscheidender Faktor dafür gewesen sind, dass es das Wirtschaftswachstum des "Wirtschaftswunders" überhaupt geben konnte. Hinzu kommt der demografische Faktor: Die Deutschen würden in ihrer Bevölkerungsentwicklung bereits seit Anfang der 70er-Jahre rote Zahlen geschrieben haben, wenn es nicht entsprechende Zuwanderungsgewinne gegeben hätte. Sie haben das Durchschlagen der Folgen des Geburtenrück-gangs auf unsere Sozialsysteme noch etwas aufgeschoben beziehungsweise abgefedert. Diese Feder scheint nun zu brechen: Wir hatten im Jahr 2005 nur noch einen Zuwanderungsgewinn von 97.000, Tendenz weiter sinkend. Wir werden bald mit feuchten Augen an die Zeiten zurückdenken, in denen wir noch relativ hohe Zuwanderungsgewinne hatten.
Das Parlament: Also brauchen wir in Zukunft mehr Zuwanderung?
Klaus J. Bade: So einfach kann man das nicht sagen, denn die Zuwanderung kann die Verschiebung der Altersstruktur durch den demografischen Wandel ja nicht balancieren. Wir brauchen vor allem die richtige Zuwanderung. Nach einem jahrzehntelang durch die Arbeitskräfteanwerbung organisierten und in Gestalt des anschließenden Familiennachzugs verstärkten Unterschichtenimport brauchen wir heute keine Zuwanderung von Unqualifizierten oder für die Wissensgesellschaft unzureichend Qualifizierten mehr, denn davon haben wir leider zu viele. Wir müssen alles da-ran setzen, diese Menschen durch Angebote nachholender Integrationspolitik so weit zu qualifizieren, dass auch sie am Arbeitsmarkt teilhaben können. Das gilt übrigens nicht nur für Menschen mit Migrationshintergrund. Anwerben müssen wir vor allem hoch- und höchstqualifizierte Zuwanderer, zumal wir in diesem Bereich einen starken und wachsenden Abstrom ins Ausland haben. Ein Beispiel: Bald werden wir in Deutschland unter einem gravierenden Ärztemangel leiden, dramatisch ist er bereits in den ländlichen Regionen der neuen Bundesländer. Dabei müsste das nicht sein. Wir haben zum Teil sogar schon geeignete Zuwanderer im Land, nur tun wir nicht genug für sie.
Das Parlament: Wo liegt das Problem?
Klaus J. Bade: Es kommen zum Beispiel Menschen, die zwar einen Abschluss als Mediziner haben, den wir aber nicht anerkennen. Zugleich verstehen sie nicht ausreichend Deutsch, um die nötige Zusatzqualifikation zu bewältigen, die es außerdem kaum kostenlos gibt. Also werden sie Taxifahrer oder Hausmeister. Wir haben an den Schulen zudem einen gewaltigen Mangel an Lehrkräften in den naturwissenschaftlichen Fächern. Gleichzeitig haben wir viele naturwissenschaftlich ausgebildete Zuwanderer zum Beispiel aus den GUS-Staaten unter uns, die bei gutem Willen auf beiden Seiten in kurzer Frist zum Beispiel zu Physiklehrern umgeschult werden könnten. Das Potenzial ist da, aber wir vergeuden es.
Das Parlament: Tun wir also zu wenig für die gut ausgebildeten, die hoch qualifizierten Kräfte?
Klaus J. Bade: In der Tat. Nicht nur, dass uns viele gute Leute weglaufen. Auch die Besten in der Welt machen einen Bogen um Deutschland und gehen lieber nach England oder die Vereinigten Staaten. Wir bekommen nur die zweite Garnitur, aber auch die ist noch ein Gewinn für unser Land. Es gibt auf der Welt inzwischen einen regelrechten Migrationsmarkt. Auf dem müssen wir die Attraktivität des Standortes Deutschland - und er ist attraktiv - endlich auch in geeigneter Weise darstellen. Wir müssen dazu auch flexible gesetzliche Voraussetzungen für Zuwanderungssteuerung entwickeln. Dabei haben wir zuletzt gravierende Fehler gemacht.
Das Parlament: Sie meinen das Zuwanderungsgesetz?
