M 03.03 Die Nationalmannschaft als sinnstiftende Quelle einer Volks-Identifikation
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Viele Personen identifizieren sich über bestimmte Gruppen. Im Fußball nimmt diese Identifikation eine sehr große Rolle ein. In diesem Material wird dargestellt, wie sich diese Identifikation mit der Nationalmannschaft entwickelt und sich äußert.
Personen erhalten durch die Identifikation mit bestimmten Gruppen die Möglichkeit, Erfolge zu feiern, die über ihre eigenen Grenzen hinausgehen. Sie können dadurch am Erfolg dieser Gruppen persönlich teilhaben (Tajfel, 1978; Taijfel/Tumer, 1985; Katz/Kahn, 1978; Cialdini et al., 1976).
Die Identifikation mit einer tatsächlich erfolgreichen bzw. erfolgreich wahrgenommenen Gruppe kann dadurch zur Quelle der Steigerung des individuellen Selbstwertgefühls werden (Ashforth/Mael, 1989; Ashmore et al., 2004; Eisnestadt/ Giesen, 1995; Turner et al., 1987). Während tradierte gesellschaftliche, politische und soziale Institutionen in der breiten Bevölkerung als Identitätsstifter zunehmend an Bedeutung verlieren, erweist sich der Sport als Fels in der Brandung. So konnten die beiden größten Sportverbände in Deutschland, der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und der DFB, innerhalb der letzten 14 Jahre (1998-2012) ihre Mitgliederzahlen insgesamt um 2,4% bzw. 9,4% steigern. Dabei profitiert diese positive Entwicklung der DFB-Mitgliederzahlen sicherlich von den rasanten Zuwachsen der Vereinsmitgliederzahlen der Bundesligaclubs, deren Mitglieder allerdings zumeist keine aktiven Fußballer sind. Trotzdem ist das gestiegene Interesse an Mitgliedschaften erstaunlich.So konnte z.B. der Branchenprimus FC Bayern München allein im Laufe der letzten Saison 30.000 neue Mitglieder
gewinnen. Dagegen verloren in Deutschland im gesamten Betrachtungszeitraum Gewerkschaften 26%, Parteien fast 30% und Kirchen 12% ihrer Mitglieder, was sich natürlich ebenfalls in einer deutlich verringerten Beteiligung an Bundestagswahlen sowie weniger Besuchern von Sonntagsgottesdiensten niederschlagt (siehe Abb. 11 und 12).
Sport im Allgemeinen und der Fußball als Volkssport Nummer eins im Besonderen, erscheint als Sinnstifter in unserer zunehmend fragmentierten Gesellschaft. Hierbei nimmt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft im Vergleich zu anderen Organisationen und Mannschaften sicherlich eine gewisse Sonderrolle ein.
Zur Entfaltung der Identifikationseffekte ist neben dem tatsachlichen Erfolg vor allem der wahrgenommene Erfolg einer Mannschaft von Bedeutung. Die Erfolgswahrnehmung der Nationalmannschaft befindet sich dabei auf sehr hohem Niveau. Wahrend der EM 2012 wurde sie hinsichtlich des Merkmals ≫erfolgreich≪ auf einer fünfstufigen Skala (1=nicht erfolgreich, 5=absolut erfolgreich) im Durchschnitt von den Umfrageteilnehmern mit 4,38 bewertet. Zwei weitere Erhebungen vor (03.09. – 07.09.2012) und nach (11.09. – 25.09.2012) den Pflichtspielen gegen die Färöer-Inseln und Osterreich zeigen jedoch,
dass die Erfolgswahrnehmung der Nationalmannschaft zumindest kurzfristig durch einzelne Spielergebnisse tangiert wird. So ist es nicht erstaunlich, dass nach der bitteren EM-Niederlage gegen Italien die Erfolgswahrnehmung (von 4,38) absinkt (auf 3,78) und dann nach den beiden Siegen gegen Osterreich und die Färöer-Inseln wieder ansteigt (auf 3,89). Allerdings zeigen die Umfrageergebnisse auch, dass der wahrgenommene Erfolg (2000-2012) der deutschen WM/EM-Turniermannschaften sich seit einem sprunghaften Anstieg nach der WM 2006 auf hohem Niveau gefestigt hat (siehe Abb. 13). Seitdem sind natürlich auch die Erwartungen an den Erfolg der Mannschaft entsprechend gestiegen.
