Obwohl Fußball bislang in einigen großen Ländern wie USA, Australien und Indien, wenig Verbreitung gefunden hat, zählt er zu den populärsten Mannschaftssportarten der Welt. Seine Entwicklung geht auf Ballspiele zurück, die schon in grauer Vorzeit in den verschiedensten Winkeln der Erde betrieben wurden. Der Ursprung des Fußballspiels dürfte in China liegen. Wichtige Spuren können im Altertum (4000 – 3000 v. Chr. bis zum Untergang der antiken Mittelmeerkulturen zwischen dem vierten und siebenten Jahrhundert n. Chr.) und im Mittelalter bis zur Neuzeit verfolgt werden. Fußball heutiger Prägung hat im 19. Jahrhundert von England aus seinen Ausgang genommen und sich von dort ausverbreitet.
Gegenwärtig beläuft sich die Zahl der Fußballspieler weltweit - nach Schätzungen - auf eine Viertel Milliarde (Jellinek/Tomeš 2007: 8). Pro Jahr werden auf der ganzen Welt über 40 Millionen Fußbälle verkauft (Holzmann 2007: 63). Der seit 1904 bestehenden Fédération Internationale de Football Association (FIFA) gehören sechs Kontinentalverbände (Europa, Südamerika, Nord-/Mittelamerika/Karibik, Afrika, Asien, Ozeanien) und 208 nationale Verbände als Mitglieder an. Damit sind mehr Länder Mitglied des Weltfußballverbandes als Mitglied der UNO. Für Länder, die nicht Mitglied des Weltfußballverbandes sind, wurde 2003 das NF-Board (Nouvelle Fédération-Board) - auch Non-FIFA-Board genannt - gegründet. Ihm gehören momentan 13 Länder als reguläre Mitglieder und 14 weitere als assoziierte oder provisorische Mitglieder an. Es handelt sich dabei meist um Länder, die Gegenstand politischer Konflikte sind, wie Tschetschenien und Tibet.
Die Beliebtheit des Fußballs lässt sich nicht nur an der Größe der entsprechenden Verbände und der Zahl der Spieler und verkauften Bälle ablesen, sondern vielleicht mehr noch an den Zuschauerzahlen. Kaum eine Sportart zieht über einen längeren Zeitraum so viele Zuschauer an, wie der Fußballsport. Dies gilt sowohl für den Stadionbesuch als auch für das Fernsehen.
In Europa ist Fußball die mit Abstand beliebteste Sportart im Fernsehen (UPC 2006). Die Fußball-WM in Deutschland 2006 wurde von kumulierten 5,3 Milliarden Menschen in Europa und kumulierten 26,3 Milliarden Menschen weltweit im Fernsehen gesehen. Davon sahen 715 Millionen Menschen - das sind rund 11 % der 6,6 Milliarden Erdenbewohner – das Finale (FIFA 2007). Die Spiele der Fußball-Europameisterschaft 2008 werden hochgerechnet kumulierte 10 Milliarden Menschen weltweit vor dem Fernsehschirm verfolgen. Angesichts dieser Zahlen und der großen internationalen Verbreitung des Fußballsports drängt sich die Frage auf, was es mit dieser Sportart auf sich hat, um dermaßen viele Menschen als Zuschauer oder Aktive anziehen zu können. Dazu werden im Folgenden Erklärungsversuche vorgestellt, die wesentliche Charakteristika des Fußballsports hervorheben. Zwar teilt der Fußball manche dieser Charakteristika mit verschiedenen anderen Sportarten, aber möglicherweise weist nur er allein alle diese Charakteristika auf. Ferner wird auf einige Deutungen des Fußballspiels und der Aktivitäten der Fans eingegangen.
Erklärungsversuche der Attraktivität des Fußballsports
- Fußball ist leicht verständlich
Im Vergleich mit z. B. American Football-, Rugby- oder Eishockeyregeln sind die Fußballregeln – von der Abseitsregel abgesehen – einfach und klar. Das Spiel ist überschaubar. Es vermittelt eine Transparenz, die weder in der Arbeitswelt, noch im politischen oder kulturellen Leben auch nur annähernd gegeben ist. Seine auf wenige Symbole reduzierte Sprache bildet ein ideales Mittel der Kommunikation. Jeder kann den Fußballsport verstehen und jeder kann mit jedem darüber kommunizieren. Die Klarheit des Spielgeschehens und die Simplizität, es zu kommentieren, versetzen Millionen von Zuschauern in die Lage, sich als „Experten“ zu fühlen (Hortleder 1974: 134).
