Brasilien vor der Fußball-WM 2014. Ein Interview mit Dr. Pfeiffer
K: Guten Tag Herr Dr. Pfeiffer, zuerst einmal vielen Dank für Ihre Bereitschaft, uns für das Unterrichtsprojekt "Fußball und Nationalgefühl" kurz vor Ihrer Abreise nach Brasilien noch einige Fragen zur Fußball-WM 2014 in Brasilien zu beantworten.
P: Gerne
K: Sie haben eine große Brasilienaffinität. Können Sie kurz etwas dazu erzählen?
P: Ja, gerne. Ich erinnere mich, ich kam im Jahre 1979, das ist schon einige Zeit her, das erste Mal nach Brasilien im Rahmen eines DAAD-Programms. Da haben verschiedene Kollegen und ich Gastprofessuren an Universitäten des brasilianischen Nordostens übernommen. Da bin ich dann fünf Jahre geblieben. Nach der Rückkehr nach Münster an die Universität habe ich dann auch in den Folgejahren immer wieder Gastaufenthalte, Vorträge, Kurzzeitprofessuren, Forschungsprojekte in verschiedenen Bereichen an mehreren Universitäten wahrgenommen, d.h. also der Kontakt im weitesten Sinne ist nie abgebrochen und es gibt auch, wie Sie vielleicht wissen, seit nun mehr vier Jahren ein Brasilienzentrum hier an der Universität Münster. Dort bin ich natürlich auch nach wie vor, trotz Ruhestands, engagiert.
K: Sie sind also ein Experte für Brasilienfragen. Deshalb würden wir Sie auch gerne dazu interviewen: Welche Bedeutung hat es Ihrer Meinung nach für Brasilien, dass die Fußball-WM 2014 im eigenen Land stattfindet?
P: Gut, das hat natürlich eine erhebliche Bedeutung. Diese WM hat, wie übrigens auch die Olympischen Spiele nebenbei bemerkt, einen hohen emotionalen und symbolischen Stellenwert für das Land und für die Menschen. Man muss das in einem etwas weiteren Kontext sehen. Meines Erachtens ist es so, dass Brasilien zwar schon immer als sympathisches und schönes Land mit netten und freundlichen Menschen gesehen wurde, aber nicht als sehr ernsthaftes und effizientes Land. Ob der bekannte Satz „Le Brésil n’est pas un pays sérieux“ nun tatsächlich von Charles de Gaulle oder von einem französischen Diplomaten gesagt wurde, ist nicht ganz klar, wohl aber seine Tendenz. Ein angenehmes Land, aber nicht sehr solide und nicht sehr ernsthaft. Dieses Image hat sich nun in den letzten zehn Jahren sehr stark verändert. Wenn Sie sich das anschauen im Vergleich zu 2002, zu Beginn der ersten Amtszeit des sozialistischen Präsidenten Lula da Silva, sind erhebliche Fortschritte festzustellen. Ein ordentliches Wirtschaftswachstum, Verringerung des Analphabetismus, Anhebung des schulischen Niveaus und vor allem, worauf sie zu Recht sehr stolz sind, eine starke Reduzierung der Armut. Also eine erfolgreiche Armutsbekämpfung insbesondere durch Sozialtransferprogramme z.B. „bolsa família“. Das brachte eine Stärkung der Massenkaufkraft, d.h. das Geld versickerte nicht wie früher in den Taschen ganz weniger, sondern ging zum Teil auch an die Armen, die es in Konsumausgaben umsetzen.
Gleichzeitig wurde die Rolle Brasiliens in der internationalen Politik aufgewertet, ich sage nur Stichwort G20, wo Brasilien auch Mitglied ist. Es gab dann auch euphorische Stimmen, die halte ich zwar für stark übertrieben, aber es gab Stimmen die Brasilien nicht nur als eine regionale Macht sahen, sondern schon als kommende Weltmacht. Und in diesem Kontext war die Vergabe der WM gewissermaßen das Sahnehäubchen, das Tüpfelchen auf dem „i“ oder wie auch immer Sie es nennen wollen. Eben ein Symbol dafür, dass das Land für seine Leistung internationale Anerkennung gefunden hat, dass es nunmehr im Weltmaßstab agiert, ein Global Player geworden ist. Vor diesem Hintergrund geht die Fußball-WM eben über ein reines Sportevent hinaus und hat einen sehr hohen symbolischen Stellenwert nach dem Motto „jetzt sind auch wir international angekommen“. Abgesehen davon, dass Brasilien bekanntermaßen ohnehin eine fußballbegeisterte Nation ist.
