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M 03.04.03 Neuanfang von F. Grün 1949 in Hohenzollern-Sigmaringen - Meine Jugend- und Lehrzeit
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1949 endete die Reise der Familie Grün in Hohenzollern-Sigmaringen. Hier verbrachte Franz Grün seine Kindheit und Jugend. Auch die Institutionen Kindergarten und Schule bis hin zur Lehre als Zimmermann hat er an diesem Ort durchlaufen.
Wolfgang Sander:
Wie kam es zur Entscheidung, wie es nach der Notaufnahme auf Sylt weitergehen sollte?
Franz Grün:
Es war so: Die Insel war ja überfüllt mit Flüchtlingen und Vertriebenen und wir waren katholisch und hier oben war fast alles evangelisch. Dann hat man die Möglichkeit gekriegt vielleicht Dezember 48, Anfang 49, dass man sich irgendwo in ein anderes Land bewerben kann. Und dann hat der Vater sich beworben und darum bemüht, dass wir in eine katholische Gegend kommen. Ich nehme an, das muss Mai rum gewesen sein 1949. Dann hat man ihm angeboten, er könnte in den bayerischen Wald als Holzhauer als Holzarbeiter, weil er Landwirt war und einen eigenen Wald hatte. Und dann hat er gesagt, er möchte nicht wieder so nah an die Ostgrenze. Da haben sie gesagt, Hohenzollern gibt es auch noch. Da hat er gesagt, da sind die Preußen, da gehen wir hin. Dann hat er sich beworben im Kreis Sigmaringen, und da sind wir dann hingekommen, da sind wir mit dem normalen Zug hingebracht worden. In Ablach war das Tolle, dass wir alle untergebracht worden sind im Tanzsaal des Gasthauses "Adler" und da war ein Lager hergerichtet mit Stroh und ein bisschen Säcke drüber oder so. Auf jeden Fall, wir konnten gut liegen. Dort haben wir morgens, mittags und abends Essen bekommen, es war also vollverpflegt für vier Wochen schätze ich etwa. Wir waren sehr dankbar.
Endlich wieder eine eigene Wohnung - in einem alten Speicher
Wolfgang Sander:
Mit wie viele Personen waren Sie dann da?
Franz Grün: Da waren etwa 30 bis 35 Personen, die vom Lager gekommen waren. Mit Sicherheit fünf Familien, etwa vier Familien von unserem Dorf direkt und dann waren noch mal vier andere, die waren nicht von unserem Dorf… Dann wurden wir im Dorf weiter verteilt. Wir haben in der Schule zwei Zimmer gekriegt und zwar im ersten Stock, erstes Obergeschoss und da hat man eins mehr oder weniger als Schlafraum benutzt. Und da haben wir alle so auf dem Boden gelebt. Wir haben ja nichts gehabt und dann haben wir versucht, was zu bekommen da und dort. Der Vater ist nach Sigmaringen mit dem Fahrrad gefahren und hat versucht, da in so einem alten Secondhand-Geschäft oder was das war, wo sie alte Möbel und so Zeugs verkauft haben, was zu kriegen. Da haben wir was bekommen und dort was. Dann haben wir es getragen die 8 km von Sigmaringen nach Ablach durch den Wald. Man hat ja kein Geld gehabt, um den Transport zu bezahlen. Und so sind wir ganz langsam hochgekommen. Und dann hat der Vater in Ablach im Wald gearbeitet. Dann hat der Arbeitskollege Otto Waibel, der einiges jünger wie mein Vater war, gesagt: "Du, ich hab so einen alten Speicher da hinten noch von meinen Großeltern, der war zwar die letzten Jahre nicht bewohnt, aber wenn ihr wollt, da sind drei oder vier Zimmer drin und ein offenes Kamin in der Küche, also so kein Kamin, sondern so ein Trichter nach oben, wo es dann abzieht." Und dann hat der Vater das genommen. Da haben wir noch einen kleinen Stall gebaut dazu und ein Schwein gehalten und etwas Geflügel.
Schule und Freunde
Wolfgang Sander:
In der Dorfgemeinschaft muss man ja auch sehen, dass man dazwischen kommt und Freunde gewinnt.
Franz Grün: In der Dorfgemeinschaft und in der Schule sind wir zunächst ausgesondert worden.
Wolfgang Sander:
Ja, das war damals häufig so, dass die Flüchtlinge als Fremdkörper empfunden wurden.
Franz Grün:
Da gab es nur eins: In der Schule aufpassen. Der Lehrer hatte 118 Schüler, in 8 Klassen; aber nur 2 Klassenzimmer. Am Anfang hatten wir mal Kopfrechnen. Der Lehrer sagte: "88 und 66 sind?" [mit schwäbischen Dialekt]. Ich habe darauf gesagt "Herr Lehrer, was haben sie gesagt? Ich habe kein Wort verstanden." Er hat sich dann bemüht einigermaßen Schriftdeutsch zu sprechen. Und so haben wir uns so langsam eingearbeitet und sind dann anerkannt worden. Und da hat man gemerkt, die sind ja gar nicht so blöd und dann sind wir anerkannt gewesen. Neben der Schule haben wir zusammen mit anderen Kindern noch viel auf Bauernhöfen mitgearbeitet. Geld gab es nicht, aber gutes Essen, das war damals viel wert.
