Das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an Politik ist ein wichtiger Gradmesser dafür, inwieweit sie das politische Geschehen registrieren und an ihm teilnehmen, das heißt, ob Politik für die Bürgerinnen und Bürger wichtig genug ist, um sich darüber zu informieren und sich gegebenenfalls dafür zu engagieren. Das politische Interesse wird durch die Frage "Wie stark interessieren Sie sich für Politik: sehr stark, stark, mittel, wenig oder überhaupt nicht?" bereits seit 1969 in repräsentativen Bevölkerungsumfragen erfasst.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich der Anteil derjenigen, die sich stark oder sogar sehr stark für Politik interessieren, beständig und sehr dynamisch verändert. Zum Zeitpunkt der deutschen Vereinigung 1990 war er im früheren Bundesgebiet am höchsten und sank dann wieder ab. Allerdings lag das Niveau weiterhin höher als Anfang der 1980er-Jahre. Das politische Interesse stieg in den vergangenen Jahren insgesamt wieder deutlich, sodass es 2014 den Stand von 1990 erstmals wieder übertraf und sich bis 2021 weiterhin ein leichter Anstieg verzeichnen lässt. Das politische Interesse war im früheren Bundesgebiet 2021 etwa 5 Prozentpunkte höher als zu seinem letzten Höhepunkt 1990. Der langfristige Vergleich zeigt, dass heute mehr Bürgerinnen und Bürger am politischen Geschehen interessiert sind als noch Ende der 1960er-Jahre. So waren 1969 lediglich 18 % stark oder sogar sehr stark an Politik interessiert, 2021 waren es in Westdeutschland 42 %. In Ostdeutschland waren die Bürgerinnen und Bürger bis etwa 2010 etwas weniger politisch interessiert als in Westdeutschland. Seit dem Jahr 2010 wurde dieser Unterschied sehr klein.
Die deutlichen Unterschiede beim Interesse an der Politik zwischen jüngeren und älteren Bürgerinnen und Bürgern, die sich nach der Vereinigung 1990 etablierten, sind in Ostdeutschland aber noch sichtbar. Unter den 18- bis 29-jährigen Ostdeutschen lag das politische Interesse 6 Prozentpunkte unter dem des Durchschnitts der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger. Vor 1990 interessierten sich Jüngere im damaligen Bundesgebiet nur geringfügig weniger für Politik. Im Durchschnitt der Jahre 1990 bis 2021 lag der Anteil der 18- bis 29-Jährigen, die sich für Politik interessierten, im früheren Bundesgebiet 10 Prozentpunkte und in den neuen Bundesländern 8 Prozentpunkte unter dem jeweiligen Bevölkerungsdurchschnitt. In Westdeutschland ist dieser Unterschied 2021 verschwunden.
Noch größer als die Differenz zwischen jüngerer Bevölkerung und Bevölkerungsdurchschnitt ist jene zwischen Personen mit Abitur und dem Bevölkerungsdurchschnitt. Unter den Bürgerinnen und Bürgern mit Abitur betrug der Anteil derjenigen, die sich stark oder sehr stark für Politik interessierten, 2021 im früheren Bundesgebiet 56 % und in den neuen Bundesländern 54 %. Damit lagen Personen mit Abitur im Westen etwa 14 und im Osten etwa 16 Prozentpunkte über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Das politische Interesse ist also deutlich durch Alters- und Bildungsunterschiede geprägt, wohingegen regionale Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland kaum festzustellen sind. Zugleich schwankten die Unterschiede im politischen Interesse zwischen der Gesamtbevölkerung und Bürgerinnen und Bürgern mit Abitur im Zeitverlauf. Die Differenz lag im Schnitt bei etwa 20 Prozentpunkten. Ein Trend lässt sich dabei aber nicht feststellen. Eine Zu- oder Abnahme bildungsbedingter Unterschiede im politischen Interesse ist seit der ersten Allgemeinen Bevölkerungsumfrage in den Sozialwissenschaften (ALLBUS) 1980 also nicht festzustellen. Auch die Coronapandemie hat am Ausmaß politischen Interesses nichts geändert.
Politisches Interesse ist sicherlich förderlich für politische Beteiligung. Das Repertoire der Beteiligungsformen hat sich über klassische institutionalisierte Formen wie Wahlen hinaus in den vergangenen Jahrzehnten stark ausgeweitet. Neben institutionalisierten Formen der Beteiligung wie der Mitarbeit in Parteien, Bürgerinitiativen, Vereinen und Organisationen nutzen Bürgerinnen und Bürger vermehrt Formen nicht institutionalisierter politischer Beteiligung wie die Kontaktaufnahme zu Politikerinnen und Politikern, Unterschriftensammlungen und Demonstrationen, um ihren Interessen Ausdruck zu verleihen (siehe dazu auch Interner Link: Kapitel 10.4). Diese Arten politischer Aktivität haben in Deutschland seit Ende der 1950er-Jahre kontinuierlich zugenommen. In diesem Zusammenhang wurde von einer "partizipatorischen Revolution" gesprochen, mit der sich nicht nur in Deutschland, sondern in allen modernen Demokratien nicht institutionalisierte Formen der politischen Beteiligung etablierten.