Klaus J. Bade: Ja, wir haben bei diesem im Kern hervorragenden Gesetz in der letzten Phase der Verhandlungen im Sommer 2004 zum Beispiel das Punktesystem wieder gestrichen. Es war nach kanadischem Vorbild konstruiert als flexibles Steuerungssystem, mit dem man jeweils den Leuten die Tür aufmachen kann, die man gerade braucht, und die heraushalten kann, die man nicht haben will. Inzwischen führen sogar die Engländer dieses Punktesystem ein, die im Wanderungsgeschehen durchaus besser aufgestellt sind als wir. Das nicht minder flexible, vom Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration 2004 vorgeschlagene System einer "Engpassdiagnose" wurde prompt als migratorisches Invasionsprogramm missverstanden und demonstrativ verworfen, der Zuwanderungsrat selber wurde gleich wieder abberufen. Er war ursprünglich gleichgestellt mit dem Rat der "Wirtschaftsweisen". Dass wir dieses höchstrangige beratende Gremium heute nicht haben, ist ein Nachteil gegenüber anderen europäischen Einwanderungsländern, die weniger Angst haben, sich in ihrer Politik kritischem Rat von außen zu stellen.
Das Parlament: Wie ist diese Zurückhaltung zu erklären? Wagt es die Politik gegenüber den Wählern nicht zuzugeben, wie sehr wir Zuwanderung brauchen?
Klaus J. Bade: Das war lange so, aber das hat sich trotz mancher Stolperschritte zunehmend geändert. Die Politik agiert angemessener. Das neue Staatsangehörigkeitsrecht von 2000 und das Zuwanderungsgesetz von 2005 waren wichtige Schritte voran. Jetzt haben wir als langfristige Orientierungskonzepte den Integrationsgipfel und die Islamkonferenz. Und auch darüber hinaus signalisiert die aktuelle Politik, dass Zuwanderung nicht von Hause aus eine Gefahr, sondern eine gestaltbare Chance ist. Neuerdings wird endlich auch offen davon gesprochen, dass wir nun einmal eine Einwanderungsgesellschaft geworden sind. Der Umgang mit den Themen Migration und Integration ist also pragmatischer geworden.
Das Parlament: Das war nicht immer so. Jahrzehntelang war es besonders bei konservativen Kräften ein Tabu, von einem Einwanderungsland Deutschland zu sprechen.
Klaus J. Bade: Sicher. Als die damaligen Gastarbeiter immer mehr zu echten Einwanderern wurden, hat man ihnen nicht rechtzeitig genug deutlich gemacht, welche Voraussetzungen damit für die Zukunft verbunden sein müssen. Hier hat die Politik klar versagt. Man hätte damals, schon zum Anwerbestopp 1973, sagen können: "Wir geben euch, wenn ihr bleiben wollt, noch so und so viele Jahre, in denen werdet ihr eine höhere Qualifikation erwerben. Ihr werdet ausreichend Deutsch lernen, damit ihr auch dann, wenn eure derzeitigen Arbeitsplätze einmal wegfallen, immer noch eine Chance habt." Das ist nicht geschehen und so ist ein Problem entstanden, das in dieser Dimension jedenfalls nicht notwendig war.
Das Parlament: Halten Sie die Integration dieser frühen Zuwanderergeneration also für gescheitert?
Klaus J. Bade: Der erste Ausländerbeauftragte der Bundesrepublik Deutschland, der vormalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Heinz Kühn, hat 1979 einmal gesagt: "Was wir heute nicht in die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien investieren, das müssen wir später für Resozialisierung und Polizei bezahlen." Dass es trotz unseres langen Versagens in der konzeptorientierten Integrationspolitik nicht so gekommen ist, zeugt von der friedvollen Eingliederungsbereitschaft der Zuwandererbevölkerung in Deutschland. Auch hier kann man also eine positive Bilanz ziehen. Ein aktuelles Beispiel: Durch neue statistische Erfassungsmethoden - die wir übrigens schon vor zwei Jahrzehnten gefordert haben - hat man in diesem Jahr erstmals erkannt, dass wir 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund im Land haben. Das sind 19 Prozent der Bevölkerung! Aber niemand hatte es gemerkt. Das ist ein schlagender Beweis dafür, dass die Integration gar nicht so schief gegangen sein kann. Die Botschaft, die von den Skandalisierern nicht begriffen wird, ist diese: Gelungene Integration bleibt immer unauffällig!
Das Interview führte Johanna Metz. Johanna Metz arbeitet als freie Journalistin in Berlin.
Aus: Wir bekommen nur die zweite Garnitur, in: Das Parlament Nr. 03 / 15.01.2007, Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, Externer Link: (06.06.2011).