Die Zunahme der Ungleichheit geht mit einer Veränderung der Einkommensschichtung einher. Bei der Schichtung der Bevölkerung nach Einkommen werden verschiedene Einkommensklassen in prozentualer Relation zu einem Referenzwert, hier dem mittleren Wert der Einkommensverteilung (Median), betrachtet. Die beiden untersten Einkommensschichten mit weniger als 60 beziehungsweise 50 % des bedarfsgewichteten Medianeinkommens leben in relativer Einkommensarmut (unter 60 % des Medianeinkommens) oder strenger Einkommensarmut (unter 50 % des Medianeinkommens). Die höchsten Einkommensklassen – ab dem Doppelten des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens (also ab 200 % des Medianeinkommens) – kennzeichnen den Bevölkerungsanteil mit ausgeprägtem materiellen Wohlstand.
Anhand der relativen Einkommensschichtung lassen sich die bei der Einkommensungleichheit beschriebenen Trends differenzierter abbilden. Es lässt sich ablesen, inwieweit alle Bevölkerungsteile in gleicher Weise an der Wohlstandsentwicklung des Landes teilhaben. Die Bevölkerungsanteile am unteren Rand der Einkommensverteilung erhöhten sich in den vergangenen Dekaden kontinuierlich. Auch die Bevölkerungsanteile am oberen Rand erhöhten sich bis 2009, gingen dann bis 2020 wieder etwas zurück und sind seit 2021 wieder gestiegen. Entsprechend waren die Anteile in den dazwischenliegenden mittleren Einkommensschichten im langjährigen Verlauf Schwankungen unterworfen, die aber nicht linear für alle Teilgruppen gleichermaßen erfolgten.
Der hier verwendete Armutsbegriff beruht auf dem sogenannten relativen Armutskonzept und orientiert sich an der Definition der Europäischen Union. Gemäß den vom Statistischen Amt der EU (Eurostat) empfohlenen Schwellenwerten gilt demnach als arm, wer in einem Haushalt lebt, dessen Nettoäquivalenzeinkommen weniger als 60 % des Medians der Einkommen in der gesamten Bevölkerung beträgt. Genau genommen wird ab dieser Schwelle von einem deutlich erhöhten Armutsrisiko gesprochen, da das Einkommen nur einen indirekten Indikator für Armut darstellt. Deshalb wird im EU-Kontext eher der Begriff "Armutsrisikoquote" genutzt. In diesem Kapitel werden die Begriffe "Armutsquote" und "Armutsrisikoquote" synonym verwendet.
Die auf dem Median basierenden Armutsquoten werden anhand des sogenannten FGT-Maßes (benannt nach den Autoren Foster, Greer und Thorbecke) weiter differenziert: Neben der Armutsquote FGT(0), die den Umfang der Armutspopulation in Prozent ausweist, werden dabei auch die Armutsintensität und die Armutsungleichheit berücksichtigt. Die Kennziffer FGT(1) entspricht der Armutslücke, das heißt dem relativen Einkommensbetrag (in Prozent des Schwellenwerts), der erforderlich wäre, um die Armutsgrenze zu überwinden. Die erweiterte Armutsintensität FGT(2) berücksichtigt zudem die Ungleichheit innerhalb der Armutspopulation und gewichtet Personen innerhalb der Armutspopulation stärker, je weiter sie von der Armutsgrenze entfernt sind; besonders niedrige Einkommen fallen also stärker ins Gewicht als Einkommen, die knapp unter der 60-Prozent-Schwelle liegen.
Im Jahr 2021 lebten auf Grundlage der monatlichen Haushaltsnettoeinkommen 16 % der gesamtdeutschen Bevölkerung in relativer Einkommensarmut und bei Verwendung entsprechender Vorjahreseinkommen 17 %. Im Jahr 2022 sank die monatliche Armutsrisikoquote im Vergleich zum Vorjahr wieder auf 15 %. Die Armutslücke FGT(1) erreichte mit etwas mehr als 4 % gemessen am Monatseinkommen und 5 % bei Zugrundelegung des Jahreseinkommens im Jahr 2021 einen neuen Höchstwert. Das heißt, im Durchschnitt wäre in der Armutspopulation eine zusätzliche Steigerung der Äquivalenzeinkommen um etwa 4 bis 5 % erforderlich gewesen, um die Armutsschwelle zu überwinden. Übereinstimmend weisen Monats- und Jahreseinkommen auch bei Betrachtung der Armutslücke FGT(1) und der erweiterten Armutsintensität FGT(2) innerhalb der vergangenen 20 Jahre eine deutliche Erhöhung der Armuts–risiken mit höheren Abständen zur Armutsgrenze auf, die sich auch nach 2020 noch weiter fortsetzt.
Im Jahresvergleich zeigen sich indes bei alternativen Armutsmessungen – zum Beispiel auf Basis der monatlichen Einkommen nach Abzug von Wohnkosten oder auf Basis der Vorjahreseinkommen vor Steuern und Sozialabgaben oder mit Einkommenszuschlag für selbst genutztes Wohneigentum – neben den langjährigen Trends zunehmender Armutsrisiken im Dekadenvergleich auch immer wieder kurze Phasen rückläufiger Armutsrisiken. So wiesen einige Indikatoren zuletzt in den Jahren 2017 bis 2019, also unmittelbar vor der Coronapandemie, zeitweise stagnierende oder rückläufige Tendenzen im Verlauf der Armutsrisiken und der Ungleichheit auf. Auch die monatliche Armutsrisikoquote war nach einem Jahreshöchststand 2017 im Jahresverlauf rückläufig.
Ein weiterer Indikator ist die zeitversetzte Armutsrisikoquote, bei der als Armutsschwelle die mittleren Werte der beiden vorausgehenden Armutsschwellen verwendet wurden. Diese zeitversetzte Armutsrisikoquote stieg im Jahr 2022 infolge des hohen Preisauftriebs stark an. Die zeitweise eher stagnierenden Armutsziffern gingen zudem einher mit höheren Anteilen an Personen, die auch bereits zurückliegende Armutsschwellen schon nicht mehr erreichten. Die seit 2016 weiterhin erhöhten Anteile an permanenter Armut deuten zudem darauf hin, dass derzeit weiterhin keine Anzeichen für eine grundlegende Umkehrung des langfristigen Trends anhaltend hoher dauerhafter Armutsrisiken zu erkennen sind. Zugleich weisen viele Indikatoren seit 2017 auf einen moderaten und in Teilen auch rückläufigen Verlauf hin. Angesichts der seit 2020 erfolgten Krisen kann das als Hinweis auf eine starke Resilienz der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland interpretiert werden.