- Fußball kann unter minimalen Voraussetzungen gespielt werden
Fußball ist relativ leicht zu erlernen. „Im Prinzip“ kann jeder mitspielen. Da auch nur wenig Ausrüstung benötigt wird, ist Fußball relativ kostengünstig zu spielen. Im wesentlichen genügt ein Ball. In Ermangelung entsprechender Exemplare aus Leder spielten etwa Kinder und Jugendliche der Arbeiterklasse im Wien der Zwischen- und Nachkriegszeit mit sog. „Fetzenlaberln“, also mit aus Textilien selbstgefertigten Bällen. Heute verwenden Kinder aus armen Familien in Afrika, Südamerika oder Asien oft mit Sand gefüllte Plastiktüten, leere Dosen o. ä. als Ballersatz (Francia 2006: 10). Zum Spielen reicht im Prinzip eine freie Fläche. Gespielt wird daher auf Straßen, Gassen, Parkplätzen, Stränden, Wiesen, brachliegenden Äckern, in Hinterhöfen, Parks, Garagen, Hallen usw. Dies nicht zuletzt, weil sich die Fußballregeln, die seit über 100 Jahren weitgehend unverändert geblieben sind, leicht an besondere Umstände anpassen lassen (Martinez 2002: 14f).
- Fußball ist offen gegenüber Aktiven und Zuschauern
Rugbyspieler müssen extrem robust, Volleyballspieler sprunggewaltig, Handball- und insbesondere Basketballspieler besonders groß sein, um erfolgreich mitspielen zu können. Im Fußball herrschen andere Bedingungen. Eine allfällige physische Überlegenheit des einzelnen Spielers kann durch technische Fertigkeiten kompensiert werden. Egal wie groß oder wie sprunggewaltig oder wie kräftig und robust jemand ist: Jeder hat eine Chance sich durchzusetzen. Es gibt in diesem Sinne „keine“ oder nur eine relativ geringe „biologische Determinierung im Fußballsport“ (Hortleder 1974: 59). Selbst mit einer durchschnittlichen fußballerischen Begabung können Spieler Erfolge haben, wenn sie nur entsprechend trainieren. So schreibt der ehemalige österreichische Fußballstar, Hans Krankl, über einen seiner Teamkollegen, nämlich Leo Lainer, der immerhin Stammspieler bei Rapid war, sogar in Europacupspielen auftrumpfte und auch in der Nationalmannschaft eine gute Figur machte: Ein „absolut“ nur „durchschnittlich begabter Fußballer“, der sich aber „durch irrsinnige Arbeit“ soweit „verbessert hat“ (Krankl 1990: 21f). Zu dieser Eignung für Menschen mit unterschiedlichem fußballerischen Talent und unterschiedlichen körperlichen Merkmalen kommt eine gewisse soziale Offenheit hinzu. Das Interesse am Fußball ist über alle Altersgruppen und Schichten verteilt, wenn auch nicht gleichmäßig.
- Dynamik, Vielgestaltigkeit und Ästhetik des Spiels
Die Fußballregeln ermöglichen schnelle, offene und flüssige Spielszenen und immer wieder neue unerwartete Figurationen der Menschen auf dem Spielfeld. Es handelt sich um ein Spiel, welches eine Mischung darstellt aus einer ganzen Reihe voneinander unabhängiger Polaritäten, wie Kraft und Geschicklichkeit, individuelles Spielen und Spiel im Team, Angriff und Verteidigung, Planung und Spontaneität (Dunning 2006: 46; Bausenwein 2006: 30). Kaum ein anderes Sportspiel birgt einen solchen Variantenreichtum wie das Fußballspiel. Und in zahlreichen Fällen ist Fußball einfach schön: Die Eleganz der Bewegungen und die Ballfertigkeit der Spieler, die Konstruktion der Kombinationen usw. Elias (1983: 13) spricht in diesem Zusammenhang vom Spiel als „kollektivem Kunstwerk“. So wird Spitzenspielen mitunter auch „ballettähnliche“ Qualität attestiert. In Kombination mit den Farben der Kleidung der Spieler kann diese Qualität die spektakuläre Anziehungskraft des Fußballs weiter erhöhen.
