Und natürlich immer wieder ein Mann: Mitte April sagte er wieder den Satz in die Kameras, den er in den vergangenen Monaten schon so oft sagte und den er mittlerweile hassen müsste: „Nein, wir sind noch nicht fertig.“ Jérôme Valcke, Generalsekretär des Fußballweltverbands FIFA, bestätigte, dass 50 Tage vor dem Anpfiff der WM noch immer an Stadien gebaut wird, darunter die Arena in São Paulo, in der das Eröffnungsspiel stattfinden soll. Ende März war dort erneut ein Arbeiter ums Leben gekommen, nachdem schon im November ein Kran auf das Stadion gestürzt war und zwei Arbeiter erschlagen hatte. Nun liegt die Gesamtzahl der während der zwölf Stadionbauten tödlich Verunglückten bei acht. Bei den zehn WM-Stadionbauten in Südafrika waren, zum Vergleich, zwei Arbeiter gestorben.
Wer Valcke kennt, weiß, dass der Franzose zunehmend sarkastisch gegenüber den WM-Organisatoren geworden ist. Er drohte sogar damit, Spielorte zu streichen, wenn weiter so getrödelt würde. Nun aber schien er resigniert zu haben. Brasilien hatte ihn kleingekriegt. Nie zuvor hatte ein WM-Land so viel Vorbereitungszeit (sieben Jahre), und nie ist ein Land so in Verzug geraten. Selbstverständlich ließ die Antwort der Gastgeber nicht lange auf sich warten. Auch sie ist längst zum Mantra geworden. Man werde trotz der Verzögerungen „die beste WM aller Zeiten“ ausrichten, ließ Sportminister Aldo Rebelo wissen.
Daran, dass die WM pünktlich angepfiffen wird, zweifelt niemand. Hierzulande dauert alles etwas länger, was mit der überbordenden Bürokratie zu tun hat – aber es klappt dann irgendwann doch, weil die Brasilianer Meister der Improvisation sind (mit entsprechenden Resultaten in der Ausführung). Dass es allerdings die beste WM aller Zeiten wird – und zwar nicht in sportlicher Hinsicht –, glauben nicht mehr viele. Im Jahr 2008, so ermittelte das Umfrage-Institut Datafolha, sahen fast 80 Prozent der Brasilianer die WM positiv. Heute sind nur noch 36 Prozent optimistisch. 55 Prozent glauben hingegen, dass die WM mehr Schlechtes als Gutes bringen wird. „Näo vai ter Copa!“ – „Es wird keine WM geben!“ Der Schlachtruf der Protestbewegung vom vergangenen Juni ist zum geflügelten Wort geworden. Sogar während des Straßenkarnevals in Rio wurde er angestimmt.
Hauptgrund für die schlechte Stimmung sind die gebrochenen Versprechen. Die Weltmeisterschaft wurde den Brasilianern mit zwei Zusagen verkauft: Erstens würden zahlreiche Infrastrukturprojekte die Lebensqualität in den Spielorten verbessern. Zweitens werde kein Real an Steuergeldern in die von der FIFA geforderten Stadionbauten fließen, sie würden komplett privat finanziert. Die Bilanz heute: Neun Milliarden Reais, rund drei Milliarden Euro, an öffentlichen Geldern sind in die zwölf Stadien gesteckt worden, von denen zehn teils erheblich teurer geworden sind als geplant, weil erhebliche Beträge in private Taschen umgeleitet wurden. Die Summe der privaten Investitionen liegt bei: null. Mindestens vier Stadien gelten bereits jetzt als Weiße Elefanten, also Bauten, die nach der WM keine Funktion mehr haben, aber von der Öffentlichkeit teuer unterhalten werden: Brasilia, Cuiabá, Manaus, Natal.
Undemokratische Umstrukturierung der WM-Städte
Demgegenüber wurden viele Infrastrukturprojekte aufgegeben oder verschoben. In Brasilia strich man einen S-Bahnbau wegen des Verdachts auf Betrug bei der Ausschreibung. In Salvador den Buskorridor vom Flughafen in die Innenstadt. In São Paulo den Bau einer zusätzlichen Metrolinie. In Manaus ein Hochbahnprojekt. Von den 81 tatsächlich begonnenen Arbeiten waren drei Monate vor Anpfiff nur 15 fertiggestellt. Ein Witz macht nun die Runde: Das einzige, was bei dieser WM funktioniert, ist das Klebe-Album von Panini.
Der Ärger der Brasilianer wird verstärkt durch die undemokratische Umstrukturierung der WM-Städte. Rund 200.000 Menschen, so schätzt der Stadtforscher Carlos Vainer, wurden und werden für die WM und die Olympischen Spiele 2016 umgesiedelt, häufig, um den Interessen der Immobilienwirtschaft Platz zu machen. Die Umsiedlung geschieht meist ohne Dialog, angemessene Entschädigung oder gleichwertige Wohnstätten. In der Favela do Metrô, 500 Meter vom Maracanã- Stadion entfernt, hatten die Bewohner fünf Tage Zeit, um ihre Häuser zu räumen und fanden sich nach einem Polizeieinsatz 45 Kilometer außerhalb des Zentrums wieder, während Bulldozer ihre alten Behausungen niederwalzten. Brasiliens bekanntester Sportjournalist Juca Kfouri fühlte sich an die Praktiken der Nazis erinnert.
