Deutschland gewinnt im Fußball – und wird trotzdem gemocht wie nie zuvor. Das liegt an unserer bunten Mannschaft und an Lena.
Deutschland ist bereits Weltmeister. Und ausgerechnet von den Briten wurde es dazu ausgerufen. Einer im Frühjahr 2010 veröffentlichten Umfrage der BBC unter 30.000 Menschen in 28 Ländern zufolge ist Deutschland das mit großem Abstand beliebteste Land der Welt. An seine Werte reicht nur Kanada annähernd heran, dem nun wahrlich niemand auf diesem Globus irgendetwas Böses zutrauen würde. Und die höchsten Sympathiewerte erzielte unser Land mit 82 Prozent ausgerechnet beim einstigen Erzfeind Frankreich.
Es gehört zu den Obsessionen der modernen Nachkriegsdeutschen, sich stets darum zu sorgen, welchen Eindruck sie da draußen bei dem Rest der Welt machen, ob die angesichts der Schatten der Vergangenheit womöglich nicht doch noch unterschwellig Angst und Schrecken verbreiten.
Dabei fragt man sich, wie viele Liebesbeweise die Deutschen eigentlich noch benötigen, um endlich vom Gegenteil überzeugt zu werden. Schon nach der WM 2006 waren aller Herren Länder voll des Lobes für der Deutschen herzliche, feierfreudige Weltoffenheit. Wo er hinkomme, schwärme man noch immer davon, erzählte kürzlich Jens Lehmann, Deutschlands WM-Torhüter von 2006. Und man frage ihn, ob in diesem wunderbaren Land denn das Wetter immer so herrlich sei. Auch wird weltweit bewundert, wie gut sich Deutschland in der Wirtschaftskrise gehalten hat. Laut der Unternehmensberatung Ernst & Young ist es das bevorzugte Land ausländischer Investoren in Europa.
Dennoch hat sich die deutsche Öffentlichkeit jahrelang in die Überzeugung hineingesteigert, man möge uns in Europa nicht, weil die deutschen Beiträge beim Eurovision Song Contest regelmäßig abschmierten. Dieses Jahr aber eroberte ein bis vor kurzem noch völlig unbekanntes 18-jähriges Mädchen namens Lena die Herzen der europäischen Telefon-Voter im Sturm. Und jetzt hat Deutschland auch noch ein Fußball-Nationalteam, das nicht nur begeisternd erfolgreich spielt, sondern dazu so grundsympathisch ist, dass es nachgerade unmöglich scheint, es nicht zu mögen.
Wie Lena strahlen die netten Jungs mit so urdeutsch-germanischen Namen wie Özil, Khedira oder Cacau ausgerechnet etwas aus, das man tatsächlich nicht mit dem alten Pickelhauben und Stechschrittklischee von Deutschland in Verbindung gebracht hätte: unkomplizierte Leichtigkeit, entspannte Lebens- und Spielfreude. Junge, erfolgreiche Deutsche, so scheint es, sind heute zierliche Persönchen wie Lena und schlaksige Spargel-Tarzane wie Özil, Klose und Boateng. Mit dem Image der Deutschen als "Panzer" und blonden Bestien, das einst durch die Dominanz von Spielertypen wie Horst Hrubesch und Andreas Brehme womöglich noch bestärkt wurde, lässt sich das wahrlich nicht mehr zusammenbringen.
Die serbische Presse bemühte zwar die Phrase vom "deutschen Panzer", den das eigene Team stolz bezwungen habe, noch einmal fleißig, doch derartig martialische Rhetorik dürfte eher dem Verhaftetsein in der eigenen, noch nicht lange zurückliegenden Kriegs-Vergangenheit geschuldet sein, als irgendeiner Realität, die man auf dem südafrikanischen Spielfeld sehen könnte. Auch die englische Presse strapazierte vor dem Achtelfinale gegen Deutschland noch ein bisschen den bewährten Weltkriegs-Jargon, doch das wirkt eher lächerlich.