- Die Unwägbarkeit des Spielausgangs
Fußball bietet Raum für Überraschungen und Sensationen. Zwar setzen sich über die Dauer einer Saison die leistungsstärksten Mannschaften durch, aber der Ausgang jedes einzelnen Spiels ist immer ungewiss. Ab einem bestimmten Mindestniveau gibt es keine Siegesgarantien mehr, sondern nur noch Favoriten. Die größte Favoritenrolle kann sich aber im Spiel in Nichts auflösen. Dies, weil oft Details wie die Tagesform über Sieg und Niederlage entscheiden und weil der Fußball wahrscheinlich mehr als alle anderen Sportspiele Elementen der Zufälligkeit offen steht: „Nirgendwo sonst kommt Überraschungen und glücklichen Fügungen eine solch (spiel-)entscheidende Rolle zu wie gerade beim Fußball. Daher lässt er am ehesten eine Negation ökonomischer Überformungen zu“ (Marschik 2005: 27). Auch wenn die reichen Clubs längerfristig gesehen erfolgreicher sind als die armen, zwingend lässt sich der Erfolg im Fußball nicht kaufen. Aus dieser Unplanbarkeit und Unsicherheit zieht der Fußball einen beträchtlichen Teil seiner Faszination.
- Fußball bietet Möglichkeiten zur Identifikation
„Zentrales Element des Fußballs als Zuschauersport ist der Aspekt der Identifikation“ (Spitaler 2005: 135). Selten sagt ein Fußballzuschauer: „Heute spielt meine Mannschaft“. Vielmehr sagt er: „Heute spielen wir“. Dies nicht nur dann, wenn es sich bei der betreffenden Mannschaft um das Nationalteam handelt, sondern genauso, wenn das bevorzugte Vereinsteam das Spiel bestreitet. Die Identifikation mit einem Verein erlernen Fußballfans oft schon als Kind. Im Zeitalter der Globalisierung kann es sich dabei auch um Vereine handeln, die viele Kilometer entfernt ihre Heimstätte haben (Lestrelin/Sallé/Basson 2006). So hat etwa Manchester United Anhänger in allen Teilen der Welt, angeblich über 100 Millionen in Summe. Die Anhänger fiebern vor dem Bildschirm oder im Stadion mit den Aktiven ihrer Mannschaft mit. Diese Anteilnahme erlaubt ein Erlebnis, das den Charakter einer persönlichen Teilhabe hat. Der Zuschauer, der den Schützen beim Torschuss beobachtet, fühlt das Gleiche wie der Torschütze (wenn dieser der bevorzugten Mannschaft angehört): Er spürt die gleiche Spannung, hält den Atem an und wenn das Tor gelingt, wird er genauso die Arme hochreißen und in Jubel ausbrechen. Das Miterleben kann bei Zuschauern bis in den physiologischen Bereich hinein die gleichen Aktivierungssymptome (bioelektrische Aktivitäten) auslösen wie bei Aktiven. Untersuchungen zeigten, dass die Veränderung der Blutzuckerwerte und Adrenalinkonzentration des Blutes infolge starker körperlicher Anstrengung nicht etwa nur bei Spielern evident war, sondern im gleichen Maße auch bei den Zuschauern auftrat. Bei Letzteren dauerte der Rückgang auf die Normalwerte sogar länger als bei den Aktiven (Weiß 1999: 183; 2004: 221f). Indem der einzelne Zuschauer am Fußballereignis teilhat und seine Anteilnahme – z. B. am Erfolg einer Mannschaft – von vielen anderen Zuschauern geteilt wird, ergibt sich eine ideale Situation für die Bestätigung seiner Identität. Die anderen Zuschauer, die durch mitfühlende Partizipation in gleicher Weise in das Geschehen involviert sind, signalisieren Bestätigung und Anerkennung. Über die Identifikation mir einer Fußballmannschaft oder mit einem Fußballidol kommt es zur wechselseitigen Identifikation der Zuschauer. Jeder Zuschauer weiß, das er mit seinen Gefühlen nicht alleine ist, sondern dass diese Gefühle von anderen Zuschauern geteilt werden. Die Fußballzuschauer bekräftigen ihre Verhaltensweisen gegenseitig durch Zuwendung, Aufmerksamkeit und soziale Anerkennung. Wenn die eigene Mannschaft und insbesondere das Idol triumphiert, herrscht grenzenlose Freude. Die Anziehungskraft der Fußballidole wird oft durch eine entsprechend Medienberichterstattung verstärkt. Die Idole stellen Kristallisationspunkte der Fußballbegeisterung oder generell der Emotionalität im Fußballsport dar.