K: Welche Bedeutung hat Fußball bei der Jugend in Brasilien? Und wo werden die guten Fußballer ausgebildet?
P: Für die Jugend ist Fußball die Sportart Nummer 1, die ganz wichtig ist. Natürlich spielen auch hier in Deutschland Jungs und Mädchen gerne Fußball, aber es ist so, dass gewissermaßen die Alternativen in Brasilien im Vergleich etwa zu Deutschland eher begrenzt sind. Es gibt sicher auch andere Sportarten, aber die meisten Sportarten neben Fußball und Laufsport kosten ziemlich viel Geld und trotz des wirtschaftlichen Wachstums ist es immer noch so, dass doch der große Teil der Bevölkerung in bescheidenen bis ärmlichen Verhältnissen lebt. Fußball kann man aber mit allem spielen, notfalls auch ohne Schuhe und mit einer Konservendose. Die Alternativen wie bei uns gibt es dort in dem Umfang nicht. Deswegen fokussieren sich die sportlichen Aktivitäten der Jugend sehr auf Fußball. Also erstens aktiv, sie sehen überall die Jungs kicken, sei es am Strand, auf der Straße, irgendwo. Das hat einen sehr hohen Stellenwert, es macht Spaß, aber es ist auch ein interessantes Medium für den sozialen Aufstieg. Es gibt kaum einen brasilianischen Jungen der nicht irgendwann, zumindest zeitweilig davon träumt, Fußballstar zu werden. Die Idole, an denen sich die jungen Leute orientieren können, sind auch allgegenwärtig im Land. Also man kann schon sagen, dass das einen sehr hohen Stellenwert hat. Und das sehen Sie auch daran, dass dieses Land bis in die Provinz hinein Dependancen von den großen Klubs hat. Die nennen das „escolinha de futbol“, also kleine Fußballschulen, in denen der Nachwuchs anfängt zu trainieren und zu kicken. Ich kenne da auch eine recht gut, die gehört dem ehemaligen Stürmerstar Zico. Sie sind über das ganze Land verteilt. Das sind sozusagen die Inkubatoren, in denen der Nachwuchs herangezogen wird. Wobei es natürlich wie überall meistens im Leben ist, es sind viele Talente da, aber die Anzahl der großen Klubs ist auch beschränkt. Von den Hunderten die im Jahr ausgebildet werden, schaffen es vielleicht 2-3 auf professionellem Niveau zu spielen.
K: Also Fußball haben Sie gerade schon gesagt, ist nicht nur aktiv, sondern auch passiv von Interesse gerade bei der Jugend. Gibt es Schulprojekte zur WM, die z.B. von der FIFA unterstützt werden?
P: Also direkte Schulprojekte habe ich keine vorgefunden. Die FIFA hat im Rahmen dieser WM ein Jugendunterstützungsprojekt ins Leben gerufen. Das sind ein paar 1000 Jugendliche, deren Funktion insbesondere darin besteht, bei den Spielen die Mannschaften aufs Feld zu geleiten oder beim Abspielen der Hymnen die Fahnen zu halten, auch Balljungen und Ballmädchen, kleinere aber notwendige und für die jungen Leute hoch interessante Aktivitäten. Das hat die FIFA gezielt betrieben, mit der Absicht junge Brasilianer heranzuführen und ihnen die Möglichkeit zu geben eine Weltmeisterschaft von Nahem zu erleben. Aber um auf ihre Frage konkret zurückzukommen, von Schulprojekten direkt ist mir bisher nichts zu Ohren gekommen. Das heißt nicht, dass es keine gäbe, aber bis vor einiger Zeit habe ich davon nichts gehört. Was es aber sicher gibt, sind Sozialprojekte, die unter anderem Fußball als Integrationsmechanismus nutzen.
K: Wenn man sich so anschaut, was für die WM alles getan werden muss im Vorfeld, kostet eine Fußball-WM viel Geld. Kann Brasilien sich das erlauben? Offensichtlich gibt es in Brasilien einige Menschen, die das kritisch sehen – auch die Nationalmannschaft scheint mit manchen Entwicklungen nicht ganz zufrieden zu sein.