Nach der englischen WM-Niederlage obsiegte auf der Insel immerhin ein sehr objektiver, selbstkritischer Ton. Man geißelte die schwache Leistung der eigenen Mannschaft und selbst das skandalöserweise nicht gezählte Tor von Lampard kreidete man nicht den Deutschen an, sondern der Fifa. Für den siegreichen deutschen Gegner hielt der "Guardian" das Kompliment bereit, es sei ein begeisternd "undeutsches Team". Tatsächlich reüssiert der neue deutsche Fußball nun ausgerechnet da, wo man filigrane Spielkunst und multikulturellen Individualismus am meisten schätzt. Nicht nur im Land des ehemaligen WM-Gastgebers Südafrika gehört das deutsche zu den populärsten Teams. In einem Land, das traditionell den brasilianischen Fußballtugenden nacheifert, kommt der für dieses Team ungewöhnlich offensive Stil der Mannschaft gut an. "Wunderbar", titelte die südafrikanische Zeitung "The Citizen" nach dem 4:1-Erfolg gegen England, und der "Sowetan" lobte die "Präzision der Wunderkinder".
Doch auch in den Niederlanden gilt der deutsche Fußball neuerdings als sexy. […] Dabei stellen sie fest, dass Joachim Löws Auswahl neuerdings fast holländisch spielt, mit schnellem, attraktivem Offensivfußball, während das Oranje-Team von Trainer Bert van Marwijk so strikt ergebnisorientiert agiert wie man es einst von den Deutschen kannte. Es ist den Niederländern auch nicht entgangen, dass Löw auf junge Talente mit ausländischen Wurzeln setzt, wie es das "Elftal", das holländische Nationalteam, seit Jahren vormacht. Seit dem "Sommermärchen" 2006 hat die Bundesrepublik einen sehr guten Ruf bei fußballbegeisterten Niederländern, die weiland zu Tausenden in die deutschen Stadien pilgerten. Der frühere Erfolgscoach Rinus Michels meinte noch in den 70er-Jahren, Fußball sei "Krieg". Inzwischen hat sich das stets besondere Verhältnis der Niederländer zu Deutschland gewandelt, aus Feindschaft wurde freundlich folkloristische Rivalität.
Nicht viel anders sieht es in Frankreich aus. Am Tag nach dem 4:0-Auftaktsieg gegen Australien waren die Zeitungen dort voll des Lobes für den deutschen Fußball. "Schönes Spiel und Effizienz", pries die tägliche Sportzeitung "L'Équipe". "Tore und Spektakel" habe die junge deutsche Mannschaft geboten, "nicht nur zur Freude ihres Trainers", sondern, so schwärmte das Fachblatt, "um es ganz deutlich zu sagen: zur Freude aller, die den Fußball lieben." Anerkennend schrieb das Blatt auch nach dem Spiel gegen England: Trotz des nicht gegebenen Tores von Frank Lampard habe Deutschland den Sieg "klar verdient": Spielerischer, ehrgeiziger und "realistischer" sei "la Mannschaft" gewesen und der Erfolg des jüngsten Teams des Wettbewerbs sei ein neuerlicher Beweis dafür, "dass diese Weltmeisterschaft jene der nouvelle vague ist."
Allerdings ist man noch zu sehr mit dem peinlichen Auftritt der eigenen Équipe beschäftigt, als dass die Freude am Spiel des Nachbarn in Frankreich überhand nehmen könnte. Trainer Raymond Domenech musste sich für das schlechte Abschneiden sogar vor einem Parlamentsausschuss rechtfertigen. […][So] ist stellenweise durchaus aufgefallen, dass die deutsche Nouvelle-Vague-Mannschaft auch für ein neues, bunter gemischtes Deutschland steht. "Kein Wunder, dass Ihr so gut seid", sagt ein tunesischer Gemüsehändler in Paris. "Ihr habt ja einen von uns – den Khedira." […]
Brasilianische, italienische und deutsche Fahnen wehen derzeit überall in Beirut. "Alle", strahlt der Schreibwarenhändler Nicholas Khalifeh in Beirut, "wirklich alle in dieser Straße sind für Deutschland." Er hat Fußballfanartikel in sein Sortiment aufgenommen, Fahnen, Badetücher und Armbänder in den Nationalfarben der Favoriten. "Am besten verkaufen sich deutsche Fahnen", sagt er, "dicht gefolgt von den brasilianischen." Deutscher Fußball ist nicht nur zu Zeiten der WM ein Zuschauerliebling – viele Libanesen verfolgen auch alle Bundesligaspiele. Sympathie für Deutschland ist hier weit verbreitet. Zum Glück nur selten wird dafür der Antisemitismus der NS-Zeit als Grund genannt. Es sind im Wesentlichen drei Dinge, auf denen die Begeisterung für Deutschland vor allem beruht: "Mercedes, Michael Schumacher und Fußball."
