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Repräsentationslücke, Responsivitätsprobleme und Wahlen: Überlegungen zu den Erwartungen an eine Wahlvorbereitung in und außerhalb von Schule
Inhalt:
Politisch-kultureller Wandel und neue Konfliktlinien
Eine paradoxe Ausgangslage für die Wahlvorbereitung
Politikbildnerische Handlungsfelder im Kontext von Wahlen
Aufbau des Unterrichtsprojektes
Literatur
1. Politisch-kultureller Wandel und neue Konfliktlinien
Seit dem Jahr 2014 wandeln sich in der Bundesrepublik Deutschland gesellschaftliche Konfliktlagen auf eine Weise, die nachhaltig auf die Wahrnehmung des politischen Systems sowie der politischen Eliten und des repräsentativen Prinzips in der pluralistischen Demokratie wirkt. Dies führte bei steigender Wählermobilisierung zu veränderten Wahlausgängen bei Kommunal- und Landtagswahlen mit - zum Teil hohen - Anteilen von Protestwählern, insbesondere Wählern rechtspopulistisch orientierter Parteien.
Die jüngere polarisierende Entwicklung der Parteiensysteme in den europäischen Demokratien zeichnet sich schon seit längerer Zeit ab und wird bereits seit Beginn der Nullerjahre in der Politikwissenschaft diskutiert. Die Parteienforschung erklärt hier das Entstehen neuer europaskeptischer bis -feindlicher Parteien als eine Entwicklung, die aufgrund der fortgesetzten Unmöglichkeit einer politischen Konfliktbearbeitung auf EU-Ebene in die Mitgliedstaaten zurückstrahlt und sich dort zwischenzeitlich in einen Konflikt um die Mechanismen der Demokratie und um die Responsivität der Regierungssysteme insgesamt transformiert hat (Kriesi et al. 2006). Im Zuge der europäischen Krise wurde dann zunehmend offensichtlich, dass es vor allem die europäische Mehrebenenpolitik war, die die „Durchlöcherung des Responsivitäts-Accountability-Mechanismus“ in den nationalen Regierungssystemen verschärft hatte (das wirksame „Zur-Rechenschaft-Ziehen-Können“ der politischen Entscheider, s. Franzmann i.E.; Szukala 2012), Höpner spricht sogar von einer „Radikalisierung“ des Demokratiedefizites durch die Krise (Höpner 2015).
In jüngerer Zeit wird schließlich auch im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit präsent, dass in den neuen Polarisierungen eine von den etablierten Parteien auf dem rechten und linken Flügel des Parteiensystems bislang nicht bearbeitet Konfliktlinie, die Konfliktlage um Europäisierung und Globalisierung, aufgenommen wird. Bornschier nennt sie eine „neue kulturelle Konfliktlinie“ zwischen Vertretern libertär-universalistisch-kosmopolitischer und traditionalistisch-kommunitaristischer Werte (Bornschier 2010). Diese Wertekonflikte verlaufen quer zur Rechts-Links-Achse des Parteiensystems und kristallisieren sich zum einen um den demokratischen Umgang mit den Auflösungserscheinungen des nationalstaatlichen Containers und mit der Verteilung von ökonomischen Gewinnen und Verlusten im Kontext seiner Entgrenzungen. Zum anderen werden Fragen der Identitäten und des Zusammenhaltes in durch Individualisierung, Instabilität und Pluralisierung geprägten Gesellschaften thematisiert (Aschauer 2017). Diese Konflikte artikulieren sich weitgehend getrennt zu den traditionellen, die europäischen Gesellschaften prägenden Cleavages zwischen Staat-Kirche, Arbeit-Eigentum, Zentrum-Peripherie. Für letzteren Konflikt sind freilich doch einige Parallelen zur heutigen Entfremdung großer Teile der Bevölkerungen von den urbanen, gebildeten Eliten der Parteien zu beobachten (Lipset/Rokkan 1967). In diese Repräsentationslücke in den Parteiensystemen stoßen die populistischen Parteien mit ihren überwiegend ethno-nationalistischen Vergemeinschaftungsnarrativen und Angeboten einer politischen Beheimatung (Merkel 2017).
2. Eine paradoxe Ausgangslage für die Wahlvorbereitung
Aus dieser komplexen Gemengelage ergibt sich ein schwieriges und teilweise paradoxes Bild für die Wahlvorbereitung der nächsten Wahlen. Denn wie gesehen bleiben die populistischen Bewegungsparteien nicht nur bei der Ablehnung bestimmter Outputs des Regierungssystems (wie beispielsweise spezieller Entscheidungen im Kontext der Fluchtbewegungen aufgrund des Syrienkonfliktes) sowie seiner parteienübergreifend eher liberal-kosmopolitischen Eliten stehen, sondern ihre Fundamentalkritik berührt zunehmend auch die Input-Dimension des politischen Systems. Das betrifft den intrinsischen Wert und die Unterstützungswürdigkeit einer Regierungsform, die mit der oben beschriebenen Mehrebenen-Demokratie verbunden ist. Hier wird daraus eine fundamentale Systemkritik, die als Forderung nach mehr und besserer Demokratie sowie nach extensiver demokratischer Inklusion in Form von Plebisziten zur Wählermobilisierung eingesetzt wird. Neben dem anscheinend instrumentellen Charakter dieser Forderung für bestimmte Politikfelder (Landwehr et al. 2017) hat diese direktdemokratische populistische Mobilisierung zugleich das Ziel, die gegenwärtige repräsentative Demokratie zu delegitimieren und das eigene politische Handeln im Sinne einer Antipolitik gegenüber dem pluralistischen politischen Prozess zu immunisieren (Müller 2016).
