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M 03.03.05 Cornelia Dazer: Abschied und Ankommen
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Nachdem die Familie die DDR verlassen durfte, mussten sie sich im Westen ein komplett neues Leben aufbauen. Dafür spielten sowohl soziale Beziehungen als auch die Hilfsbereitschaft der Menschen in Westdeutschland eine wichtige Rolle. Besonders interessant ist der Fakt, dass die Familie Dazer später nach der Rückkehr in ihre „alte“ Heimatstadt mit Vorurteilen und Anfeindungen zu kämpfen hatte.
War es eine schwierige Entscheidung, die DDR im Mai 1989 zu verlassen?
Es war keine schwierige Entscheidung, die DDR zu verlassen. Es war Freude pur, aber die anderen haben alle geweint. Die Familie hat geweint, die zurückbleiben musste. Meine Mutter war am schlimmsten. Sie ist sehr emotional geworden, aber sie wollte uns einfach nicht verlieren, weil sie ja auch dachte, dass sie uns nicht wieder sieht. Zu diesem Zeitpunkt dachte niemand an Grenzöffnungen. Man kannte diesen eisernen Staat, der nie Zugeständnisse gemacht hat in punkto Freiheit.
Als wir mit dem Bus rübergefahren sind und der Busfahrer im Niemandsland sagte: „Jetzt sind sie frei!“ und Christian mit seinen 7 Jahren sagte: „Jetzt sehe ich aber meine Oma und Opa nicht wieder.“ - da wurde im Bus natürlich geweint. Eine Freundin von mir verließ die DDR einen Tag vor uns, und ich konnte sie noch informieren, dass wir ebenfalls die Ausreisegenehmigung bekommen hatten. Wir sind dann also über die Grenze und in Duderstadt sind wir ausgestiegen. Dort standen meine Freundin, ihr Mann und die Kinder mit Sekt und Bananen, und dann sind wir zu ihrer Oma und haben dort gefeiert.
Danach kamen wir nach Gießen in ein Aufnahmelager. Dort hatten wir keine Betten und haben auf dem Flur übernachtet. Aber ich nahm das alles gerne in Kauf. Der Mann von meiner Freundin hatte bereits einen Job in Bad Homburg, und er kam mit seinem Chef zu uns ins Aufnahmelager. Dieser Chef lud uns alle zum Essen zum Chinesen ein. Schließlich stellte sich heraus, dass es ein Einstellungsgespräch war. Wir waren drei Tage im Aufnahmelager. Der neue Chef meines Mannes kümmerte sich, sodass wir schließlich nach Offenbach kamen. Es war Sommer, und ich war in einem umgebauten Hotel mit meiner Familie untergebracht. Dort erlebte ich unangenehme Sachen. Der Hotelbesitzer verbot zum Beispiel, dass Kinder in der Mittagszeit Krach machen durften.
Habt ihr euch fremd gefühlt in Westdeutschland?
Ja, die Anfangszeit ist schwer, und man musste sich an vieles gewöhnen. Zum Beispiel die Wohnungssuche hat uns nicht gefallen. Aber es hat sich alles zum Guten gewendet. Wir hatten beide einen Job, und das Kind ging in die Schule.
Wie lange hat es gedauert, bis ihr euch eingelebt und wieder Freunde gefunden hattet?
Es hat ein Jahr gedauert. Das Schwierigste war die Wohnungssuche. Im Arbeitsort meines Mannes bekamen wir eine Wohnung. Die war fürchterlich und musste erst schön gemacht werden. Drei Wochen später kam meine Schwester, und wir waren nicht mehr alleine. Nach Berlin zum Bruder meines Mannes haben wir uns gar nicht getraut. Als meine Schwester kam, war das jedoch die größte Freude meines Lebens.
