Über die Auswirkungen der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auf das historische und politische Bewusstsein besonders bei Jugendlichen liegen vergleichsweise nur sehr wenige empirische Untersuchungen vor. Wir wissen kaum Verlässliches über die historisch-politischen Einstellungen bei Jugendlichen. Schule bzw. der historisch-politische Unterricht ist im Prozess der politischen Sozialisation von Jugendlichen zudem nur ein Faktor unter vielen, dessen Relevanz in Vergleich zu anderen Sozialisationsinstanzen weitgehend unerforscht ist.
Zwischen 1990 und 1992 führte der Hamburger Geschichtsdidaktiker Bodo von Borries eine empirische Untersuchung zu Geschichtsbewusstsein und politischen Orientierungen von Jugendlichen in der alten Bundesrepublik und den neuen Bundesländern im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft durch. Ihre Basis stellte eine repräsentative Befragung von 6.479 Schülern der Klassenstufen 6, 9, und 11 und des zweiten Ausbildungsjahrs beruflicher Bildung dar. Zusätzlich wurden 283 Lehrer aus Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg und den neuen Bundesländern befragt.
Die Studie ergab, dass die NS-Verbrechen im Bewusstsein der großen Mehrheit der Schüler präsent sind und negativ beurteilt werden, dass weiterhin Wissensunterschiede zwischen Ost und West nicht signifikant sind und sich eine höhere Anfälligkeit ostdeutscher Jugendlicher für Neonazismus, wie seit 1990 unterstellt, daraus nicht ableiten läßt. Der offizielle Antifaschismus ist trotz Instrumentalisierung durch die ehemalige DDR bei ost-deutschen Jugendlichen nicht delegitimiert, vielmehr sind diese Jugendlichen deutlich überzeugt, dass die DDR mehr als die BRD zum Bruch mit dem Faschismus geleistet habe, und sie sind zum Teil gerade darauf etwas stolz. Unterschiede in Wissen und Einstellungen sind auf Grund der Schulformen sowie zwischen Jungen und Mäd-chen feststellbar.
Mädchen sind dem Nationalsozialismus gegenüber deutlich kritischer eingestellt, während Jungen anfälliger dafür sind. Nachwirkungen einer vermuteten "marxistischen" Indoktrination sind bei den ostdeutschen Jugendlichen ebenfalls nicht festzustellen. Für die politische Orientierung spielt das geschichtliche Faktenwissen praktisch keine Rolle, wohl aber konventionelles Geschichtsbewusstsein bzw. sozio-kulturelle Prägungen aus dem persönlichen Umfeld der Befragten, wie zum Beispiel Erziehung zu Konformität und Unterordnung. [...]
Die doch überwiegend positiven Ergebnisse dieser Befragung werden z. B. durch die FORSA-Studie von 1994 weiter untermauert, dass nämlich die überwiegende Mehrheit der Deutschen heute ein realistisches Bild von der Zeit des Nationalsozialismus hat und mehrheitlich unempfänglich für neonazistische Propaganda oder die Leugnung der Verbrechen ist. Mit 87 % sind die Kenntnisse der Befragten über Konzentrationslager und Holocaust erstaunlich hoch. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass 25 Prozent der Deutschen für rechtsextremistisches, rassistisches und antisemitisches Gedankengut ansprechbar sind und 45 % der Jugendlichen in der alten Bundesrepublik ausgeprägte bis rassistische Überlegenheitsgefühle gegenüber Völkern Osteuropas haben – ein Befund der im Blick auf das Zusammenwachsen von Ost- und Westeuropa bedenklich stimmt.
Eine weitere im Rahmen einer Dissertation durchgeführte empirische Untersuchung aus dem Jahre 1994 über den Einfluss des historischen Wissens über Konzentrationslager und NS-Verbrechen auf das politische Bewusstsein und Engagement bei Jugendlichen sowie die Rolle von Gedenkstättenbesuchen in diesem Zusammenhang bestätigt – trotz empirisch äußerst schmaler Basis – die genannten Ergebnisse.
Einen signifikanten Zuwachs an Wissen stellt die Studie von Renata Barlog-Scholz zwischen 1985 und 1990 fest, wobei die Schule nach wie vor als die wichtigste Informationsquelle von 92 bzw. 94 % der Befragten angegeben wird. Die Medien folgen an zweiter Stelle (88 bzw. 84 %), danach werden Bücher und an vierter Stelle Gespräche in der Familie (60%) genannt. Nur 34 % der Jugendlichen nennen den Besuch einer Gedenkstätte im Jahr 1985, dagegen 44% im Jahr 1990. 1990 hatten 56% der Befragten eine Gedenkstätte besucht. 83% vertraten die Auffassung, dass Gedenkstätten heute noch wichtig sind, aber nur 7% sahen sich durch die Gedenkstätten im Nachdenken angeregt. Es wird sowohl der Mangel als auch der Überfluss an Informationen kritisiert, größere Sachlichkeit und Vielfalt in der Darstellung gefordert und vor allem die Aufdrängung von Schuldgefühlen abgelehnt.
Aus: Annegret Ehmann / Hanns-Fred Rathenow: Nationalsozialismus und Holocaust in der historisch-politischen Bildung, in: Lernen aus der Geschichte: Projekte zu Nationalsozialismus und Holocaust in Schule und Jugendarbeit, hrsg. von Annette Brinkmann, Annegret Ehmann, Sybil Milton, Hanns-Fred Rathenow, Regina Wyrwoll. ARCult Media Verlag, Bonn 2000.
Online: Externer Link: http//:www.lernen-aus.-der-geschichte.de/g/background_g.htm.