Das Modell in Abbildung 1 zeigt, dass die Unterschiede in materiellen, körperlichen, mentalen und sozialen Risiken durch eine nicht direkt beobachtbare Größe beeinflusst werden, die den Grad der Verletzlichkeit älterer Menschen widerspiegelt. Hierbei hängen die körperliche und die mentale Gesundheit (zum Beispiel Funktionseinschränkungen oder mentale Probleme) stärker mit der Situation der Vulnerabilität bei älteren Menschen zusammen als soziale oder materielle Indikatoren (zum Beispiel Einkommensarmut oder Einsamkeit). Erhöht man den Grad der Vulnerabilität um eine Einheit der mittleren Streuung von allen gemessenen Werten um den Mittelwert dieses Indikators (Standardabweichung), so steigt zum Beispiel das Chancenverhältnis ("Odds Ratio") des Vorliegens einer gesundheitsbedingten Funktionseinschränkung um etwas mehr als das 20-fache, die von Einsamkeit jedoch nur um das Vierfache.
Vulnerabilität bei älteren Menschen in Deutschland
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Sozialbericht: Kapitel 9.3.1 und 9.3.2
Info 1Methode zur Berechnung der Vulnerabilität
Eine Situation der Vulnerabilität kann auf der Grundlage von Benachteiligungen und Risiken in fünf Bereichen gemessen werden: Einsamkeit, Einkommensarmut, Funktionseinschränkungen, mentale Probleme sowie Multimorbidität. Im Deutschen Alterssurvey (DEAS) aus den Jahren 2020/21 existieren zu diesen Bereichen thematisch einschlägige und zum Teil standardisierte Indikatoren, die für die Messung der latenten, das heißt nicht direkt messbaren Variable Vulnerabilität verwendet wurden. Es handelt sich im Einzelnen um eine standardisierte Einsamkeitsskala mit sechs Items, eine anhand von 60 % und weniger des medianen Äquivalenzeinkommens ermittelte Armutsrisikoschwelle, gesundheitsbezogene Einschränkungen bei der Verrichtung alltäglicher Routinen (zum Beispiel Duschen oder Anziehen), mentale Einschränkungen anhand einer allgemeinen Depressionsskala sowie das Vorliegen von Multimorbidität anhand der Anzahl chronischer Erkrankungen. Diese Indikatoren wurden dichotomisiert (0 = nicht vorhanden, 1 = vorhanden) und danach in einer konfirmatorischen Faktorenanalyse zur Messung der latenten Variable "Vulnerabilität" verwendet. Um die statistischen Zusammenhänge zwischen der latenten Variable Vulnerabilität und den direkt beobachteten Indikatoren darzustellen, wurden "Odds Ratios" (OR) berechnet. Der OR gibt das Chancenverhältnis wieder, dass ein Ereignis in einer bestimmten Gruppe eintritt. Diese statistische Kennzahl sagt somit etwas über die Stärke des Zusammenhangs zwischen zwei Merkmalen aus. Sie kann Werte zwischen 0 und unendlich annehmen, wobei ein größerer Wert einen stärkeres Chancenverhältnis anzeigt. Werte über 1 zeigen einen positiven statistischen Zusammenhang an (OR > 1), während Werte unter 1 auf einen negativen Zusammenhang hindeuten (OR 1). Ein Wert von 1 bedeutet, dass kein statistischer Zusammenhang besteht (OR = 1). Die Faktorwerte der so ermittelten latenten Variable wurden schließlich in eine Skala von 0 (geringe Vulnerabilität) bis 100 (hohe Vulnerabilität) transformiert.
Die Lebenssituation der meisten älteren Menschen in Deutschland war 2020/21 von einem geringen Grad von Vulnerabilität gekennzeichnet. So lag der Median auf einer Skala von 0 (geringste Vulnerabilität) bis 100 (höchste Vulnerabilität) bei 17,4, das heißt, die Hälfte der Befragten wies maximal diesen oder einen niedrigeren Wert auf. Knapp vier Fünftel (79,6 %) hatten einen Vulnerabilitätswert im Bereich von 0 bis 49, nur etwas mehr als jede/jeder fünfte Befragte wies einen Wert von größer oder gleich 50 auf, was auf eine mittlere bis hohe Vulnerabilität hindeutet. Es handelt sich bei älteren Menschen mit mittlerer bis hoher Vulnerabilität um Personen, deren Lebenssituation durch Risiken in mindestens einem der in Abbildung 1 aufgeführten Bereiche geprägt ist.
