SZ: Herr Frei, im Fernsehen ist Adolf Hitler der größte lebende Deutsche. Besteht Aussicht, dass er zum Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai tot sein wird?
Norbert Frei: Nein, er ist ebenso wenig "tot" wie die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. Dafür sorgt schon der Kalender der Jahrestage, nach dem sich das Fernsehen immer mehr richtet: 60 Jahre Auschwitz-Befreiung, 60 Jahre Zerstörung Dresdens, 60 Jahre Kriegsende. Oder denken Sie an all die 100. und 150. und 200. Todestage, die immer intensiver und immer vorzeitiger medial vermarktet werden. Aber wenn sich die Leute durch diese Jahrestage mit Geschichte befassen, ist mir das natürlich lieber, als wenn sie Big Brother schauen.
SZ: Besonders gern schauen sie den allergrößten Bruder mit dem Schnurrbart an. Vor 40 Jahren kam das Psychoanalytiker-Ehepaar Mitscherlich auf die Formel von der "Unfähigkeit zu trauern".
Frei: Die Mitscherlich-These ging dahin, dass sich die Deutschen nach dem Krieg nicht zu ihrer Liebe zu Hitler, also auch nicht zur Trauer um ihn bekennen konnten. Bis weit in den Krieg hinein hatte die "Volksgemeinschaft" den Nationalsozialismus als eine positive Zeit erlebt. Hinterher hieß es, da war "das mit den Juden", aber sonst ging es uns doch gut, es ging aufwärts. Das alles war vom Gefühl her weiter da, sollte aber nicht mehr gesagt werden. Deshalb haben Hitlers Autobahnen als Mythos in der kollektiven Erinnerung so lange überlebt.
SZ: Aber Hitler doch auch.
Frei: Natürlich ist ein Film wie Bernd Eichingers Untergang heute politisch weit weniger virulent als beispielsweise Joachim Fests Hitler - Eine Karriere von 1977. Damals bestand das Publikum aus Leuten, die sich noch an ihre eigene Fasziniertheit erinnern konnten. Deswegen gab es die politische Warnung vor diesem Film und davor, dass die Macht der Riefenstahl-Bilder mit einem spärlichen Kommentar nicht zu brechen sei. Die jungen Leute heute gehen mit einem ganz anderen Blick in den Untergang. Sie betrachten Hitler wie ein fremdes Tier.
SZ: Der Untergang ist kein Geschichtswerk, sondern verlangt echte Leidenschaft. Das Publikum muss mitleiden, wenn ein großer Mann stirbt.
Frei: Ich kenne die Besucherforschung nicht, vermute aber, dass der Film konsumiert wird wie Indiana Jones. Der Untergang ist in diesem Sinne ganz gut gemachtes Kino, ein Stück halbfiktionaler Unterhaltung. Deshalb fand ich die pädagogischen Lobhudeleien von einigen Politikern so grotesk. Nur weil sie auch mal wieder im Kino waren, meinten sie, dass ausgerechnet dieser Film im Geschichtsunterricht verwendet werden müsse.
SZ: Guido Knopps Geschichts-Clips gefallen ebenfalls einem breiten Publikum. Meldet sich da nicht beim Historiker eine strukturelle Eifersucht gegenüber dem Fernsehen?
Frei: Ich weiß, dass in der Zunft darüber gerne eifersüchtig-abschätzig geredet wird, aber das ändert gar nichts. Wir müssen nüchtern sehen: Noch das erfolgreichste Buch eines Historikers - vielleicht haben wir immer noch zu wenig hervorragend geschriebene zeitgeschichtliche Bücher - wird nie an die Aufmerksamkeitszahlen herankommen, wie sie das Fernsehen erreicht. Dafür sind die elektronischen Medien aber flüchtiger.
SZ: Für Dokumentationen - vorzugsweise aus dem Umkreis des "Dritten Reiches" - gibt es fast unendlich Sendezeit.
Frei: Trotzdem bleibt die Reichweite solcher Sendungen - wenn sie nicht gerade "Hitlers Frauen" porträtieren - weit hinter der großer Spiel-Formate wie Stauffenberg oder der Filme Heinrich Breloers zurück. Mir scheint, das Genre "Kopfsalat mit Zeitzeugen" hat inzwischen eine Sättigungsgrenze erreicht, und das ist mehr als gut so. Das junge Publikum findet das nicht sonderlich attraktiv, das ist eher etwas für die Grauköpfe, die sich da selber reden hören - oder ihre Eltern, denen sie seinerzeit nicht zuhören mochten.
SZ: Demnächst sind die Zeitzeugen sämtlich weggestorben.