Die Anteile derjenigen, die angaben, in den zurückliegenden zwölf Monaten an den beiden häufigsten Formen nicht institutionalisierter Beteiligung, Unterschriftensammlungen und Demonstrationen, mitgewirkt zu haben, waren in den 1990er-Jahren recht stabil. Seit der Jahrtausendwende zeigt sich in Ost- wie in Westdeutschland eine mehr oder minder als Trend verlaufende Zunahme von Kontakten zu Politikerinnen und Politikern, sowie, noch deutlicher, der Mitarbeit in einer Organisation oder einem Verein. In Westdeutschland verzeichnet auch die Beteiligung an Unterschriftensammlungen einen klaren Trend nach oben. Die Pandemiejahre ab 2020 haben diesen Trend allerdings gebrochen. Die Eingrenzung der Bewegungsfreiheit und Einschränkung von Kontakten ließen weniger Möglichkeiten für kollektive Aktionen. In allen Beteiligungsformen mit Ausnahme von Demonstrationsteilnahmen und der Parteiarbeit hat es deutliche Einbrüche in den Beteiligungsanteilen gegeben.
Bei Politikerkontakten gab es deutliche Einbrüche, die in beiden Landesteilen gleich stark waren. 2018 gaben 19 % in Ost- und 20 % in Westdeutschland an, Kontakt zu Politikerinnen und Politikern gehabt zu haben, 2020 dann 12 beziehungsweise 13 %. Relative Konstanz gab es bei den Demonstrationsteilnahmen (2020: 7 % im Osten, 8 % im Westen) und der Parteiarbeit (2020: 6 % im Osten, 7 % im Westen). Etwas größer sind die Unterschiede bei Unterschriftensammlungen (Westdeutschland: 23 %, Ostdeutschland: 20 %) – jeweils ein Rückgang von etwa 16 Prozentpunkten gegenüber 2018 – und bei der Arbeit in Vereinen und Organisationen (Westdeutschland: 24 %, Ostdeutschland: 16 %), ebenfalls in beiden Teilen Deutschlands mit deutlichen Rückgängen.
Werden die Werte zwischen Ost und West, zwischen Menschen mit und ohne Hochschulabschluss sowie zwischen Jüngeren und Älteren für das Jahr 2020 verglichen, sind die regionalen Unterschiede am geringsten und nahezu vernachlässigbar. Die politische Integration und Teilhabe sind in den neuen Bundesländern und im früheren Bundesgebiet fast gleich hoch ausgeprägt. Dasselbe lässt sich allerdings nicht für die Unterschiede zwischen Bildungsgruppen sagen. Hier zeigt sich bei allen Formen der Beteiligung eine sehr viel stärkere Beteiligung von Menschen mit Hochschulabschluss. 2020 lag die Beteiligungsquote der Bürgerinnen und Bürger mit einem Hochschulabschluss bei Unterschriftensammlungen 17 Prozentpunkte, bei der Arbeit in Vereinen und Organisationen 10 Prozentpunkte, bei Kontakten zu Politikerinnen und Politikern 9 Prozentpunkte und bei Parteiarbeit sowie Demonstrationen etwa 8 Prozentpunkte höher als bei denjenigen ohne Hochschulabschluss.
Der Vergleich zwischen jüngeren Bürgerinnen und Bürgern im Alter von 18 bis 29 Jahren und Älteren ab 30 Jahren zeigt, dass es über die verschiedenen Formen der Beteiligung hinweg keinen allgemeinen Unterschied zwischen den beiden Gruppen gibt. Es sind nicht immer die Jüngeren, die sich stärker beteiligen, vielmehr kommt es auf die Art der Beteiligung an. Demonstrationen als Mittel der Beteiligung wurden 2020 von 16 % der Jüngeren genutzt, aber nur von 6 % der Älteren, und auch bei der Unterschriftensammlung war die Beteiligung der Jüngeren deutlich höher. Bei anderen Beteiligungsformen gab es nur geringe Unterschiede zwischen Jüngeren und Älteren. Personen im Alter von 30 Jahren und älter haben etwas häufiger Politikerinnen und Politiker kontaktiert.
Was die Ausgeglichenheit der politischen Integration und politischen Teilhabe angeht, ergibt sich damit insgesamt ein gemischtes Bild. Die großen Unterschiede zwischen Ost und West sind verschwunden, auch die Unterschiede zwischen Jüngeren und Älteren verweisen nicht auf Defizite politischer Integration. Anders zu beurteilen ist das Gefälle in der Beteiligung von Menschen mit und ohne Hochschulbildung. Hier zeigen sich über alle Beteiligungsformen hinweg systematische Unterschiede, die als sozial induzierte politische Ungleichheit zu bewerten sind.