P: Das ist eine gute Frage. Als die WM damals vergeben wurde, meinte man von offizieller Seite, das könnte man locker stemmen. Aber inzwischen - das hat man auch gesehen - ist das ganze finanziell ziemlich aus dem Ruder gelaufen. Und da muss man sich wirklich fragen, ob das Land sich das leisten kann und ob die Prioritäten richtig gesetzt wurden, also ob das Geld, statt in solche Megaevents zu stecken, nicht doch für Bildung und Gesundheit Vorrang haben sollten. Allerdings ist es ja nun bekannt, dass auch bei uns sogenannte Großprojekte finanziell meist aus dem Ruder laufen, z.B. der Flughafen Berlin oder die Elbphilharmonie in Hamburg. Aber bei uns kann man sich solche Geldverschwendung vielleicht eher leisten, zumindest glauben das viele. In Brasilien aber mit Sicherheit nicht.
Ich habe zu Brasilien gerade auch noch mal konkrete Zahlen nachgesehen. Allein die Stadien kosten 3,7 Milliarden Dollar, das ist dreimal soviel wie ursprünglich veranschlagt. Insgesamt wird eine Summe von 10 Milliarden genannt, aber so genau weiß das keiner. Von daher muss man sich schon fragen, ob das in der Form sinnvoll und notwendig war. Dass das inzwischen, auch innerhalb der brasilianischen Bevölkerung und sogar seitens einiger nationaler Fußball-Ikonen, kritisch gesehen wird, ist völlig klar. Die Proteste im letzten Jahr während des Confed-Cups waren ein deutliches Signal der Unzufriedenheit. Sicherlich kommt auch Geld rein ins Land, man rechnet offiziell mit ca. 3 Milliarden Dollar und die haben einen Multiplikationseffekt, aber irgendwie ist das Aufwand-Ertrags-Verhältnis doch nicht so, wie man sich das erhofft und vorgestellt hat. Die Gründe dafür sind sehr vielfältig. Unter anderem die allgegenwärtigen Korruptionsvorwürfe beim Stadionbau und bei anderen Projekten, bei denen das Geld nicht sehr zielgerichtet eingesetzt, sondern zum Teil versickerte und abgezweigt wurde. Dann auch die Nichteinhaltung der Zusagen, was die Verbesserung der Infrastruktur angeht. Die Brasilianer haben aber auch selbst dazu beigetragen, dass es teurer wurde als unbedingt notwendig. Die FIFA hatte empfohlen die WM Austragungsorte in der Zahl zu reduzieren, aber das wollte Brasilien nicht. Das sei eine Weltmeisterschaft und an der solle das ganze Land teilhaben. Das kann man auch verstehen, aber gerade in entlegenen Gebieten, z.B. Cuiaba kurz vor der Grenze zu Bolivien, wo es nichts gibt außer Sojaanpflanzungen, oder Manaus mitten im Urwald, wo die Clubs nicht mal erstklassig, sondern zweit- bis drittklassig spielen, neue Stadien zu bauen, ist schon fragwürdig. Das war, neben anderen Faktoren, auch ein Kostentreiber, der die WM teurer hat werden lassen, als man das ursprünglich geplant hatte. Aber wie ich die Brasilianer kenne, werden - sobald die WM erst mal angelaufen ist und ihre Mannschaft gut spielt und gewinnt - die kritischen Stimmen weichen und die Euphorie wird wieder aufflammen.
K: Euphorie ist ein gutes Stichwort. Angesichts einer WM herrscht erfahrungsgemäß eher gute Stimmung. Trägt Ihrer Meinung nach die WM dazu bei, die Verständigung auch unter den Nationen zu verbessern oder wird eher der Nationalismus gestärkt?
P: Das ist eine schöne Frage. Die taucht natürlich immer wieder auf, auch in anderen Sportarten. Ich sehe das differenziert. Das kommt immer auf die Umstände an. Also ich bin nicht der Ansicht, dass Nationen, die sich nicht mögen, durch Fußball einander näher kommen. Und umgekehrt bin ich nicht der Ansicht, dass Fußballspiele dazu beitragen können, dass Nationen, die keine Probleme miteinander haben, sich verfeinden. Sondern es ist ein „Reinforcement“, eine Verstärkerfunktion, d.h. wenn die Beziehungen zwischen zwei Staaten ohnehin nicht so toll sind, dann sind Fußballspiele sicherlich kaum geeignet, diese zu verbessern. Sondern die Antipathie wird verstärkt bis hin zu einem Kleinkrieg, wie vor 40 Jahren in Mittelamerika zwischen Honduras und El Salvador. Wenn es aber Länder sind, die sich gut miteinander verstehen, die gut miteinander auskommen und keine Konfliktlinien haben, dann ist Fußball ein gutes Medium, die wechselseitige Sympathie, das Verständnis noch zu verstärken. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass zum Beispiel, wenn, rein hypothetisch, Argentinien und Brasilien im Endspiel stehen würden, also Länder, die sich gegenseitig nicht unbedingt zugeneigt sind, dass dieses Endspiel dazu beitragen könnte, das Verhältnis dieser beiden Länder zu verbessern. Im Gegenteil, wenn Brasilien verlieren sollte, würde es eher zur Verstärkung nationalistischer Emotionen kommen. Wie gesagt, man muss das differenziert sehen. Es hängt vom Kontext ab, ob eine Weltmeisterschaft nun vorhandenen Nationalismus bzw. nationale Egoismen stärkt oder eher zu einem Abbau beitragen kann.