Frei: Deshalb erschafft sich das Fernsehen auf geradezu komische Art eine neue Variante davon: Jetzt ist es die Tochter der Frau des Gärtners von Heydrich, die die Beglaubigung liefert. Ein absurdes Spiel, das völlig in die Irre führt.
SZ: War der Zeitzeuge nicht mal eine Erfindung der Geschichtswissenschaft?
Frei: Das nun gerade nicht. In der Zeitgeschichtsforschung galt anfangs eher die Redensart: "Lügt wie ein Zeitzeuge". Allerdings hat die Geschichtswissenschaft viel zu lange Chancen, die in der systematischen Befragung von Zeitzeugen lagen, ungenutzt verstreichen lassen. In den fünfziger Jahren gab es am Institut für Zeitgeschichte in München ein kleines Programm, in dem man versucht hat, gezielt wichtige Figuren aus der NS-Zeit zu befragen. Natürlich haben diese jungen Zeithistoriker auch bemerkt, dass sie notorisch belogen wurden. Auf der anderen Seite gab es den Typus jener "Zeitzeugen" - der Heydrich-Stellvertreter Werner Best war so einer -, die es geschafft haben, sich als seriöse Gesprächspartner zu installieren und auf die Entwicklung der Geschichtsschreibung Einfluss zu nehmen. In Bests Fall betraf das SD, SS und Gestapo.
SZ: Der Zeitzeuge verfolgt schließlich sein eigenes Interesse.
Frei: Die frühe Zeitgeschichtsforschung ist ohne Zeitzeugen ausgekommen. Anders wurde es erst seit Anfang der achtziger Jahre, als die Oral History als neues Instrument entdeckt wurde. Da geht es aber nun gerade nicht um den Zeitzeugen, der etwas Besonderes erlebt hat, der wichtige Ereignisgeschichte beschreiben oder aus eigenem Mitwirken kommentieren kann - sondern um die so genannten einfachen Leute. "Geschichte von unten" fragt Dinge ab, die sich so in amtlichen Akten nicht finden.
SZ: Und der Zeitzeuge wurde TV-Star.
Frei: Das Fernsehen benutzt die individuellen Erinnerungen vor allem zur Illustration. Es geht um Authentizitätsfiktion. Der Zeitzeuge interessiert da nur als Beglaubiger. Was er im Einzelnen erzählt, ist gar nicht so wichtig, aber ein Gefühl soll transportiert werden. Es genügt ja oft, wenn er drei Sekunden lang sagt: "Es war schrecklich!"
SZ: Aber gerade im Dokumentarischen ist das Sentiment ganz wichtig. Die Hitler-Sekretärin Traudl Junge gilt in der Forschungsliteratur als unzuverlässige Zeugin, in Eichingers Untergang stellt aber ausgerechnet sie die Verbindung zu den letzten Tagen im Führerbunker her.
Frei: Ich würde das viel grundsätzlicher sehen und gar nicht auf die blutjunge Traudl Junge beschränken. Das Problem, das in diesem Film noch einmal evident wird, besteht darin, dass das Wissen über das, was in den letzten Tagen im Bunker passiert ist, fast ausschließlich von den Aussagen derer herrührt, die damals dabei waren.
SZ: ... die alle mit Geschichtsschreibung in ihrem Sinn beschäftigt sind.
Frei: Was wir über die Zeit da unten im Bunker wissen, ist das, was wir nach dem Willen der Überlebenden wissen sollen. Deshalb mussten für die Dialoge am Ende nur ein paar Sätze erfunden werden - von denen Herr Schirrmacher dann meint, das bezeuge die Künstlerschaft von Herrn Eichinger. In der Tat sind die Sätze nicht überliefert, die Hitler über seiner Makkaroni-Mahlzeit gesprochen hat. Dass wir sie jetzt hören dürfen, beweist angeblich die ganz große Kunst des Films. Und macht ihn, wie es heißt, in so unglaublich "tiefem Sinne" wahr.
SZ: Nicht nur Journalisten, auch Historiker wären ja gerne das Auge Gottes.
Frei: Die Frage ist doch: Will ich das wirklich aus der Perspektive derer erzählen, die da mittun? Warum will ich das? Ich bitte Sie, was ist an diesem Tattergreis, der da unten zwischen Wahnvorstellungen, Wutausbrüchen und irgendwelchen Sentimentalitäten changiert, denn so faszinierend? Kann ich damit tatsächlich etwas Erhellendes über die Beziehung der Deutschen zu Hitler vermitteln?
SZ: Vielleicht will man gar nichts lernen? Wird man durch den Untergang nicht durch diese Krankenschwestern-Perspektive entlastet?
Frei: Vom Produzenten hieß es immer, er wolle Hitler auch mal als Mensch zeigen. Das ist wirklich eine sensationelle Neuigkeit. Wir dachten ja immer, Hitler sei vom Mars gekommen.
