Das Erwachsenwerden bringt für junge Menschen verschiedene alterstypische Herausforderungen mit sich. Jugendliche und junge Erwachsene lösen sich zunehmend vom Elternhaus ab und wenden sich Gleichaltrigen zu. Sie entwickeln eigene Wertvorstellungen und ein politisches Bewusstsein und die Frage nach der eigenen Identität ("Wer bin ich und wo will ich hin?") gewinnt an Bedeutung. Neben dem Erwerb von Qualifizierungszertifikaten vollziehen junge Menschen dabei vielfältige und für den weiteren Lebensweg bedeutsame Ereignisse zum ersten Mal und probieren sich aus, etwa in ihrer Freizeit mit Gleichaltrigen. Das Jugend- und junge Erwachsenenalter ist damit eine Zeit zahlreicher Veränderungen, Umbrüche und Unsicherheiten, in der wichtige Weichen für das spätere Leben gestellt werden.
Dabei gibt es bestimmte Gruppen von jungen Menschen, deren Lebenssituation in besonderer Weise von gesellschaftlichen Verhältnissen geprägt ist. Der Fokus in diesem Kapitel liegt auf ausgewählten Lebenswelten queerer Jugendlicher und junger Erwachsener. "Queer" steht hier als Sammelbegriff für alle nicht heterosexuellen (lesbisch, schwul, queer, bi-, pan-, demi-, poly- oder asexuell) und/oder nicht cisgeschlechtlichen (trans, nicht-binär, inter oder genderqueer) Identitäten junger Menschen. Die Lebenswelten queerer junger Menschen sind unterschiedlich – so machen beispielsweise lesbische oder schwule junge Menschen jeweils andere Erfahrungen als trans oder nicht-binäre Jugendliche und junge Erwachsene, die sich mit ihrer eigenen, von einer vermeintlichen Norm abweichenden geschlechtlichen Identität auseinandersetzen (müssen). Dennoch lassen sich die Lebenswelten aller queeren jungen Menschen deutlich von denen der cis-heterosexuellen Jugendlichen und jungen Erwachsenen – die sich mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren und sich zum anderen Geschlecht hingezogen fühlen – abgrenzen, da ihr Aufwachsen auf eine grundlegend andere Weise vom gesellschaftlichen Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt geprägt ist. So sind queere junge Menschen zusätzlich zu den alterstypischen Herausforderungen damit konfrontiert, dass ihre sexuelle Orientierung und / oder geschlechtliche Identität nicht der vorherrschenden gesellschaftlichen Norm entspricht.
Im Kapitel werden einzelne Aspekte der Lebenswelten queerer Jugendlicher und junger Erwachsener beschrieben und dabei alterstypische Herausforderungen in den Blick genommen: Wie erleben queere junge Menschen soziale Beziehungen, etwa in Freundschaften oder in ihrer Familie? Welche Beratungs- und Unterstützungsangebote nehmen sie wahr? Wie gestalten sie ihre Freizeit und welche Rolle spielen verschiedene Formen politischer Partizipation? Wie zufrieden sind sie mit verschiedenen Bereichen ihres Lebens?
Dazu werden Daten der bundesweiten, bevölkerungsrepräsentativen Befragung "Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten" (AID:A) des Deutschen Jugendinstituts e. V. (DJI) aus dem Jahr 2019 verwendet.
Info 1»Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten« (AID:A)
Die Studie "Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten" (AID:A) liefert seit über zehn Jahren wichtige Informationen zur Situation von Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und ihren Familien in Deutschland. 2019 wurde sie zum dritten Mal durchgeführt (https://doi.org/10.17621/aida2019). Bei dieser standardisierten Befragung wurden bundesweit in rund 6.000 Haushalten die Kinder, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und Eltern von Minderjährigen über ihre alltäglichen Lebensbedingungen und Erfahrungen befragt.
Insgesamt zählten 5.812 Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 12 und 32 Jahren zur Stichprobe, darunter 391 queere und 5.421 cis-heterosexuelle junge Menschen, wobei sich die queeren jungen Menschen anteilsmäßig ähnlich auf die Altersgruppen der 12- bis 17-Jährigen (6,6 %), 18- bis 25-Jährigen (8,5 %) und 26- bis 32-Jährigen (5,3 %) verteilten.
Als "queer" wurden alle Personen zusammengefasst, die ihre sexuelle Orientierung nicht als heterosexuell beschrieben (das heißt die Antwortoptionen lesbisch, schwul, queer, bi-, pan-, demi-, poly- oder asexuell wählten) und/oder angaben, dass ihre geschlechtliche Identität nicht dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht entspricht (das heißt die Antwortoptionen trans, nicht-binär, inter oder genderqueer wählten).
Tabelle 1 gibt einen Überblick über soziodemografische Merkmale der befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Dabei ist hervorzuheben, dass queere junge Menschen im Vergleich zu cis-heterosexuellen jungen Menschen häufiger von materieller Deprivation betroffen waren, häufiger in Ostdeutschland (inklusive Berlin) wohnten und auch häufiger in einer Großstadt lebten.