- Fußball bietet einen Freiraum für exzessiven Gefühlsausdruck
Im Stadion können die Zuschauer ihre Emotionen verbal oder sogar körperlich ausdrücken, und das, ohne Maßregeln befürchten zu müssen. Alltägliche Normen sind hier für eine Weile außer Kraft gesetzt (Bausenwein 2006: 17ff). Die Zuschauer dürfen sich umarmen, in die Luft springen, singen, schreien, brüllen, aber auch pfeifen, Buh rufen, schimpfen, fluchen, usw., wobei sie in die besondere Situation zwischen Kameradschaft und Anonymität einer Masse eingebunden sind. In einer permissiven Atmosphäre kann der Einzelne mit Fremden, die ihn verstehen, intensive Gefühle teilen und Zugehörigkeit erleben. Er handelt einfach auf der emotionalen Ebene, ohne sich anderen kompliziert verbal erklären oder begreiflich machen zu müssen. Das Fußballereignis per se bietet dazu die Möglichkeiten und erlaubt den Zuschauern sich einander verbunden zu fühlen (Weiß 1999: 182f). Das Fußballstadion als besonderer Raum scheint dafür hervorragend geeignet zu sein.
- Fußballsport ist telegen
Fußball eignet sich fürs Fernsehen. Der Ablauf des Spiels lässt sich – im Unterschied zu vielen anderen Sportarten – linear abbilden, womit die Fernsehübertragung der Dramatik des Spiels auch ohne technische Eingriffe folgen kann. Die Fernsehzuschauer sehen gewissermaßen alles, was im Stadion passiert – und dies den „natürlichen“ Sehgewohnheiten (einer logischen Abfolge von Eindrücken) entsprechend (Penz 2007: 71). Durch Nahaufnahmen, spezielle Kameraperspektiven, schnelle Schnitte und Zeitlupenwiederholungen können im Fernsehen dramatische Aspekte des Spiels herausgestellt werden. So kann dem Bedürfnis der Zuschauer nach spannender Unterhaltung in besonderem Maße entsprochen werden, bekommen doch die Stadionbesucher von den so herausgestellten dramatischen Aspekten oft gar nichts mit. Was das Fernsehen trotz aller Live-Berichterstattung nicht rüberbringen kann ist allerdings eine authentische Live-Atmosphäre, weil beim Fernsehen im Wohnzimmer die volle Emotionalität nur erlebt, aber nicht ausgelebt werden kann (Bausenwein 2006: 495). Vielleicht erfreut sich auch deswegen das „Public Viewing“ vor Großleinwänden, das ein gleichsam simuliertes Stadion-Ereignis („Stadionfeeling“) ermöglicht, so großer Beliebtheit.
Deutungsversuche des Fußballspiels und der Aktivitäten der Fans
In Diskussionen über Fußball werden immer wieder Ansätze eingebracht, welche das Spiel und die Fan-Aktivitäten als symbolisches Geschehen auffassen und beanspruchen, die eigentliche Bedeutung des Fußball zu enthüllen. Nachstehend einige solche Deutungsansätze.
- Fußball erfüllt die Funktion eines Ritus
Aus anthropologischer Sicht wurde Fußball u. a. als rituelle Jagd, als Zusammenspiel von Beute machenden Herdenmenschen beschrieben (Morris 1981: 15ff). Dabei wird der Ball als Waffe, das Tor als Beute gedeutet. Diese Beute wird - so die Interpretation - durch eine Gruppe von Gegnern verteidigt, deren Aufgabe darin besteht, das Zielen und „Töten“ möglichst zu erschweren. Es handle sich dabei um eine „gegenseitige Jagd“, da beiden Mannschaften eine Doppelrolle zufällt, nämlich die des Angreifers und die des Verteidigers. Schon allein Ausdrücke wie das Tor „angreifen“ oder den Ball ins Tor „schießen“, würden auf den Fußballer als „verkappten modernen Pseudojäger“ hinweisen. Weil im Fußball so viele „alten Jagdelemente“ am Leben erhalten würden, sei es ihm gelungen, zur Weltsportart aufzusteigen: „Kein anderes Spiel scheint die magische Mischung aus Elementen der frühen Jagd zu besitzen wie der Fußball ...“ (Morris 1981: 17). Andere Ansätze führen die Anziehungskraft des Fußballs auf die andauernde Wirksamkeit aggressiver Energien zurück. In dieser Sicht wird Fußball als „ritualisierte Sublimierung des Krieges“, als „getanzter Krieg“ aufgefasst (Galeano 1997: 28). Ein weitere, ritualtheoretische Auffassung erklärt das Spiel zum „Männer-Initiationsritus“ (Francia 2006: 23). Tiefenpsychologisch gedeutet ist der ödipale Konflikt die Quelle der Motivation für Ballspiele und damit auch für das Fußballspiel. Demnach ist das gegnerische Tor das Objekt der Libido. Der Gegner, der sein eigenes Tor reinhalten möchte, steht als jemand da, der die Erreichung des Objektes der Libido verhindert. Es wiederholt sich also die ödipale Grundsituation, und alle negativen Gefühle, die dem Vater als dem Verhinderer gegolten haben, müssen sich auf den Gegner richten (Weiß/Russo 1987: 29). Vulgärpsychologisch wird die Verbindung zum Geschlecht einfacher hergestellt: Das Ballgeschoss sei ein Symbol des Penis und das erzielte Tor sei der „Orgasmus des Fußballs“ (Galeano 1997: 19). Oder: „Fußball illustriert die einzige gemeinsame Aufgabe aller männlichen Erdbewohner: befruchten. Bring ihn rein. Irgendwie. Überwinde die Abwehr. Kämpf dich durch, sei schnell und geschickt“ (Francia 2006: 151f).
