Staufen, Lügde, Bergisch Gladbach und Münster – die Serie der dramatischen Fälle von Gewalt an Kindern in den vergangenen Jahren hat das Bewusstsein in der Öffentlichkeit für das Thema "Kinderschutz" weiter geschärft. Seit dem Jahr 2000 haben Kinder in Deutschland ein Recht auf gewaltfreie Erziehung (Paragraf 1631 Absatz 2 BGB). Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind seitdem verboten und stellen einen Verstoß gegen die von Deutschland ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention dar. Artikel 6 des Grundgesetzes regelt, dass die Pflege und Erziehung der Kinder – und damit auch die Sorge für ihr Wohl – das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht ist. Im Fall einer Kindeswohlgefährdung – unabhängig davon, ob sie sich in Form von Vernachlässigung, körperlicher, psychischer oder sexueller Gewalt äußert – ist aber der Staat im Rahmen des staatlichen Wächteramts verpflichtet, Kinder wirksam zu schützen (Artikel 6 Absatz 2 Satz 2 GG). Im Vordergrund stehen dabei Hilfs- und Unterstützungsangebote für Eltern, Kinder und Familien zur Behebung der Problemsituation. Sind die Eltern aber nicht bereit oder in der Lage, das Kindeswohl sicherzustellen, muss der Kinderschutz unter Umständen auch gegen ihren Willen durchgesetzt werden. Der Gesetzgeber hat in diesem Zusammenhang den Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe im Jahr 2012 konkretisiert (Paragraf 8a SGB VIII). Demzufolge sind die Jugendämter bei schwerwiegenden Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung verpflichtet, das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen. Bestandteil dieser Gefährdungseinschätzung kann zum Beispiel ein Hausbesuch sein, um sich einen unmittelbaren Eindruck vom Kind und seiner Umgebung zu verschaffen. Dazu gehört auch, die Problemsituation gemeinsam mit den Erziehungsberechtigten und dem Kind zu erörtern – sofern dies dem Kinderschutz nicht entgegensteht – und bei Bedarf Hilfen anzubieten.
Im Jahr 2022 haben die Jugendämter deutschlandweit insgesamt rund 62.300 (akute oder latente) Kindeswohlgefährdungen durch Vernachlässigung, sexuelle Gewalt und psychische oder körperliche Misshandlung festgestellt. Das ist der höchste Stand seit Einführung der Statistik zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung im Jahr 2012. Im Zehnjahresvergleich sind die Kindeswohlgefährdungen damit um rund 24.000 Fälle beziehungsweise 63 % angestiegen. In weiteren gut 68.900 Fällen lag im Jahr 2022 nach Einschätzung der Behörden zwar keine Kindeswohlgefährdung, aber ein erzieherischer Hilfebedarf vor. Geprüft hatten die Jugendämter im Vorfeld über 203.700 Verdachtsmeldungen im Rahmen einer Gefährdungseinschätzung.
Die meisten der 62.300 Kinder, bei denen eine Kindeswohlgefährdung vorlag, wiesen Anzeichen von Vernachlässigung auf (59 %). In über einem Drittel der Fälle (35 %) gab es Anhaltspunkte für psychische Misshandlungen, zum Beispiel wenn feindselige, abweisende oder ignorierende Verhaltensweisen durch die Bezugspersonen fester Bestandteil der Erziehung waren. Bei 27 % aller Kindeswohlgefährdungen wurden Hinweise auf körperliche Misshandlungen und in 5 % Hinweise für sexuelle Gewalt gefunden. Gerade in diesem Zusammenhang weisen Expertinnen und Experten jedoch regelmäßig auf das große Dunkelfeld nicht erkannter Fälle hin: In diese "Hellfeld-Statistik" können nur die Fälle einfließen, die dem Jugendamt bekannt geworden sind. Darunter gab es auch Kinder und Jugendliche, die mehrere dieser Gefährdungsarten – also Vernachlässigungen, psychische Misshandlungen, körperliche Misshandlungen oder sexuelle Gewalt – gleichzeitig erlebt hatten: 2022 traf dies auf über ein Fünftel aller Fälle von Kindeswohlgefährdung zu (22 %). Dieser Anteil ist seit 2015 kontinuierlich gewachsen, damals hatte er noch bei 16 % gelegen.