Parteienwettbewerb und politische Partizipation durch Wahlen werden daher bisweilen als minderwertigere Form politischer Interessenvermittlung diskreditiert und negativ gegenüber einem „eigentlichen“, aber angeblich unterdrückten, souveränen Volkswillen konturiert, der durch die Repräsentationslücken der Mehrebenendemokratie korrumpiert wäre. Diese und andere Besonderheiten stellen Herausforderungen für die Wahlvorbereitung 2017. Zwar ist der Verweis auf Volkssouveränität der deutschen politischen Bildung eher fremd, wo eine korporatistische und föderale Tradition sowie die starke Orientierung an rechtsstaatlichen Prinzipien die Volkssouveränität aus historischen Gründen bürgerbildungspolitisch stärker einhegt als das in anderen etablierten Demokratien (s. etwas die Republik Frankreich) üblich ist (Szukala 2012). Gleichwohl nimmt politische Bildung eine ambivalente Position, auch mit Blick auf die in diesem Zusammenhang häufig geäußerte Elitenkritik ein, da ihr selbst eine Tendenz zur Kritik an Formen der etablierten Politik eignet, was zu einer pädagogisch motivierten Überhöhung der direktdemokratischen Partizipationsformen und den in diesem Zusammenhang (enttäuschungsanfälligen) demokratischen Wirksamkeitserwartungen beitragen kann.
Bei allen Aktivitäten, die sich nun beispielsweise auf die Vorbereitung der Bundestagswahl beziehen, ist daher stets im Auge zu behalten, dass auch politische Bildung bisweilen als Teil des „Machtkartells“ einer gebildeten politischen Elite gesehen wird, welche – ähnlich der Presse – auf Manipulation der Bevölkerung abzielt. Diese Wahrnehmung ist mit der gestörten Informationsprozessierung in der politischen Auseinandersetzung gekoppelt. Akteure werden verdächtig gemacht, mit korrumpierten Informationen in Bildungsprozessen umzugehen, was eine besondere Erschwernis eines Vorgehens von Bildungsseite im Kontext der anstehenden Wahlen darstellt, vor allem, wenn Wege der digitalen Wahlvorbereitung durch politische Bildung beschritten werden sollen.
3. Politikbildnerische Handlungsfelder im Kontext von Wahlen
Das Wahljahr 2017 erzeugt für politische Bildner einen Handlungs- und Erwartungsdruck unter sich wandelnden Bedingungen des Parteiensystems und der politischen Kultur, der politischen Kommunikation und Kampagnenführung sowie der Rolle, die der politischen Bildung in diesem Zusammenhang von verschiedenen Akteuren zugewiesen wird. Im Folgenden werden Handlungsschwerpunkte fokussiert, die sich aus dem vorher Gesagten ergeben:
A. Ausgangspunkt: Politische Apathie als gesellschaftliche Problemlage erscheint im Kontext einer recht erfolgreichen Wählermobilisierung und politischen Polarisierung ein Ausgangspunkt, der durch andere Zugänge zu ergänzen ist. Der direkte Zugang von Parteien zu Zwecken der Erstwählermobilisierung ist an Schulen mit äußerster Sorgfalt und Professionalität durchzuführen. Die entsprechenden Regeln werden hier zu den anstehenden Wahlen stets in Erinnerung gerufen durch Anweisungen an die Schulen, die von den Kolleginnen und Kollegen in vollem Umfang zu berücksichtigen und umzusetzen sind.
B. Die Wahl als wirksame Form politischer Partizipation: Die Wählermobilisierung und die konventionelle Partizipation stehen zwar in engem Zusammenhang, dennoch muss ganz besonders deutlich gemacht werden, welche Vorteile die Wahlhandlung gegenüber allen anderen Formen der politischen Beteiligung hat. Dabei kann es nicht darum gehen, die Nicht-Wahl zu stigmatisieren. Problematisch erscheint vielmehr die Rahmung des Wählens als eine gegenüber anderen Formen nicht hochwertigere Form der politischen Partizipation. Stattdessen soll die konventionelle Partizipationsform der Wahl deutlich mit neuen nicht-konventionellen Partizipationsformen in Beziehung gesetzt und abgegrenzt werden. Das gilt vor allem für die (Protest-)Partizipation durch digitale politische Medien. Ein großes Problem ist darüber hinaus die soziale Spaltung in Bezug auf die Wahlhandlung, die sich in die anderen Formen der Partizipation überträgt (Abendschön/Roßteutscher 2016), die eingehender thematisiert werden muss. Die schulische Wahlvorbereitung sollte daher vor allem in jenen Bezirken mit zusätzlichen Ressourcen versehen werden, in denen die sozio-ökonomischen Voraussetzungen der Wahlteilnahme besonders ungünstig sind.
