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M 04.01 Resilienz Das seelische Immunsystem
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Es gibt Menschen, die nichts aus der Bahn zu werfen scheint. Sie verzweifeln nicht an ihrem Schicksal, sondern wachsen sogar daran. Was unterscheidet diese Menschen von denjenigen, die mit Schicksalsschlägen hadern und manchmal sogar daran zerbrechen? Das Zauberwort lautet Resilienz:
Manche Menschen sind immun gegen Angriffe von außen. Haben solche Stehaufmännchen einfach Glück gehabt, weil ihnen diese hilfreiche Fähigkeit in die Wiege gelegt wurde, oder kann jeder lernen, resilient zu sein?
Die seelische Elastizität
"Mitten im Winter habe ich erfahren, dass es in mir einen unbesiegbaren Sommer gibt."
Was der Schriftsteller Albert Camus so poetisch ausdrückte, hat von der Psychologie einen technischen Namen bekommen: Resilienz, ein Begriff aus der Werkstoffphysik. Hier gelten Materialen als resilient, die nach Momenten der extremen Spannung wieder in ihren Ursprungszustand zurückkehren, wie etwa Gummi.
Bei Menschen funktioniert das Prinzip ähnlich: Resiliente Menschen besitzen eine seelisch hohe Widerstandskraft und Beweglichkeit und sind deswegen psychisch immun gegen die Angriffe des Schicksals. Diese Stehauf-Menschen erholen sich nicht nur erstaunlich schnell von extremen Stresssituationen, sondern gehen ganz im Sinne Camus' sogar gestärkt aus ihnen hervor.
Vom Straßenkind in Afrika zum Lehrer in Deutschland
Solch ein resilienter Mensch ist auch Philip Oprong Spenner. Spenners Kindheitsgeschichte klingt hoffnungslos: Früh verliert er seine Eltern, von der Tante wird er vernachlässigt, ausgebeutet, sogar geschlagen und schließlich verstoßen.
Spenner landet auf den Straßen Nairobis, doch im Gegensatz zu vielen anderen Kindern hier lässt er sich nicht von den kurzen Kicks der Drogen verführen. Er lernt, dass er sich nicht aufgeben darf: Innerlich sei er "immer ein König" gewesen, sagt Spenner über seine schwere Kindheit. Diese große Kraft hilft ihm schließlich, von der Straße wegzukommen.
Im Waisenhaus ist sein Weg wieder steinig: Aufgrund seiner Herkunft aus Uganda bleibt er auch hier Außenseiter. Doch anstatt zu verzweifeln, setzt sich Philip als Heimältester für die anderen Kinder ein. Er darf zur Schule gehen und wird durch ein Patenschaftsprogramm von dem Hamburger Arzt Robert Spenner unterstützt. Ein Plattenspieler wird bei einer Hip Hop Veranstaltung durch einen DJ beim Scratching stark in Anspruch genommen
Als dieser ihn später sogar adoptiert, kann Philip nach Deutschland kommen. Er studiert und wird Lehrer. Sein Beruf ist für ihn Berufung, denn hier, an einer Hamburger "Problemschule", kann er seine Stärke weitergeben, dazu beitragen, dass seine schwierigen Schüler vielleicht auch resilient werden.
Eine seltene Gabe?
Philip Spenner ist ohne Frage ein besonderer Mensch. Wie konnte er so vielen Lebensstürmen standhalten? Was unterscheidet Spenner von anderen? Ist er einer unter wenigen auserwählten Stehaufmännchen? Mitnichten. Eine Vielzahl psychologischer Studien konnte bereits belegen, dass nicht alle Betroffenen von traumatischen Ereignissen dauerhaft psychisch geschädigt werden.
Im Gegenteil: Es sollen weniger als 30 Prozent sein, die Schicksalsschläge nicht verarbeiten können, egal, ob es sich dabei um eine Umweltkatastrophe, um Scheidung, eine Krankheit, den Tod eines Angehörigen oder Arbeitslosigkeit handelt, so der US-amerikanische Psychologe George A. Bonnano.
Kinder der hawaiianischen Insel Kaua
Seitdem in den 1950er Jahren die amerikanische Psychologin Emmy Werner mit ihrer Langzeitstudie über hawaiianische Kinder begann, haben viele Forscher die Resilienz für sich entdeckt. Werner hat in ihrer "Kauai-Studie" den gesamten Geburtsjahrgang 1955 der Insel Kauai von ihrer Geburt an 40 Jahre lang begleitet.
Insgesamt waren das 700 Kinder. 30 Prozent dieser Kinder wuchsen unter sehr schwierigen Bedingungen auf: Sie waren sehr arm oder kamen aus Familien, die dauerhaft stritten oder in denen die Eltern psychisch krank waren. Von diesen Risikokindern entwickelte sich jedoch ein Drittel erstaunlich gut. Werner widerlegte so die Annahme, dass sich Kinder aus Risikofamilien zwangsläufig schlecht entwickeln.
Was unterschied das Drittel resilienter Kinder von den anderen? Werner erkannte bei ihnen soziale und individuelle Schutzfaktoren: Eine stabile Beziehung zu einer Vertrauensperson außerhalb der dysfunktionalen Familie war Halt und soziales Vorbild zugleich.