Aber - wir waren von der Freundlichkeit der Menschen überwältigt. Wir bekamen viel Hilfe. Schwierig war es mit dem Vermieter. Es war eine Staffelmiete aufgezeigt, da ich sowas nicht kannte, war ich geschockt. Vor allem für so eine furchtbare Wohnung so viel Geld. Hätte nur einer von uns Arbeit gefunden, wäre es wohl schwierig geworden. Dann habe ich beim Zahnarzt angefangen. Unser Sohn Christian hat viel gesehen, was er vielleicht hätte haben wollen. Aber er war sehr verständnisvoll und hat früh verstanden, dass er nicht alles bekommen kann, was er sieht. Wir sind nur mit fünf Koffern rüber. Wir mussten alles neu anschaffen. Wir sind dazu immer auf den Flohmarkt und haben uns dort Alltagsgegenstände besorgt. Wir mussten bei Null anfangen.
Als ihr nach 10 Jahren zurück nach Ostdeutschland gezogen seid, gab es da Probleme?
1999 sind wir zurück nach Nordhausen gezogen, da ich nochmal schwanger wurde und wir die Möglichkeit bekamen günstig ein Haus zu kaufen. Dies wäre im Großraum Frankfurt nicht möglich gewesen und wir wollten, dass unsere Tochter in einem behüteten Umfeld aufwächst. Das war nicht nur ein Schritt zurück, es waren hundert Schritte zurück. Dieser Ost – West Konflikt, das habe ich im tiefsten Hessen nicht so erlebt. Alle dachten, wir seien „reiche Wessis“. Neid war vermutlich auch dabei. Wenn man mit den Leuten ins Gespräch kam, die nie weg waren, dann hörte man oft, dass die sich zurücksehnten - nach dieser Geborgenheit, dass einem alles gesagt wird, dieses Unbeschwerte und sich nicht selber drum kümmern müssen: Das war in dem Moment für diese Leute weg. Mich hat dieses Denken jedenfalls sehr gestört. Dieses Gehetze auf Wessis hat mich auch sehr gestört. Umgekehrt habe ich das im Westen nicht erlebt.
Wie hat sich das geäußert?
Wenn man sich unterhalten hat, zum Beispiel mit meiner Mutter oder anderen Leuten. Dann hieß es oft: „Ja, die blöden Wessis, die machen hier alles platt.“ Dass aber die Stasi-Leute in den Ämtern wieder groß geworden sind, die viel unsozialer und schlimmer waren, das konnte ich nicht begreifen. Politische Diskussionen habe ich in solchen Situationen gemieden. Es war zu unsachlich diese Hetze, so nach dem Motto: „Es kann ja nur ein Wessi gewesen sein“. Wir haben es anders erlebt. Wir selbst hatten insgesamt wenige persönliche Angriffe.
Quelle: Interview mit Cornelia Dazer vom 16.03.2016, durchgeführt von Cornelius Knab
Aufgaben:
Stelle dar, welchen inneren Konflikt Cornelia Dazer zu ertragen hatte, als sie sich zur Ausreise entschloss. Verweise auf die entsprechenden Sätze im Interview.
Arbeite heraus a) wie die Aufnahme im Auffanglager und im Hotel auf sie gewirkt hat und b) was ausschlaggebend war, dass sich dann „alles zum Guten gewendet“ hat.
Charakterisiere die Gründe, die sie für die Rückkehr nach Thüringen nennt. Vergleiche sie mit denen für die Ausreise aus der DDR.
Stelle dar, wie Cornelia Dazer die soziale Situation in ihrem neuen Wohnort in Thüringen charakterisiert und welche Spannungen bzw. Konflikte (u.a. Ost–West) sie wahrnimmt. Welcher Zusammenhang zur politischen Sozialisation im Jugendalter ist erkennbar?
Formuliere Thesen zum Thema: Was mich am Lebensweg von Cornelia Dazer beeindruckt hat (was nicht). Was mir dieser Fall für meine eigene Situation zu denken gibt.
Das Arbeitsmaterial Interner Link: M 03.03.05 C. Dazer: Abschied und Ankommen ist als PDF-Dokument abrufbar.
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