Ich hab Freunde gehabt, alles Jungens, die dort zu Hause waren, dort geboren sind in Ablach. Aber das war so keine Freundschaft, wo man sagt, das ist wirklich eine Freundschaft, die über das Leben geht. Es ist eine lose Freundschaft. Ich komme mit allen gut aus heutzutage, aber ich hab mit niemandem näher irgendwo so, dass man zusammenhockt und so weiter. Wir machen zwar unsere Jahrgangstreffen, aber sonst ist da nicht viel. Ich telefoniere teilweise mit Schulkollegen und Kolleginnen; bin aber noch nie von denen angerufen worden.
Meine Lehre als Zimmermann (1952 bis 1955) – eine harte Zeit
Ich hab dann in Ablach meine Schule fertig gemacht. Bin aber insgesamt durch Krieg und Vertreibung nur fünfeinhalb Jahre in die Schule gegangen. In Ablach hat der Lehrer mich noch ein Jahr vorversetzt, aber ich kam trotzdem nur aus der 7. Schulklasse raus. Er durfte mich nicht mehr weiter vorversetzen. Ich hätte noch ein Jahr länger machen können, dass ich in die 8. Schulklasse gekommen wäre. Aber man hat auch gesagt, was soll das, das bringt nichts. Ich hab durch einen Cousin eine Lehrstelle bekommen, als Zimmermann. Alle anderen meiner Alterskollegen damals haben ein bis zwei Jahre warten müssen und ich hab sofort anfangen können im Mai 1952, als Zimmermann-Lehrling.
Bis zur Gesellenprüfung 1955 habe ich den Beruf gelernt. Im ersten Jahr hat meine Mutter immer gesagt, unser Fränzchen wird es nie schaffen, das ist unmöglich, wenn du den siehst, wie der den Berg hochkommt. In Ablach ging es mit Sicherheit 100 Meter den Berg hoch, da musste man das Fahrrad schieben – mit dem heutigen Fahrrad im ersten Gang kämst du hoch - aber damals hab ich das Fahrrad hochgeschoben. Ich muss daher gekommen sein wie das letzte Elend, keine Kraft und nichts. Mit 14 habe ich 120 Pfund gewogen und mit 16 hatte ich 160 Pfund: Ich musste "fressen" auf Deutsch gesagt, wie ein Stier, dass ich das geschafft habe, die 10 Stunden arbeiten, das Holz hin und her schleppen. Es gab keinen Aufzug, es gab keinen Kran, nichts, alles von Hand hoch stemmen oder mit dem Seil oder drunter stehen. Wer muss drunter stehen? Der Jüngste. Die anderen, die mit 30, die waren sich zu schade dafür, die konnten das nicht. Auf jeden Fall hab ich das geschafft, hab Zimmermann gelernt und dann habe ich die Prüfung ganz ordentlich gemacht.
Und dann habe ich mir gedacht: Mensch, das ist nichts, selbstständig machen, hast kein Geld, denn als Zimmermann musst du eine Werkstatt haben, du musst einen Abbundplatz haben, musst Maschinen haben und alleine geht’s auch nicht, musst mit mindestens drei bis vier Leuten sein. Wir waren ein Betrieb mit 22 Leuten, da lief alles…
Der Sport
F. Grün als Sportler (1958) (© Sander/Grün)
F. Grün als Sportler (1958) (© Sander/Grün)
Wolfgang Sander:
Mit Sport kommt man auch gut dazwischen, oder?
Franz Grün: Ja klar. Ich hab meinen Leben lang Sport gemacht. Das war für mich so ein Sprungbrett. Ich hab sowieso gern Bewegung gehabt und ich hab Fußball gespielt.
Später habe etwa drei bis vier Jahre Leichtathletik betrieben und nachdem Faustball in der Polizeimannschaft in Baden-Württemberg gespielt; dabei kamen wir u.a. nach Österreich, in die Schweiz und verschiedene andere Bundesländer. Ich war also immer sportlich. Später wieder Fußball gespielt, als wir ins Dorf kamen. Wir haben im Bereich Stockach in einem Dorf gebaut. Sehr vieles selbst gefertigt; alleine für den Rohbau drei Jahresurlaube geopfert. Wir sind in dem Dorf - mit damals ca. 500 Einwohnern - als "Reingeschmeckte" gut aufgenommen worden. Nach dem Einzug in unser neues Haus (1973) habe ich mich gleich im Sportverein angemeldet und habe mit denen Fußball gespielt und es hat Spaß gemacht So bin ich reingekommen, so richtig, richtig anerkannt worden… Seit etwa 18 Jahren habe ich hier in der Tennismannschaft gespielt.
