Die Region, in der ein Mensch lebt, kann seine Lebenschancen beeinflussen. Dies kann durch unterschiedliche infrastrukturelle Bedingungen, etwa im Gesundheits- oder Bildungsbereich, geschehen. Auch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind regional ungleich verteilt. Darüber hinaus können aber auch kleinräumige sozialstrukturelle Unterschiede auf der Ebene von Stadtquartieren Lebenschancen verändern. Konzentrieren sich beispielsweise viele arme Kinder oder Kinder mit Migrationshintergrund in einem Stadtteil, so hat auch die Schule vor Ort größere Herausforderungen zu bewältigen. Die Kinder an einer solchen Schule haben oft größere Sprachdefizite, es kommt häufiger zu störendem Verhalten im Unterricht und in Zeiten des Lehrermangels fehlen hier oftmals Lehrkräfte.
Zu regionalen soziostrukturellen Disparitäten gibt es auf der Ebene der 400 deutschen Kreise und kreisfreien Städte eine Vielzahl von Untersuchungen. Auch für die knapp 11.000 deutschen Gemeinden beziehungsweise fast 5.000 Gemeindeverbände liegt eine Reihe von soziostrukturellen Analysen vor. Deutlich weniger Aufmerksamkeit wurde bisher kleinräumigen Analysen innerhalb der Städte geschenkt. Und das obwohl die sozialen Unterschiede bei der Armutsverteilung innerhalb von Städten weitaus größer sind als die Unterschiede zwischen verschiedenen Kreisen und Gemeinden.
Armut wird in diesem Kapitel über den Anteil von Personen (unter 65 Jahren) gemessen, die Transferleistungen aus dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) erhalten. Eine einkommensbasierte Definition ist auf kleinräumiger Ebene nicht verfügbar. Die kreisspezifischen Unterschiede der SGB-II-Quoten betrugen im Jahr 2022 maximal rund 23 Prozentpunkte. Den höchsten Wert wies dabei die kreisfreie Stadt Gelsenkirchen auf (24,4 %), den niedrigsten Wert der Kreis Pfaffenhoffen an der Ulm (1,3 %) (Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung [BBSR] 2023, siehe Info 1). Innerhalb der Städte variierten die SGB-II-Quoten im gleichen Jahr deutlich stärker. In Essen, Erfurt und Duisburg waren auf Stadtteilebene Unterschiede von rund 35 Prozentpunkten, in Dortmund und Kiel von 40 Prozentpunkten, in Köln, Halle (Saale) und Schwerin von 45 Prozentpunkten und in Hamburg und Berlin von fast 60 Prozentpunkten zu beobachten.
Große Unterschiede innerhalb der Städte zeigen sich auch, wenn die Verteilung der Personen mit nicht deutscher Staatsangehörigkeit betrachtet wird. Hier unterschieden sich die Stadtteile mit dem niedrigsten und dem höchsten Ausländeranteil in Kiel um gut 35 Prozentpunkte, in Essen und Halle (Saale) um 45 Prozentpunkte, in Duisburg, Dortmund und Stuttgart um rund 55 Prozentpunkte, in Berlin um 60 Prozentpunkte und in Hamburg um 70 Prozentpunkte. Auf Kreisebene betrug die Differenz bei diesem Indikator im Jahr 2020 nur knapp 35 Prozentpunkte. Im Erzgebirgskreis lag der Ausländeranteil bei rund 2 % und in der kreisfreien Stadt Offenbach am Main bei fast 37 %. Die soziale und ethnische Polarisierung innerhalb einzelner Städte ist damit zum Teil deutlich größer als zwischen den Kreisen und kreisfreien Städten Deutschlands.
In dem vorliegenden Kapitel soll anhand der Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) die soziale Polarisierung in den 153 größten deutschen Städten dargestellt werden.
Info 1Datengrundlage
Für die Untersuchung der innerstädtischen Sozialstruktur fehlen öffentlich zugängliche Datenquellen. Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) sammelt allerdings im Rahmen der sogenannten Innerstädtischen Raumbeobachtung (IRB) seit vielen Jahren Daten zu den größten Städten Deutschlands, die sich durch Daten weiterer Städte ergänzen lassen. Diese müssen bei jeder Stadt einzeln angefragt werden. In der Studie von Marcel Helbig (2023), Hinter den Fassaden. Zur Ungleichverteilung von Armut, Reichtum, Bildung und Ethnie in den deutschen Städten. WZB Discussion Paper P 2023-003 (Externer Link: https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2023/p23-003.pdf), auf der das hier vorliegende Kapitel beruht, wurden Daten für 101 deutsche Städte zusammengetragen. Darin finden sich auch methodische Hinweise sowie ausführliche Ergebnisse.
Die kommunalen Daten bieten eine Vielzahl von Verknüpfungsmöglichkeiten mit Merkmalen aus der Einwohnermeldestatistik und den Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA). Eine Schwierigkeit für den Vergleich der Kommunen ergibt sich daraus, dass jede Stadt ihre Stadtteile, statistischen Bezirke oder Quartiere selbst kartografiert. So gibt es Städte, in denen in einem Stadtteil durchschnittlich nur rund 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner leben, während es in anderen über 10.000 sind. Ein präziser Vergleich zwischen den Städten ist daher nicht immer möglich.
Eine weitere Quelle bilden die Daten der BA. Sie wurden für die vorliegenden Auswertungen auf einem einheitlichen Raster von einem Quadratkilometer für die Jahre 2013 bis 2022 zur Verfügung gestellt. Darin enthalten sind Statistiken zu SGB-II-Empfangenden, Arbeitslosen und sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Mit diesen Daten ist es möglich, kleinräumige soziale Ungleichheiten für ganz Deutschland auf Basis eines einheitlichen Gebietsrasters zu vergleichen. Allerdings stellt die BA-Statistik keine Informationen zu Bevölkerungszahlen oder spezifischen Altersgruppen zur Verfügung. Diese Daten können derzeit nur von marktwirtschaftlich orientierten Unternehmen geschätzt werden, um beispielsweise die Bezugsgrößen (etwa: Personen unter 65 Jahre) für die SGB-II-Zahlen zu erhalten und damit kleinräumige Armutsquoten zu berechnen.
Die Armutssegregation wurde in Abbildung 1 und 2 als Anteil der Leistungsempfangenden an allen Personen unter 65 Jahren berechnet. In Abbildung wurde diese für erwerbsfähige Leistungsempfangenden an allen Personen im Alter von 15 bis 64 Jahren berechnet, um sie mit der Bildungs- und Einkommenssegregation vergleichen zu können. Die Bildungssegregation bezieht sich auf den Anteil der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten und Arbeitslosen mit einem akademischen Abschluss an allen Erwerbspersonen. Die Einkommenssegregation bezieht sich auf den Anteil der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten mit Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze an allen Erwerbspersonen.