Was könnte nun das Geheimnis hinter der Attraktivität der jungen Botschafter eines neuen deutschen Lebensgefühls sein, wie es sowohl Lena als auch die jungen Schützlinge des fesch-legeren Trainers Jogi Löw in alle Welt ausstrahlen? Wie bei der Vermarktung von Lena verbindet der deutsche Erfolgsweg heute höchste Effektivität mit scheinbar schwereloser Ungekünsteltheit und unprätentiöser Authentizität. Der neue deutsche Fußballspieler ist wie Lena frei von vordergründigen Show- und Starallüren, verzichtet auf ablenkenden, eitlen Tand wie den eines Christiano Ronaldo und braucht keine aufwendigen, glitzernden Kulissen und Choreographien, um das Publikum mit seinem Charisma der Einfachheit zu fesseln.
Lena und Mesut wirken nicht wie aufgebrezelte Stars, sondern wie nette Mädchen und Jungs von nebenan. Es scheint zudem, als sei das junge Deutschland in die Welt gesandt worden, um ihr den Reiz der aktuellen deutschen Staatsdoktrin vor Augen zu führen: jenen der Sparsamkeit. Dass Sparsamkeit Spaß machen kann, bewies Lena, als sie das europäische Publikum mit ihren anscheinend urwüchsig improvisierten Gesten und tänzerischen Zuckungen dahinschmelzen ließ. Und die deutschen Kicker beweisen es, indem sie mit lässiger Nonchalance Zauberkombinationen zeigen, die man eigentlich nur 60 Millionen teuren internationalen Superstars zugetraut hätte.
So wurde man selbst im stilverwöhnten in Italien von dieser deutschen Mannschaft völlig überrascht. Die Fernsehkommentatoren des Staatssenders RAI waren schon beim Australien-Spiel sichtlich bemüht, mit Begriffen die deutsche Mannschaft zu beschreiben, die man bei Deutschlandspielen noch nie hörte: "Eine junge, dynamische Mannschaft, und vor allem schön, schön, wirklich schön. Für Deutschland-Begeisterung gegen Argentinien werden aber die neuen Sympathien nicht reichen: Denn zahlreiche Argentinier stammen von ausgewanderten Italienern ab, das verbindet. Und Diego Armando Maradona hat viele Jahre für den SSC Neapel gespielt, ist daher in Italien noch immer eine Ikone.
Wenig Hoffnung auf unterstützende Anteilnahme im Match gegen Argentinien gibt es für Deutschland auch in China. Zwar drückten die Chinesen der deutschen Mannschaft vor jedem bisherigen WM-Spiel die Daumen. Sie verkörpert in ihren Augen alle Primärtugenden, die Chinesen mit Deutschland verbinden, wie Präzision, Zuverlässigkeit, Kraft, Zusammenspiel, Elan, technische Leistung und Seriosität. Doch diesmal schlägt Chinas Herz für die Argentinier. Woran das liegt, dafür führt die chinesische Presse allerlei Gründe auf. Am ehesten könnte es daran liegen, dass die Fußball-WM 1978 die erste war, die in China übertragen wurde. Und die gewann Argentinien. Außerdem waren es die Argentinier, die bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking die Goldmedaille gewann.
Aber vielleicht ist es ja ganz gut, wenn immerhin ein Viertel der Menschheit heute im Viertelfinale einmal nicht die Daumen drückt. Dann wächst unsere Gewissheit, everybodys Darling zu sein, wenigstens nicht zu sehr in den Himmel. Sich zu sehr geliebt zu fühlen, kann unter Umständen nämlich nicht weniger negative Auswirkungen haben wie die quälende Überzeugung, man werde überall und ständig nur abgelehnt.
Aus: Richard Herzinger: Die lockeren Deutschen sind weltweit beliebt, in: Die Welt vom 02.07.2010,Externer Link: http://www.welt.de/politik/ausland/article8280164/Die-lockeren-Deutschen-sind-weltweit-beliebt.html (14.05.2014)
Arbeitsaufgaben
Fasse in eigenen Worten zusammen, wie sich das Image von Deutschland bzw. der deutschen Nationalmannschaft bei anderen Nationen durch die Weltmeisterschaft verändert hat.
Welche Gründe werden im Text für den Imagewandel genannt? Fallen dir weitere Gründe ein?
Welche Vorurteile und Stereotype über Deutschland haben nach wie vor Bestand?
Der Artikel von Richard Herzinger ist zur WM 2010 in Südafrika erschienen. Inwieweit hat sich deiner Meinung nach seitdem die Rolle Deutschlands in den letzten Jahren weiterentwickelt?
Eine Druckversion des Arbeitsblatts steht als Interner Link: PDF-Datei zur Verfügung.