Neben der Erfolgswahrnehmung entfaltet die Nationalmannschaft ihre Identifikationswirkung ebenso durch hohe Sympathiewerte und ein positives Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit. Bei einem nahezu hundertprozentigen Bekanntheitsgrad (Sport und Markt 2010, 2012) wird die Nationalmannschaft durchwegs positiv von der Bevölkerung wahrgenommen und mit Attributen wie Teamgeist, Begeisterung, Spielfreude, Erfolg, Sympathie und Zusammenhalt assoziiert (Sport und Markt 2010, 2012). So gaben auch 94% der Umfrageteilnehmer an, dass sie das Auftreten der Nationalmannschaft als ≫vorbildlich≪ ansehen. Uber 90% der Befragten sehen sich selbst als großen bzw. sehr großen Fan der Nationalmannschaft.
Ihr Fan-Dasein begründeten sie an erster Stelle mit der Übereinstimmung der Spielphilosophie (80%) und danach mit einer Zustimmung von 72% darin, dass die Nationalmannschaft Werte verkörpert, die sie gut finden. Interessant hierbei ist, dass der rein sportliche Erfolg des Teams in dieser Rangfolge erst an siebter Stelle mit lediglich 47% Zustimmung zu finden ist (siehe Abb. 14). Die Umfrageergebnisse dieser Studie konnten im Folgenden mit der Auswertung der Studie Deutschland braucht den Superstar (Schmidt/ Hogele, 2011) zum Fan-Verhalten bzgl. Bundesligaclubs und -spieler verglichen werden.
Zitatesammlung:
Rainer Kalb (Sportjournalist, SID und Buchautor): »Fußball ist sinnstiftend. Alles geschieht auf 70x120m; es gibt einen Gegner und ein klares Ziel – wie im richtigen Leben, nur einfacher. Und es passiert in 90 Minuten, im Zeitraffer, nicht in Jahren. Daher fällt die Analyse leichter.«
Horst R. Schmidt (Fußballfunktionär): »Viele andere Organisationen spüren einen Mitgliederschwund und nutzen daher oftmals den sogenannten Fußballeffekt. Sie integrieren fußballbezogene Ereignisse in ihre eigenen Aktivitäten und nutzen die Faszination des Fußballs für ihre Bewegung.«
Hans-Joachim Watzke (Vorstand BVB): »Sport und insbesondere der Fußball haben heute in einer Gesellschaft, die insgesamt von sehr vielen Fliehkräften bedroht ist und in der zum Beispiel Parteien und Kirchen permanent Mitglieder verlieren, einen höheren Stellenwert als noch vor 25 Jahren. Heute gibt es kaum mehr sinnstiftende Elemente, und da ist der Fußball in die Bresche gesprungen.«
Prof. Dr. Wolfgang Huber (ev. Theologe): »In unserer Gesellschaft brechen immer mehr sinnstiftende Elemente weg. Doch über die Nationalmannschaft wird mehr denn je gesprochen – sie bedeutet Identifikation und Orientierung.«
Dr. Michael Vesper (Generaldirektor des DOSB): »Mit der zunehmenden Digitalisierung und Virtualisierung der Welt ist der Sport eine der letzten Inseln der Realität. Wichtig ist nicht, was auf dem Bildschirm, sondern was auf dem Platz passiert. Und da erfüllt der Sport in gewisser Weise die Sehnsüchte der Menschen.«
Rainer Kalb (Sportjournalist, SID und Buchautor): »Ländergrenzen verschwimmen zunehmend – wir haben mittlerweile nur noch eine europäische Währung und die Politik spielt sich auch immer mehr in Brüssel ab. Die Nationalmannschaft verbleibt als letzter Träger eines gemeinschaftlichen Nationalgefühls.«
Philipp Lahm (Nationalspieler): »Ich glaube, dass sich die Leute mit unserer Nationalmannschaft wirklich identifizieren können. Das ist das Schöne und das merkt man auch als Spieler. Deswegen hat die Nationalmannschaft, die ja den deutschen Fußball repräsentiert, einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert.«
Aus: Schmidt, Prof. Dr. Sascha L.; Bergmann, Andreas: Wir sind Nationalmannschaft - Analyse der Entwicklung und gesellschaftlichen Bedeutung der Fußball-Nationalelf. ISBS Research Series – Issue 7. 2013. S. 21ff. Externer Link: www.ebs.edu/dfbstudie (06.06.2014)
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