C. Politische Eliten in der repräsentativen Demokratie: Bedeutsam scheint vor allem auch die Neubearbeitung der Inhalte über die Bedeutung der Wahl in der repräsentativen Demokratie in Bezug auf das politische Personal und dessen Rekrutierung und Funktionen sowie die Beziehung zwischen gesellschaftlicher Inklusion und Wahlen im Zuge der demokratischen Alternanz.
Hier müssen politische Wirksamkeit und Anforderungen an die Demokratie im Kontext der Wählervorbereitung stärker thematisiert werden. Es sollte neben den Vorteilen der Wahlhandlung klar verdeutlicht werden, dass Wahlen wirksam sind und dass Wahlversprechen in demokratischen Systemen wie dem bundesrepublikanischen von handelnden Eliten weitgehend eingelöst werden (s. „party response model“). Zudem kann forschend-lernend verdeutlicht werden, wie Bürger und Bürgerinnen die Wahl wahrnehmen, mit welchen sozialisatorischen Schritten das Wählengehen eigentlich insgesamt verbunden ist (Krebs/Szukala 2014) und wie Wähler und Wählerinnen mobilisiert werden, wenn zum Beispiel auf die Wahlnorm verwiesen wird.D. Wahlentscheidung und Informationsprobleme: In Bezug auf die Kampagnen und die Verbreitung von Informationen zur Wahl sollten die Informationsstrategien sowie die Strategien der Wahlentscheidungsfindung problematisiert werden, so dass ein metakognitiv kompetenter, mündiger Umgang mit politischen Informationen begünstigt wird. Dies kann komplementär und abgestimmt auf das Angebot Wahlomat vorgenommen werden, das hohe Mobilisierungseffekte durch die Vereinfachung des Informationsproblems bei Wahlen hat. Zugleich scheint es aber auch notwendig, dass diese niedrigschwelligen Angebote zur politischen Identitätsbildung komplementär didaktisch begleitet und verdichtet werden.
E. Filterprobleme bei der adressierten Kampagnenführung: In Kooperation mit Medienpädagogen müssen Angebote geschaffen werden, die einen informatorisch mündigen Umgang mit Technologien wie Facebook und Twitter erarbeiten helfen. Politische Bildung hat bislang hochgradig von den Filterfunktionen „seriöser“ Medien profitiert. Die ungefilterte massenmediale direkte Kommunikation zwischen politischen Akteuren und Wählern ist bislang nicht Teil der politikbildnerischen Wahlvorbereitung. Diese so genannte „vierte Phase“ der modernen Kampagnenführung muss dringend in politischer Bildung thematisiert und kanonisiert aufgenommen werden (Römmele/von Schneidmesser 2016). Hierbei wird es vor allem um den Umgang mit Fakten und mit der Personalisierung des Wahlkampfes gehen. Durch die Nutzung von Big Data kann sich eine persönliche Form der Wähleransprache ergeben, auf die bislang noch keine Vorbereitung im Kontext politischer Bildung erfolgt. Dies sollte auch didaktisch gespiegelt werden durch einen metakognitionsorientierten Zugang zum Informationsproblem im Kontext der neuen Kampagnenführung in den westlichen Demokratien.
4. Aufbau des Unterrichtsprojektes
Das vorliegende Unterrichtprojekt zur Bundestagswahl 2017 greift die oben skizzierte Problemlage thematisch wie didaktisch auf und versucht, den neuen Herausforderungen an die Wahlvorbereitung im Rahmen sozialwissenschaftlicher Bildung ein Stück weit zu begegnen.
Das Projekt gliedert sich in vier didaktische Bausteine:
Diese Bausteine sind thematisch und inhaltlich miteinander verbunden, können aber – je nach zur Verfügung stehender Zeit und den von Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schülern gewünschten Inhalten – nach eigenen Schwerpunkten gewählt, kombiniert, oder auch einzeln im Unterricht durchgeführt werden (Bausteincharakter).
An dieser Stelle werden die einzelnen Bausteine für einen Überblick nur kurz skizziert. Die konkrete Ausarbeitung – jeweils mit didaktischen Planungshinweisen für die Planung und Umsetzung im Unterricht, dem dazugehörigen tabellarischen Verlaufsplan für eine schnelle Übersicht über Inhalt und Methoden sowie die ausgearbeiteten Schülerarbeitsmaterialien für den Einsatz im Unterricht ergänzt durch Lehrerinfomaterialien mit Musterlösungen und weiterführenden Hinweisen – finden Sie in den jeweiligen Baustein-Bereichen des Projektes.
Im Zentrum von
In
Der abschließende