Die Religion
Wolfgang Sander:
Welche Rolle spielt die Religion, auch um dazwischen zu kommen?
Franz Grün: Religion spielt bei mir eine ganz, ganz große Rolle. Unser Glaube an Gott hat uns gerade in ausweglosen Situationen geholfen, die Hoffnung nicht aufzugeben, dass es wieder besser wird. Ich gehe jeden Sonntag in die Kirche, ich bin gläubig. Auch damals in Göppingen bin ich jeden Sonntag in die Kirche gegangen. Ich hab das damals so toll gefunden, die Predigten von den jungen Vikaren, Pfarrern und dem Stadtpfarrer von Göppingen, jeder hat so ein bisschen ein anderes Ding gehabt. Aber niemand von diesen Pfarrern hat damals so richtige Bibelpredigt gemacht, sondern Predigt und Bibel verbunden mit dem Menschenleben, mit der Psyche und mit allem Drum und Dran. Richtig toll, da hast du richtig was mitnehmen können. Und dann bin ich ja mal bei meiner Frau in der Kirche gewesen, wo sie her stammt aus dem Dorf, da war der alte Pfarrer Karer, der hat gepredigt, geschimpft von der Kanzel runter. Ich hätte als Auswärtiger fast gewusst, wen er meint. Katastrophal, aber so unterschiedlich ist es.
Quelle: Interview mit Franz Grün* vom Sommer 2015, durchgeführt von Wolfgang Sander (*Name von der Redaktion geändert)
Arbeitsaufträge für die Arbeitsgruppe 3: Meine Jugend- und Lehrzeit
In seinem Interview berichtet Franz Grün, wie er als Junge Vertreibung und Flucht nach dem 2. Weltkrieg erlebt und überstanden hat. Er geht auf vier wichtige Lebensabschnitte ein:
Meine Kindheit und Kriegserlebnisse in Pommern (1939 -1945)
Unsere Flucht in Richtung Westen 1946: ein Leben in Notunterkünften und Massenlagern
Neuanfang 1948 in Hohenzollern-Sigmaringen: Meine Jugend- und Lehrzeit
Mein Berufswechsel (1957): als Zimmermann zur Polizei
Deine Arbeitsgruppe 3
befasst sich mit der Jugend- und Lehrzeit von Franz Grün. Die Wahl des Berufes stellt im Leben eines Jugendlichen eine wichtige Aufgabe dar, die häufig in mehreren Schritten angegangen wird. Der Einstieg erfolgt häufig über eine Lehre, in der der Jugendliche sich mit dem Arbeitsleben, seinen Regeln, Belastungen und den sozialen Beziehungen zu den Vorgesetzten und den Kollegen vertraut macht. Dass er zusammen mit anderen produktiv tätig sein kann und muss, was mit zeitlichen, sozialen, körperlichen und finanziellen Zwängen verbunden ist, hat er so in der Schule bisher noch nicht erfahren. Am Beispiel von F. Grün kannst du nun untersuchen, was der Einstieg in das Arbeitsleben für einen 14-jährigen Jungen im Jahre 1957 bedeutete, der zudem Heimatvertriebener, also zunächst fremd am Ort war und irgendwie "dazwischen kommen musste".
Liste mit Hilfe des Auswertungsblattes "Meine Jugend- und Lehrzeit" die wichtigen Ereignisse auf und notiere, ob der Erzähler diese eher positiv (+) oder eher negativ (-) einschätzt.
Untersuche, welche Rolle der Aufbau und Pflege sozialer Kontakte und Beziehungen in dem neuen Ort gespielt haben, um als Neuankömmling dazwischen zu kommen. Fasse die Ergebnisse thesenartig zusammen.
Erkläre mit Hilfe der soziologischen Begriffe – soweit sinnvoll - wie soziale Gruppe, Norm, abweichendes Verhalten, Sanktion, Entwicklungsaufgabe, Identifikation, Krise, Durchhaltevermögen (Resilienz) (s. Baustein 2) die Überlebensstrategien von Franz Grün und seiner Familie in den verschiedenen Situationen. Notiere die Ergebnisse stichwortartig in der Spalte "sozialwissenschaftliche Deutungen" des Auswertungsblattes. Bereite deinen Bericht für die Klasse vor.
Vergleiche die Ergebnisse deiner Gruppe mit denen der anderen und nutze sie, um dir ein zusammenhängendes Bild davon zu machen, wie F. Grün (und seine Familie) Konflikte und Krisen überwunden hat.
Das Arbeitsmaterial Interner Link: M 03.04.03 Neuanfang von F. Grün 1949 ist als PDF-Dokument abrufbar.
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