K: Welche Spiele werden Sie sich im Stadium selbst anschauen?
P: Ich habe mich darauf beschränkt, Spiele auszuwählen, die im Nahbereich meines Standorts liegen, und die ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen kann. Das heißt für mich konkret, dass ich im Nordosten Brasiliens bleiben und mir in Recife und Natal je ein Spiel anschauen werde. In Natal Italien gegen Uruguay und in Recife dann sozusagen als Höhepunkt das Spiel USA gegen Deutschland mit unserem Alttrainer und dem aktuellen Trainer. Ich hatte auch ins Auge gefasst, mich um weitere Tickets zu bewerben, aber das Problem ist, dass man gar nicht weiß, wie der Pfad der deutschen Mannschaft verlaufen wird. Dann hab ich Karten von Spielen, die vielleicht ganz nett sein mögen, aber den Aufwand nicht lohnen. Der zweite Punkt, warum ich mich auf diesen Raum beschränkt habe, ist die Infrastrukturproblematik. Schon zu normalen Zeiten haben die Brasilianer Probleme an den Flughäfen und während der WM werden diese Probleme mit Sicherheit nicht geringer werden, und ich habe in meinem Alter nicht mehr die Nerven, mich mit überbuchten Flugzeugen herum zu schlagen und in Flughäfen in Endlosschlangen zu warten. Auch der Weg zu den Stadien ist extrem prekär, das tue ich mir nicht mehr an. Und drittens wird bei solchen Ereignissen von den Anbietern von Hotels und Gaststätten, Eisverkäufern, Taxen etc. preislich ordentlich abgesahnt. Man kann das verstehen, wenn man will, aber ich bin nicht bereit, das zu unterstützen. Ich bin zufrieden mit den zwei Spielen, die ich habe, und da bekomme ich sicherlich auch einen ganz guten Eindruck. Und in einer Strandbar mit brasilianischen Fans vor dem TV zu sitzen, ist sicherlich auch ganz reizvoll.
K: Sie haben gerade schon das Endspiel angesprochen. Welche Chancen sehen Sie für die deutsche bzw. brasilianische Mannschaft? Wer wird Weltmeister?
P: Wenn ich das so genau wüsste, dann würde ich einen Wetteinsatz tätigen. Also ich würde das so formulieren: Ich bin, was Deutschland und Brasilien angeht, eher skeptisch. Die deutsche Mannschaft ist eine gute Mannschaft, aber sie erscheint mir nicht als endspielreif. Bei Brasilien kommt es drauf an, ob sie im Laufe des Turniers in ihren Rhythmus kommen. Sollten sie in ihren Rhythmus kommen, dann sind sie durchaus ein heißer Favorit für das Endspiel. Aber ich persönlich würde eher Richtung Argentinien und Spanien tendieren. Die erscheinen mir etwas stärker, und ganz konkret als Weltmeister würde ich als Topfavoriten Argentinien sehen.
K: Herzlichen Dank für den Tipp und vielen Dank für das tolle Interview. Wir wünschen Ihnen einen spannenden Brasilienaufenthalt.
Das Interview führte Sabine Kühmichel vom Team „Forschen mit GrafStat“ (Münster, 2.5.2014)
Arbeitsaufträge:
Lies das Interview durch und fasse die wichtigsten Aussagen thesenartig zusammen. Suche vier zentrale Fragen heraus, die in der Talkshow in Form eines Frage-Antwort-Spiels mit verteilten Rollen eingespielt werden können.
Erstelle auf dieser Basis einen Spickzettel, damit du in deiner Rolle als Brasilienexperte auf die ausgesuchten Fragen gut antworten kannst.
Wenn es dir etwas ungewohnt ist, die Rolle des Brasilien-Experten zu übernehmen, solltest du das Frage-Antwort-Spiel in deiner Vorbereitungsgruppe einmal durchspielen und dich so auf deinen Auftritt in der Talkshow vorbereiten.
Eine Druckversion des Arbeitsblatts steht als Interner Link: PDF-Datei zur Verfügung.