Ob Ungleichheiten als gerecht oder ungerecht bewertet werden, hängt davon ab, ob die Verteilungsergebnisse den normativen Vorstellungen, nach welchen Prinzipien Güter und Lasten in einer Gesellschaft verteilt werden sollten, zuwiderlaufen oder mit ihnen übereinstimmen. Auch wenn individuelle Vorstellungen von Gerechtigkeit durchaus heterogen sind, können vier grundlegende Verteilungsprinzipien unterschieden werden: Gleichheit, Bedarf, Leistung und Anrecht.
Das Gleichheitsprinzip verlangt, Güter und Lasten in einer Gesellschaft gleich zu verteilen. Stark ausgeprägte Einkommensungleichheiten laufen diesem Prinzip zuwider. Das Bedarfsprinzip setzt auf eine Verteilung, die individuell unterschiedliche Bedarfe anerkennt. Das Leistungsprinzip hingegen fordert, dass diejenigen in einer Gesellschaft mehr erhalten sollten, die höhere Leistungen erbringen. Ungleichheiten, die auf Leistungsunterschiede zurückzuführen sind, können demnach durchaus als gerecht bewertet werden. Gemäß des Anrechtsprinzips sollten Güter und Lasten auf Basis von Statusmerkmalen wie Familienansehen, Herkunft oder in der Vergangenheit Erreichtem verteilt werden.
In der 2021 durchgeführten 38. Welle des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) wurden Personen in Deutschland auch zu ihren Gerechtigkeitseinstellungen befragt. Auf einer Skala von 1 "stimme überhaupt nicht zu" bis 7 "stimme voll zu" konnten sie ihre Zustimmung zu den vier Verteilungsprinzipien ausdrücken.
Info 1Datengrundlage
Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) ist eine jährlich am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) durchgeführte repräsentative Wiederholungsbefragung privater Haushalte und Personen in Deutschland. Jedes Jahr werden dafür rund 20.000 Personen aus mehr als 13.000 Haushalten befragt. Das SOEP deckt eine Vielzahl von Themen ab: 2021 wurden die Personen insbesondere zu ihren Einstellungen zum Schwerpunktthema "Soziale Ungleichheit" befragt. Neben ihrer Zustimmung zu den vier Verteilungsprinzipien Gleichheit, Bedarf, Leistung und Anrecht wurden sie auch danach gefragt, welche Faktoren ihrer Meinung nach in Deutschland darüber bestimmen, ob jemand erfolgreich ist. Fragen nach der wahrgenommenen Einkommensgerechtigkeit bilden einen regelmäßigen Bestandteil des SOEP. In den Jahren 2017, 2019 und 2021 wurden die erwerbstätigen Personen im SOEP zunächst gefragt, ob sie ihr Bruttoeinkommen – also das Einkommen vor Abgaben und Steuern – als gerecht oder ungerecht bewerten. Die Bewertung erfolgte dabei über eine elfstufige Skala, die zwischen ungerechterweise zu niedrigen, gerechten und ungerechterweise zu hohen Einkommen unterscheidet. Die Skala verläuft von – 5 bis + 5, wobei negative Werte ungerechte Unterbezahlung und positive Werte ungerechte Überbezahlung anzeigen. Der Skalenmittelpunkt 0 gibt an, dass ein Einkommen als gerecht bewertet wird. Geben die Befragten an, dass sie ihr eigenes Bruttoeinkommen als ungerecht bewerten, werden sie zusätzlich gefragt, wie hoch ein gerechtes Bruttoeinkommen für sie persönlich aussehen sollte. Im Anschluss werden sie um eine Bewertung des eigenen Nettoeinkommens gebeten. Bewerten sie dieses als ungerecht, werden sie außerdem nach der Höhe eines aus ihrer Sicht gerechten Nettoeinkommens gefragt.
Um die Befragungsdaten im europäischen Kontext zu interpretieren, wurden zwei weitere Datenquellen herangezogen: zum einen die Daten der 9. Welle des European Social Survey (ESS), mit denen sich für die Jahre 2018/19 die Zustimmung zu den vier Verteilungsprinzipien Gleichheit, Bedarf, Leistung und Anrecht von rund 47.000 Befragten abbilden lässt. Zum anderen wurden Daten des International Social Survey Programme (ISSP) aus dem Jahr 2019 einbezogen, die Informationen zur Gerechtigkeitsbewertung der gesamten Einkommensverteilung von rund 23.000 Befragten bereitstellen. Sowohl ESS als auch ISSP sind etablierte ländervergleichende Umfrageprogramme, die regelmäßig in einer großen Zahl von Ländern mit wechselnden Themenschwerpunkten durchgeführt werden.
In Abbildung 1 sind die Anteile der Personen in Deutschland dargestellt, die den jeweiligen Prinzipien unterschiedlich stark zustimmten oder nicht zustimmten. Für das Gleichheitsprinzip zeigte sich eher Ablehnung als Zustimmung: Während nur rund 9 % der Befragten der Aussage "Es ist gerecht, wenn Einkommen und Vermögen in unserer Gesellschaft an alle Personen gleich verteilt werden" voll zustimmten, stimmten rund 28 % der Aussage überhaupt nicht zu.