Der Grad der Vulnerabilität nimmt mit steigendem Alter zu und ist bei den Hochaltrigen, die der Altersgruppe der 85-Jährigen und Älteren entsprechen, am höchsten. So war in den Jahren 2020/21 die Vulnerabilität bei den Frauen in dieser Altersgruppe etwas mehr als doppelt so hoch wie in der Altersgruppe der 65- bis 69-Jährigen, während sie bei den Männern um das 1,8-Fache anstieg. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass es sichtbare Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, wobei Frauen erst ab dem Alter von 70 Jahren im Schnitt eine höhere Vulnerabilität aufweisen als Männer. Dies hängt ab diesem Alter vermutlich sowohl mit einem höheren Anteil von Frauen zusammen, die aufgrund von Verwitwung allein leben, als auch mit einem höheren Anteil von Frauen mit Armutsrisiko, was auf den durchschnittlich geringeren Erwerbsumfang und häufigeren Erwerbsunterbrechungen im Vergleich zu Männern zurückgeführt werden kann. Darüber hinaus bewerten Frauen im Vergleich zu Männern ihre Gesundheit häufig schlechter, was im Ergebnis zu einem höheren Grad an gemessener Vulnerabilität führt.
Die Situation der Vulnerabilität unterscheidet sich zudem nach formeller Bildung und nach der Wohnregion. So zeigte sich 2020/21 vor allem in der Altersgruppe der 75- bis 84-Jährigen und bei den Hochaltrigen (85 Jahre und älter), dass ältere Menschen mit geringem Bildungsabschluss eine höhere Vulnerabilität aufwiesen als Menschen mit mittlerer oder hoher Bildung. Somit wird der Grad der Vulnerabilität älterer Menschen auch durch Ungleichheiten der formellen Bildung beeinflusst, die in aller Regel relativ früh im Lebensverlauf beginnen und die die sozioökonomische Lage in späteren Lebensphasen maßgeblich beeinflussen.
Zudem wiesen ältere Menschen in den östlichen Bundesländern (einschließlich Berlin) eine etwas höhere Vulnerabilität auf als Personen in den westlichen Bundesländern (ohne Abbildung). Dies spiegelt die ungleichen Lebensverhältnisse wider, die nach wie vor zwischen östlichen und westlichen Bundesländern zu beobachten sind und auch die Lebenssituation älterer Menschen beeinflussen.
Wendet man sich der allgemeinen Lebenszufriedenheit als Indikator des Wohlbefindens zu, so sieht man, dass diese einen stetigen Zusammenhang mit der Vulnerabilität aufweist: Je höher der Grad der Vulnerabilität, desto geringer die allgemeine Lebenszufriedenheit.
Die Differenz zwischen dem durchschnittlichen Zufriedenheitswert von Menschen mit geringer Vulnerabilität und dem von Menschen mit hoher Vulnerabilität beträgt 0,6, was einem Unterschied von 12 % auf der fünfstufigen Skala der allgemeinen Lebenszufriedenheit entspricht (1 = sehr niedrige bis 5 = sehr hohe Lebenszufriedenheit). Es handelt sich hierbei um substanzielle Unterschiede, sodass man zu dem Schluss kommt, dass eine Situation der Vulnerabilität einen ernstzunehmenden Risikofaktor für das Wohlbefinden älterer Menschen darstellt.
Zusammenfassung
Eine Situation der Vulnerabilität bei Menschen im Alter von 65 Jahren und älter kann anhand der Merkmale Einkommensarmut, Einsamkeit, gesundheitsbedingte Funktionseinschränkungen, Multimorbidität sowie mentale Probleme empirisch erfasst werden. Hierbei werden gesundheitsbedingte Funktionseinschränkungen und die mentale Gesundheit am stärksten von der Vulnerabilität beeinflusst. Die aktuellen Daten des Deutschen Alterssurveys (DEAS) zeigen, dass sich in Deutschland etwas mehr als jede / jeder Fünfte in der betrachteten Altersgruppe in einer Situation der Vulnerabilität befindet. Jedoch zeigen die Ergebnisse auch, dass die Lebenssituation der meisten älteren Menschen nur von einem geringen Grad an Vulnerabilität gekennzeichnet ist.
Der Grad der Vulnerabilität hängt mit dem Alter, dem Geschlecht, dem Bildungsniveau und der Wohnregion zusammen. Darüber hinaus zeigt die Vulnerabilität einen negativen Zusammenhang mit der allgemeinen Lebenszufriedenheit, das heißt, je höher der Grad der Vulnerabilität, desto geringer ist die Lebenszufriedenheit älterer Menschen. Das subjektive Wohlbefinden in der Lebensphase Alter hängt demnach stark mit Risiken in der sozialen, materiellen und gesundheitlichen Lebenssituation zusammen. Aus diesem Grund ist es wichtig, möglichst frühzeitig im Lebensverlauf präventiv gegen solche Risiken vorzugehen, da sie sich in der zweiten Lebenshälfte tendenziell anhäufen. Dies ist gerade auch im Zusammenhang mit der fortschreitenden demografischen Alterung von hoher gesellschaftlicher und politischer Relevanz.
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