Viele Erwerbstätige in Deutschland empfinden ihr eigenes Einkommen als ungerecht. Aber wie würde die Einkommensverteilung in Deutschland aussehen, wenn alle das Bruttoeinkommen erhalten würden, das sie als gerecht erachten? In den Erhebungen des SOEP wurde auch nach der konkreten Höhe gefragt, die das eigene Einkommen haben müsste, um gerecht zu sein. Für Personen, die ihr Einkommen als gerecht bewerteten, waren tatsächliches und gerechtes Einkommen identisch, für alle anderen unterschied sich der gerechte vom tatsächlichen Einkommensbetrag. Berechnet man aus diesen Angaben eine aus Perspektive der Befragten "gerechte" Einkommensverteilung, kann diese mit der tatsächlichen Einkommensverteilung verglichen werden. Der Vergleich in Abbildung 6 zeigt, dass eine solche "gerechte" Einkommensverteilung gegenüber der realen Verteilung leicht nach rechts verschoben ist, die Beschäftigten in Deutschland in einer "gerechten" Welt also mehr Einkommen für ihre Arbeit bekommen würden.
Gerechtigkeitsbewertung der Einkommensverteilung
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Sozialbericht: Kapitel 7.1.4 und 7.1.5
Besonders deutlich ist diese Verschiebung bei Personen mit niedrigen und mittleren Einkommen. Dies wird auch deutlich, wenn die durchschnittlichen Monatseinkommen der obersten und untersten 10 % in der Einkommensverteilung ins Verhältnis gesetzt werden. Dieser Indikator, der auch als "P90/10" bezeichnet wird, zeigt an, dass bei der tatsächlichen Verteilung der Bruttoeinkommen die Spitzenverdiener rund zehnmal so viel verdienen wie die Niedrigverdiener. Würden alle Befragten das für sie persönlich als gerecht empfundene Einkommen verdienen, würden die obersten 10 % nur siebenmal so viel verdienen wie die untersten 10 % Das Verhältnis wäre damit weniger ungleich.
Die Verteilung auf Basis "gerechter" persönlicher Einkommen folgt dennoch keinem Gleichheitsideal. Auch wenn alle befragten Beschäftigten das Einkommen bekämen, das sie für sich persönlich als gerecht bewerteten, würde es nach wie vor deutliche Einkommensungleichheiten in Deutschland geben. Dies spiegelt sich auch in der eher geringen Zustimmung für das Gleichheitsprinzip und der hohen Zustimmung zum Leistungsprinzip wider. Insbesondere am unteren Ende der Einkommensverteilung zeigt sich dabei ein empfundenes Gerechtigkeitsdefizit.
Bei der Berechnung der "gerechten" Einkommensverteilung in Abbildung 6 wurde nur berücksichtigt, welches Einkommen Erwerbstätigte in Deutschland für sich selbst als gerecht betrachten würden. Bei der Frage, wie gerecht die Einkommensverteilung in Deutschland ist, geht es jedoch nicht nur um das eigene Einkommen, sondern auch um die Einkommen anderer. Auch wenn ich mich selbst gerecht entlohnt fühle, kann ich ungerecht finden, was andere Menschen um mich herum verdienen. Informationen dazu, wie diese Einkommensverteilung von der Bevölkerung bewertet wird, stellt die Erhebung des International Social Survey Programme (ISSP) aus dem Jahr 2019 bereit. Befragte aus verschiedenen Ländern sollten angeben, ob sie die Einkommensverteilung in ihrem Land als "sehr gerecht", "gerecht", "ungerecht" oder "sehr ungerecht" einschätzen. In Abbildung 7 ist für verschiedene europäische Länder und Israel der Anteil der Personen dargestellt, die die Einkommensverteilung als "sehr gerecht" oder "gerecht" bewerteten. Dänemark ist das einzige Land, in dem die Einkommensverteilung mehrheitlich als gerecht bewertet wurde. In Deutschland bewertete nur rund ein Fünftel der Befragten die Einkommensverteilung als mindestens gerecht. Trotz dieser recht negativen Sicht auf die Einkommensgerechtigkeit im Land liegt Deutschland mit diesem Wert noch im europäischen Mittelfeld. In Bulgarien, Kroatien, Italien, Litauen und Russland bewerteten weniger als 10 % der Befragten die Einkommensverteilung in ihrem Land als gerecht.
Im Ergebnis zeigt sich eine deutlich kritischere Einschätzung, wenn es um die Einkommensverteilung als Ganzes und nicht die eigene Einkommenssituation geht. Die unterschiedlichen Datenquellen, Befragungszeitpunkte und zugrunde liegenden Erhebungsinstrumente lassen keinen direkten Vergleich der Einschätzung der eigenen Einkommen im SOEP und der Einschätzung der Einkommensverteilung im ISSP zu. Die darin enthaltenen Muster deuten jedoch darauf hin, dass die Befragten Ungerechtigkeiten in der Einkommensverteilung wahrnehmen, auch wenn sie sich selbst nicht davon betroffen fühlen.
Zusammenfassung und Fazit
Eine Grundannahme der empirischen Gerechtigkeitsforschung lautet, dass Ungleichheit vor allem dann mit negativen gesellschaftlichen Konsequenzen verbunden ist, wenn die Ungleichheit als ungerecht bewertet wird. Ein Blick auf die normativen Vorstellungen in Bezug auf eine gerechte Verteilung in Deutschland zeigt: Die individuelle Leistung und der individuelle Bedarf sind anerkannte Prinzipien für eine gerechte Einkommensverteilung. Eine Verteilung nach dem Prinzip der Gleichheit findet in Deutschland relativ wenig Zustimmung. Das Anrechtsprinzip wird von einer großen Mehrheit abgelehnt. Trotz dieser deutlichen Ablehnung werden der familiäre Hintergrund, Einkommen und Vermögen oder das Geschlecht durchaus als Faktoren identifiziert, die darüber bestimmen, ob eine Person in Deutschland Erfolg hat und sozial aufsteigen kann. Diese Diskrepanz zwischen normativem Soll- und wahrgenommenem Ist-Zustand verweist auf mögliche Gerechtigkeitsdefizite in Deutschland.
Nur knapp die Hälfte der Erwerbstätigen in Deutschland war in den Jahren 2017, 2019 und 2021 der Meinung, dass ihr Bruttoeinkommen gerecht sei. Aber auch wenn man berücksichtigt, dass viele in Deutschland ihr Einkommen als ungerecht bewerten, zeigt sich, dass eine Einkommensverteilung, die sich daran orientiert, welches Einkommen Erwerbstätige für sich selbst als gerecht ansehen, nach wie vor große Einkommensunterschiede aufweist. Allerdings würden in einer solchen "gerechten" Welt vor allem diejenigen mit niedrigen und mittleren Einkommen mehr verdienen. Auch in Bezug auf die Einkommensverteilung insgesamt findet sich in Deutschland eine deutliche Ungerechtigkeitswahrnehmung. Eine ungleiche Einkommensverteilung wird zwar nicht per se abgelehnt, die tatsächliche Verteilung weicht aber dennoch von der als gerecht erachteten Verteilung ab.
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