- Fußball als Religion
Ein weiterer Ansatz deutet weniger das Fußballspiel selbst als die sozialen Aktivitäten rund um dieses herum als quasi-religiöse Praktiken. Demnach erscheinen Spieltage als religiöse Feiertage, Ball, Vereinsfahnen, Fanartikel als Kultgeräte, das Anzünden von Räucher- oder Wunderkerzen als Kulthandlungen, Schals und Kleidungsstücke mit Vereinsemblemen oder in Vereinsfarben als religiöse Kutten, Spieler als Priester, Starspieler als Heilige, das Stadion als Tempel, die Anreise der Fans zum Spiel als Wallfahrt, die Fangesänge als kultische Gesänge, das gemeinsame Erleben im Stadion als Kommunion, La-Ola-Wellen und Klatschrhythmen als tranceartige kollektive Ritualhandlungen, die Erzählungen von klassischen Spielen und großen Spielern als mythisches Gedenken (Martinez 2002: 30f). Vergegenwärtigt man sich, dass etwa in England Fußballvereine begonnen haben, fanspezifische Gräber („Football Funerals“) anzubieten (Sharpe 2001: 9), dann scheint der Vergleich von Fangemeinschaften mit religiösen Gemeinschaften in der Tat nicht allzu weit hergeholt.
Schlussbemerkungen
Fragt man nach der Faszination des Fußballsports und nach der Begeisterung dafür, so fragt man auch nach den gegenwärtigen Verhältnissen der Gesellschaft und nach den psychischen und sozialen Bedürfnissen ihrer Mitglieder. Ein Kennzeichen unserer Zeit ist der rasante soziale Wandel und die damit einhergehende Vereinzelung von immer mehr Menschen. Das gefühlsmäßige Erleben einer sozialen Einheit kann immer seltener realisiert werden, da das Säurebad der Konkurrenz, in das viele soziale Beziehungen getaucht werden, Gemeinsamkeiten auflöst und große Unsicherheit entstehen lässt. Teilen der Gesellschaft drohen Zustände von sozialer Desintegration und Anomie (Norm- und Orientierungslosigkeit). Daher verstärkt sich der Wunsch nach Klarheit, Überschaubarkeit und Einfachheit in der Gesellschaft und entsprechende Angebote stehen hoch im Kurs. Ein solches Angebot ist der Fußballsport. In ihm kann man sich an solch einfachen Kategorien wie Tor oder Gegentor, Sieg oder Niederlage, Freund oder Feind orientieren. Zudem bietet der Fußball Möglichkeiten sozialer Integration und der Identitätsbildung, sowie Möglichkeiten, Spannungen zu erleben und Emotionen auszuleben, wie es in Situationen außerhalb des Sports nicht oder nicht im selben Maß der Fall ist. Weiters mag der Fußball symbolische Bedeutungen haben, die den Spielern und Zuschauern nicht bewusst sind. Für Fans kann er auch den Charakter einer Ersatzreligion annehmen.
Aus: Norden, Giblert/ Weiß, Otmar: Massenphänomen Fußball, Gastbeitrag am 30. Mai 2008, Online-Zeitung der Universität Wien, dieuniversität online, Externer Link: http://www.dieuniversitaet-online.at/fileadmin/pdf/Massenphaenomen_Fussball.pdf (04.06.2014)
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