SZ: Das ist die vertraute Perspektive der fünfziger Jahre.
Frei: Und Der Untergang löst die Probleme von damals.
SZ: Sie waren selber mehrmals Berater bei Geschichtsdokumentationen. Woran erkennt man eine gute?
Frei: Es gibt da sicher keinen Königsweg. Die deutsche Dokumentationsreihe Holokaust von Herrn Remy hat im Herbst 2000 tatsächlich einen neuen Erkenntnisstand präsentiert, basierend auf der Mitarbeit einer ganzen Reihe jüngerer Forscher. Aber das wollten die auf Hitlers Helfer trainierten ZDF-Zuschauer nicht so gerne sehen. Insgesamt hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen schon früh mit historisch-politischer Aufklärung begonnen und viel geleistet. 1960/61 lief bereits eine 14-teilige Serie Das Dritte Reich. Das Verheerende sind diese heutigen Drei-Sekunden-Schnitte, die keinerlei Zeit zum Nachdenken lassen - ganz zu schweigen von der Möglichkeit zu zeigen, wie viel psychodynamische Potenz noch immer in der Sache steckt. Und dann die Schlichtheit der Aussage - etwa beim Schiffe-Versenken à la Guido Knopp in der Atlantik-Schlacht. Über Wasser: Schiff fährt. Unter Wasser: Torpedo kommt. Schiff geht unter: Frau weint. Nächstes Schiff.
SZ: Guido Knopp war die Strafe dafür, dass die Zeitgeschichte lieber mit Strukturen und Statistiken hantiert hat. Das zeigte der Erfolg der US-Serie Holocaust.
Frei: Als Holocaust 1979 gesendet wurde, war die Lage eine unvergleichlich andere als heute. Der Spiegel hat damals nicht ganz zu Unrecht getitelt; "Schwarzer Freitag für die Geschichtswissenschaft". In der Tat hatten die Historiker, über das frühe Konstatieren des Judenmords hinaus, die Sache selbst bis dahin wenig erforscht. Insofern hat dieser Film die Geschichtswissenschaft aufgerüttelt.
SZ: Mittlerweile ist die Zeitgeschichte im Fernsehen richtig populär.
Frei: Ich glaube, im Zeichen der Quote wird der Zuschauer oft unterfordert. Vielleicht wäre es mal interessant, statt immer nur auf die Quote zu schauen, sich die Frage zu stellen: Wie gehen die Leute damit um, was machen sie hinterher?
SZ: Arte zeigt zum Jahrestag des Kriegsendes auch Dokumentationen zur Résistance in Frankreich. In Deutschland könnte das Fernsehen keine Generaldebatte mehr auslösen, wie sie sich in Frankreich über die Kollaboration ankündigt.
Frei: Insofern sind die Deutschen vielleicht tatsächlich ein Stückchen weiter als andere. Auch der Holocaust, um bei diesem Beispiel zu bleiben, war "gelebte europäische Zusammenarbeit" - das ist noch ein großes Thema für die Zukunft. Wer die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs als negativen Bezugspunkt für ein zusammenwachsendes Europa wachhalten will, sollte das nicht einfach nur deklamieren, sondern sich auch an die nationalen Lebenslügen und Mythen machen.
SZ: Da war der Auftritt von Prinz Harry im Nazi-Kostüm doch völkerverbindend. In Deutschland war man gleich dafür, NS-Symbole europaweit zu verbieten.
Frei: Ich finde es interessant, dass wir glauben, unsere besonderen Gesetze exportieren zu müssen. Aber das Beispiel Prinz Harry zeigt, dass sich inzwischen vieles vom historischen Sujet ablöst. In England kommt hinzu, dass Boulevardblätter die Abgrenzung von Deutschland seit langem über das geschichtliche Thema spielen. Und es ist nicht zu übersehen: Hitler ist inzwischen auch eine Größe der Popkultur.
SZ: Bei uns steht dafür der berühmte Schnurrbart - den allein der Spiegel 2004 drei Mal auf dem Titel hatte. Und der Popstar Hitler ist ein nicht zu unterschätzender Wirtschaftsfaktor. Im vergangenen Jahr hat er den deutschen Film gerettet.
Frei: Das Interesse ist eben immer noch riesengroß - und vielleicht sogar weiter steigerungsfähig, wenn in den Medien die Hemmungen weiter zurückgehen, auch bei diesem Thema auf Unterhaltung zu setzen. Aber wir wissen alle: Es gibt gute und es gibt schlechte Unterhaltung.
Aus: "Kopfsalat mit Zeitzeugen", Süddeutsche Zeitung vom 22./23. Januar 2005
Interview: Claudia Tieschky, Willi Winkler