Den Brasilianern ist bei alledem klar, wer von der WM profitiert: die FIFA und ihre Sponsoren. Die Einnahmen des Weltfußballverbands aus der WM werden auf mehr als drei Milliarden Euro geschätzt. Die Rekordsumme kassiert er steuerfrei, weil für die Dauer des Events die sogenannten FIFA-Gesetze gelten, in denen der Verband sich und seine Sponsoren neben exklusiven Verkaufszonen die Befreiung von jeglichen Abgaben garantieren lässt. Diese Fremdherrschaft stößt vielen Brasilianern übel auf. Sie zahlen absurd hohe Verbraucherabgaben, ohne dass der Staat entsprechende Gegenleistungen erbringt. Das Land belegt von 30 Industrienationen den letzten Platz, wenn es darum geht, Steuern zur Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität einzusetzen. Dennoch werden nun Millionen Reais für die Schaffung exklusiver Werbeumfelder für die FIFA-Sponsoren mobilisiert, etwa bei den vertraglich festgelegten Fanfesten.
Sie fühlen sich als Konsumenten wahrgenommen, nicht als Bürger
Die schlechte Qualität der öffentlichen Schulen, Hospitäler und des Nahverkehrs trieb im Juni 2013 vor allem junge Brasilianer millionenfach auf die Straße. Ihre Kaufkraft hatte über die Jahre zugenommen, sie fühlten sich als Konsumenten wahrgenommen, aber nicht als Bürger. Der Versuch der Regierungen Lula und Rousseff, Inklusion einzig über den Konsum herzustellen, war an seine Grenzen gestoßen. In dem Maße, wie das auf Rohstoffexport basierende Wirtschaftswachstum Brasiliens abflaute, offenbarten sich die strukturellen Mängel der vermeintlichen Aufsteigernation. Die Brasilianer sahen Schwangere, die in den Wartesälen der Krankenhäuser gebaren; sie sahen Schulen, durch deren Dächer es regnete; sie sahen Elitepolizisten, die straflos Massaker in Favelas anrichteten; sie sahen überfüllte Vorortzüge entgleisen.
In dieser Situation eine sündhaft teure WM zu finanzieren, erschien vielen als pervers – trotz der erwarteten 3,6 Millionen Besucher und 48.000 temporärer Arbeitsplätze. So bekam die WM in Brasilien das Stigma einer Eliteveranstaltung. Wen man auch fragt – vom Taxifahrer in Porto Alegre über den Autor in São Paulo, den Anwalt in Rio bis hin zum Supermarktbesitzer in Manaus –, sie alle sagen: So geht das nicht! Zu teuer, zu intransparent, zu wenig praktischer Nutzen, einzige Hinterlassenschaft: Schulden. Und sie zweifeln nicht daran, dass während der WM wieder demonstriert wird.
Die große, nicht zu beantwortende Frage ist, ob einige Hundert oder Hunderttausende auf die Straße gehen werden. Zwischen den Protestbewegungen gibt es keine Koordination und ihre horizontalen Strukturen erschweren den Überblick. Verschiedene Gruppen haben sich als Protagonisten hervorgetan, in Rio etwa das „WM-Volkskomitee“ und in São Paulo die „Passe Livre“-Bewegung für den Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr. Eine Referenz ist die Facebook-Seite von Anonymous Brasil mit 1,3 Millionen Freunden.
Medien und Politiker kriminalisieren die Proteste
Aus Angst vor Massendemonstrationen haben Politiker und Massenmedien in den vergangenen Monaten alles daran gesetzt, die Proteste zu kriminalisieren. Die Polizei, die häufig Gewalt provozierte, war ihr Werkzeug; ihre unfreiwilligen Komplizen waren die randalierenden Jugendlichen vom Black Bloc. Der einfache Brasilianer hält Demos nun für eine gefährliche Angelegenheit. Im brasilianischen Senat liegt zudem ein Anti-Terrorgesetz, das Terrorismus schwammig als „Verbreitung von genereller Panik“ definiert und bis zu 30 Jahre Haft vorsieht. Die Unterstützer des Vorhabens, das von Präsidentin Rousseff abgelehnt wird, zählen die Fußball-WM zu den Anlässen, bei denen es angewendet werden soll. Häufig liest man, es sei ein Widerspruch, dass sich ausgerechnet das Land des Fußballs gegen die Fußball-WM gewendet habe. Vielleicht ist das ein Missverständnis. Vielleicht wollen die Brasilianer einfach nicht akzeptieren, was alles im Namen des schönen Spiels angerichtet wird.
Aus: Philipp Lichterbeck: Was haben wir von der WM zu erwarten?, in Der Tagesspiegel vom 28.04.2014 Externer Link: http://www.tagesspiegel.de/politik/fussball-weltmeisterschaft-2014-was-haben-wir-von-der-wm-zu-erwarten/9810036.html (26.05.2014).
Arbeitsaufträge:
Notiert, mit welchen Versprechungen die Bevölkerung für die WM gewonnen wurde. Wie wurden diese umgesetzt?
Erläutert, wie es zu dem Widerspruch kommt, dass sich ausgerechnet das Land des Fußballs gegen die Fußball-WM wendet.
Bereitet euch für die Talkshow vor, indem ihr euch mit den Argumenten für die Pro-Seite („Es wird die beste Weltmeisterschaft aller Zeiten“) als auch für die Contra-Seite („Es wird keine Weltmeisterschaft in Brasilien geben“) kritisch auseinandersetzt.
Bereitet euch anhand eurer Notizen und Leitfragen auf eure Rolle in der Talkshow vor, um Fragen beantworten zu können.
Eine Druckversion des Arbeitsblatts steht als Interner Link: PDF-Datei zur Verfügung.