Als besonders vulnerabel (verletzlich) gilt im Kontext "Kinderschutz" die Altersgruppe der Säuglinge und Kleinkinder unter drei Jahren: Die Statistik zeigt, dass Vernachlässigungen und Gewalt für eine beträchtliche Zahl der Kinder dieser Altersgruppe bereits Bestandteil der Lebensrealität sind. Danach waren im Jahr 2022 rund 11.300 Säuglinge und Kleinkinder von einer Kindeswohlgefährdung betroffen: Vordringliche Probleme stellen in diesem Alter Vernachlässigungen (68 %) und psychische Misshandlungen (32 %) dar. Aber auch körperliche Misshandlungen (19 %) waren bereits bei den Kleinkindern nicht selten. Besonders bedrückend ist die Tatsache, dass bereits bei den ganz jungen Kindern Kindeswohlgefährdungen durch sexuelle Gewalt dokumentiert wurden (1,9 %). Auch wenn der entsprechende Anteil unter jenem von Kindeswohlgefährdungen durch sexuelle Gewalt insgesamt lag, bedeutet das konkret für 2022: Bei 218 Kleinkindern im Alter von unter drei Jahren haben die Behörden im Rahmen einer Gefährdungseinschätzung gewichtige Anhaltspunkte für sexuelle Gewalt gefunden, darunter waren 66 Säuglinge von unter einem Jahr.
Insgesamt haben die Jugendämter in knapp jedem fünften Fall (19 %) von Kindeswohlgefährdung das Familiengericht angerufen. Dieser Fall tritt immer dann ein, wenn aus Sicht des Jugendamts ein Eingriff in das elterliche Sorgerecht erforderlich ist. Es entscheidet dann über Maßnahmen wie Auflagen, Gebote, Verbote oder auch den teilweisen oder vollständigen Entzug des Sorgerechts.
Besteht eine dringende Gefahr für das Kindeswohl, sodass die Entscheidung eines Familiengerichts nicht abgewartet werden kann, ist das Jugendamt verpflichtet, die betroffenen Kinder oder Jugendlichen zu ihrem Schutz vorübergehend in Obhut zu nehmen. Diese sogenannten vorläufigen Schutzmaßnahmen – oder kurz: Inobhutnahmen – sind als sozialpädagogische Hilfe für akute Krisen- oder Gefahrensituationen gedacht. Vorläufige Schutzmaßnahmen werden nicht nur in dringenden Fällen von Kindeswohlgefährdung durchgeführt, sondern auch wenn Kinder oder Jugendliche das Jugendamt aus eigener Initiative um Inobhutnahme bitten oder bei unbegleiteten Einreisen Minderjähriger aus dem Ausland (Paragrafen 42, 42a SGB VIII). Im Jahr 2022 führten die Jugendämter in Deutschland insgesamt rund 66.400 vorläufige Schutzmaßnahmen durch. In 12 % der Fälle hatten die betroffenen Jungen oder Mädchen selbst um Inobhutnahme gebeten.
Von den Minderjährigen, die 2022 in Obhut genommen wurden, waren 22.600 jünger als 14 Jahre. In diesem Alter wurden die Kinder am häufigsten wegen Überforderung der Eltern beziehungsweise eines Elternteils (48 %) und zum Schutz vor Vernachlässigung (26 %) in Obhut genommen. Auch der Schutz vor körperlicher Misshandlung (17 %) und die unbegleitete Einreise aus dem Ausland (13 %) spielten hier eine Rolle.
Bei den 43.800 Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren, die 2022 in Obhut genommen wurden, stand dagegen mit Abstand die unbegleitete Einreise aus dem Ausland im Vordergrund (59 %). Weitere bedeutende Anlässe waren in diesem Alter: Überforderung der Eltern beziehungsweise eines Elternteils (15 %) und delinquentes Verhalten oder Straftaten (7 %).
Unabhängig vom Alter, konnte fast jede zweite Inobhutnahme (48 %) nach spätestens zwei Wochen, jede dritte (33 %) nach höchstens sechs Tagen beendet werden. Dennoch: Gut jede zehnte Inobhutnahme dauerte mit drei Monaten oder mehr vergleichsweise lang (11 %).
Nach Beendigung der Maßnahme kehrte über ein Drittel der Kinder und Jugendlichen (37 %) an den bisherigen Lebensmittelpunkt – zu den Sorgeberechtigten, in die Pflegefamilie oder das Heim – zurück. Gut ein weiteres Drittel (36 %) bekam ein neues Zuhause in einer Pflegefamilie, einem Heim oder einer betreuten Wohnform (Angaben ohne vorläufige Inobhutnahmen nach Paragraf 42a SGB VIII).