Die bisher dargestellten Ergebnisse beziehen sich auf die Mobilitätserfahrungen von Männern und Frauen seit Mitte der 1970er-Jahre in Westdeutschland und seit der deutschen Vereinigung in Ostdeutschland. Ein wesentlicher Faktor für die soziale Mobilität in dieser Zeit waren die Veränderungen in der Beschäftigtenstruktur. Die Anzahl der Facharbeiterpositionen ist in dieser Zeit gesunken, während zusätzliche Positionen vor allem bei qualifizierten Büroberufen und in der oberen Dienstklasse geschaffen wurden. Noch deutlicher wird der Wandel im Generationenvergleich: Facharbeiterpositionen und Positionen in der Landwirtschaft haben stark abgenommen. Gleichzeitig gab es zunehmend mehr Positionen in den beiden Dienstklassen und der Klasse der qualifizierten Büroberufe. Dieser strukturell bedingte Wandel beeinflusst die individuellen Mobilitätsmöglichkeiten. Wenn zum Beispiel Facharbeitersöhne aufgrund der abnehmenden Nachfrage nach Facharbeitern nicht mehr die gleiche Position wie ihre Väter einnehmen können, müssen sie zwangsläufig in andere Positionen ausweichen. Ein Teil der sozialen Mobilität – und damit auch mancher Auf- und Abstieg – beruht somit auf den Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur.
Wenn man nun die Aufstiegschancen oder Abstiegsrisiken von Kindern aus unterschiedlichen Klassenpositionen über die Zeit vergleichen möchte, dann sollte man diese strukturell bedingte soziale Mobilität herausrechnen. Dies geschieht, indem man die Auf- und Abstiegschancen einer Person aus einer bestimmten Herkunftsklasse in Relation mit den Auf- und Abstiegschancen einer Person aus einer anderen Herkunftsklasse vergleicht. Man kann zum Beispiel fragen, um wie viel geringer die Chancen für Personen aus der Facharbeiterklasse sind, eine Position in der oberen Dienstklasse zu erreichen, im Vergleich zu Personen, die bereits in der oberen Dienstklasse groß geworden sind – und inwieweit sich diese Chancen über die Zeit verändert haben. Es ist denkbar, dass sich für beide die Chancen erhöht haben, eine Position in der oberen Dienstklasse zu erreichen, da die Zahl entsprechender Positionen zugenommen hat. Wenn sich aber die Chancen für Personen aus Facharbeiterfamilien im genau gleichen Ausmaß erhöhen wie die Chancen der Personen aus Familien der oberen Dienstklasse, dann bleibt die Chancengleichheit beziehungsweise Chancenungleichheit zwischen den beiden Herkunftsklassen unverändert.
Abschließend werden daher die Chancengleichheiten beziehungsweise Chancenungleichheiten zwischen Personen mit unterschiedlicher Klassenherkunft untersucht. Für die 1970er-Jahre in Westdeutschland zeigt sich, dass Personen aus der oberen Dienstklasse etwa 26-mal so große Chancen hatten, die obere Dienstklasse statt die Facharbeiterklasse zu erreichen, wie Personen aus der Facharbeiterklasse. Diese enormen Chancenungleichheiten sind charakteristisch für Deutschland. Im Vergleich mit anderen industrialisierten Ländern hat Deutschland mit die höchsten Chancenungleichheiten aufgewiesen und tut dies auch immer noch.
Doch wie haben sich die Chancen seit den 1970er-Jahren verändert? Wie unterschiedlich sind die Chancen in Ost und West? Die folgende Analyse beschreibt die Entwicklung der Chancenungleichheiten in Deutschland in den vergangenen 40 Jahren. Hierzu wurden für sämtliche Kombinationen aus den sieben Klassenpositionen die oben dargestellten Chancenverhältnisse berechnet und in einem Modell zusammengefasst.
Die Abbildungen 1 und 2 zeigen die Entwicklung der Stärke des Zusammenhangs zwischen der sozialen Herkunft und der eigenen Klassenposition. Die Stärke des Zusammenhangs ist auf der y-Achse dargestellt. Für das erste Jahr der Analyse, 1976, wurde dieser Zusammenhang auf den Wert 0 als Ausgangsniveau festgesetzt. Die Abweichung zu diesem Wert gibt dann die prozentuale Veränderung zu diesem Ausgangsniveau an, wobei negative Werte bedeuten, dass der Zusammenhang schwächer wird. Die dargestellte Trendlinie ist eine an die einzelnen Jahresbeobachtungen angepasste Regressionskurve. Die Trendkurve kann sich somit durch Hinzufügen neuer Daten jeweils leicht verändern. Aufgrund der Fallzahlen wurden einige Jahresbeobachtungen zusammengefasst, um die Befunde robuster darstellen zu können.
Für Männer in Westdeutschland sieht man, dass die Stärke des Zusammenhangs über den gesamten Zeitraum hinweg abnahm. Für die jüngste Zeit zeigt die Trendkurve eine Abnahme des ursprünglichen Zusammenhangs zwischen der Herkunftsklasse und der eigenen Klassenposition um 0,3, das heißt um knapp 30 %. Der Wert an sich ist mit Bedacht zu interpretieren, da die Trendkurve die Entwicklung etwas überzeichnen kann. Dennoch wird klar, dass sich der Einfluss der sozialen Herkunft auf die eigene Klassenposition seit 1976 deutlich abgeschwächt hat. Die Ungleichheiten in den Mobilitätschancen haben für Männer in Westdeutschland in diesem Zeitraum deutlich abgenommen. Für ostdeutsche Männer ist dagegen eine umgekehrte Entwicklung zu beobachten. Ausgehend von einem deutlich geringeren Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und eigener Klassenposition im Ausgangsjahr 1990 hat sich der Zusammenhang im Zeitverlauf verstärkt. Die Bedeutung der Herkunftsklasse für die eigene spätere Klassenposition hat im Osten also zugenommen. Die beiden Kurven haben sich seit der Vereinigung aufeinander zubewegt. Im Jahr 2018 war der Zusammenhang zwischen Herkunft und eigener Klassenposition für Männer in Ost und West ähnlich stark ausgeprägt. Die höhere Chancengleichheit, die typisch für den ostdeutschen Landesteil war, ist verschwunden.