Außerdem mussten diese Kinder früh Verantwortung übernehmen, wurden also gefordert. Schließlich spielt auch das Temperament eine Rolle: Die resilienten Kinder aus der Studie verfügten über ein eher ruhiges, positives Temperament und verhielten sich gegenüber anderen Menschen offen.
Ein weiteres erstaunliches Ergebnis der Kauai-Studie: Die genannten Schutzfaktoren wirken auch noch bei Erwachsenen. Ein großer Teil der Probanden, die im Jugendalter durch delinquentes Verhalten auffiel, konnte im Erwachsenenalter das eigene Leben in positive Bahnen lenken.
Ist Resilienz erlernbar?
Die Ergebnisse der Resilienzforschung machen Hoffnung – auch wenn man nicht zu den Menschen gehört, denen Resilienz in die Wiege gelegt wurde. Unter bestimmten Voraussetzungen kann fast jeder sein seelisches Immunsystem aufpäppeln - wie die Kinder aus der Kauai-Studie. Denn Resilienzforscher sind überzeugt davon, dass resilientes Verhalten erlernbar ist. Am besten sollten schon Kinder damit anfangen.
Ursula Nuber, Diplompsychologin, Psychotherapeutin und stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift "Psychologie heute", hält dabei drei Dinge für wichtig: Man solle ein Kind für das loben, was es leistet, und nicht für seine Eigenschaften. 'Die Zeichnung ist dir gut gelungen' sei also besser als 'Du bist so begabt'. So lernt es, Vertrauen in seine Kompetenz zu entwickeln.
"Ein Kind sollte außerdem wissen, dass es immer verschiedene Sichtweisen auf eine Situation gibt", sagt Nuber. "Und drittens ist es wichtig, dass ein Kind angeleitet wird, Freundschaften zu finden und zu pflegen."
Erwachsenen, die resilient werden wollen, rät Ursula Nuber: "Ganz wichtig ist es, nicht in selbstschädliches Grübeln zu verfallen. Die Gedanken, die wir uns zu einem Geschehen machen, verursachen Gefühle - und diese wiederum leiten unser Handeln."
Wenn ein Mensch also etwa glaube, dass er vom Pech verfolgt sei, mache ihn das verzweifelt und lähme seine Handlungsfähigkeit. "Denkt er dagegen: 'Dieses Mal hatte ich Pech', ist seine Stimmung zuversichtlicher, und er hat Hoffnung, die Situation beherrschen und verbessern zu können."
Die amerikanische Psychologenvereinigung hat sogar eine Anleitung zum Erlernen von Resilienz herausgegeben. Laut "road to resilience" sollen folgende Verhaltensweisen zum Ziel führen: Sorge für dich selbst, glaube an deine Kompetenz, baue soziale Kontakte auf, entwickle realistische Ziele, verlasse die Opferrolle, nimm eine Langzeitperspektive ein, betrachte Krisen nicht als unüberwindbares Problem.
Grenzen der Resilienz
Auch wenn die Forschung die ermutigende Botschaft von der Erlernbarkeit der Resilienz verkündet, zeigen ihre Ergebnisse ebenso die Grenzen der Machbarkeit auf. Das wird deutlich, wenn man die Kernpunkte zum Resilienzerwerb genauer unter die Lupe nimmt: Einige Leitsätze lassen sich mit viel Mühe umsetzen, geht es dabei doch um konkretes Verhalten wie die Sorge um sich selbst und den Aufbau sozialer Kontakte.
Andere Aspekte jedoch finden hauptsächlich auf emotionaler Ebene statt und sind demnach nicht so leicht zu beeinflussen. "Nicht alles ist beherrschbar und manches ist so unerträglich, dass es zynisch wäre, von einem Menschen resilientes Verhalten zu erwarten", warnt Ursula Nuber.
Glaube an deine Kompetenz! Sei kein Opfer! Eine derartige Lebenseinstellung ist eben schwer von jemandem zu erwarten, der von Kindheit an auf der Verliererseite stand und dem das Leben keine Chance gab. Der amerikanische Resilienzexperte Glen Elder erinnert in der Zeitschrift "Psychologie heute" an die Unberechenbarkeit des Schicksals: "Nicht einmal große Begabung und Fleiß garantieren, dass man die Widrigkeiten des Lebens meistern kann - wenn die Chance dazu fehlt."
Das Leben meinte es auch lange Zeit mit Philip Oprong Spenner nicht gut. Seine Geschichte zeigt, dass neben Kampfeswillen und Lebensmut noch ein dritter Faktor hinzukommt, damit aus einem benachteiligten Kind ein resilienter Erwachsener werden kann: Glück. Das Waisenkind aus Afrika hatte das Glück eine herausragende Vertrauensperson wie seinen Paten und späteren Adoptivvater kennenzulernen.
Für seine Schüler will Spenner genau diese Vorbildfunktion einnehmen. Diese Schüler haben definitiv Glück und eine realistische Chance auf Resilienz, denn "nichts kann den Menschen mehr stärken als das Vertrauen, das man ihm entgegenbringt" (Paul Claudel, französischer Dichter und Diplomat).
Autorin: Melanie Kuss ©
Hinweis: Den Text der Autorin findet man ergänzt um erklärende Filme auf der Internetseite von „planet wissen“: Externer Link: http://www.planet-wissen.de/gesellschaft/psychologie/glueck/pwieresilienzwasunsstarkmacht100.html
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