Bei den Gerechtigkeitsprinzipien Gleichheit, Bedarf, Leistung und Anrecht handelt es sich um abstrakte normative Verteilungsprinzipien, also um Vorstellungen darüber, wie eine gerechte Gesellschaft ihre Güter und Lasten idealerweise verteilen sollte. Wie jedoch steht es um die Gerechtigkeitswahrnehmung in Deutschland, wenn es ganz konkret um das eigene Einkommen geht? Wird dieses als gerecht empfunden? Um sich dieser Frage zu nähern, werden hier neben den Ergebnissen des European Social Survey Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) aus den Jahren 2017 und 2019 verwendet.
Info 1Datengrundlage
Der European Social Survey (ESS) ist eine länderübergreifende Befragung, die seit 2002 alle zwei Jahre in vielen europäischen Ländern durchgeführt wird. In der 2018 / 2019 durchgeführten 9. Welle des ESS, wurden Personen aus 27 europäischen Ländern zu ihren Gerechtigkeitseinstellungen befragt. Im Fokus stand unter anderem die Gerechtigkeitsbewertung von Einkommen. Die Bewertung erfolgte dabei jeweils über eine 9-stufige Skala, die zwischen ungerechterweise zu niedrigen, gerechten und ungerechterweise zu hohen Einkommen unterscheidet. Die Skala verläuft von – 4 bis + 4, wobei negative Werte ungerechte Unterbezahlung und positive ungerechte Überbezahlung anzeigen. Der Skalenmittelpunkt 0 gibt an, dass ein Einkommen als gerecht bewertet wird. In Deutschland wurden dafür 2.358 Personen befragt; in ganz Europa waren es insgesamt rund 47.000 Menschen, die an der Befragung teilgenommen haben. Die 9. Welle des ESS stellt damit repräsentative Befragungsdaten zur Verfügung, die einen einmaligen, vergleichenden Einblick in die Wahrnehmung von Gerechtigkeit in Europa erlauben.
Als zweite Datenquelle dient das Sozio-oekonomische Panel (SOEP). Das SOEP ist eine jährlich am DIW Berlin durchgeführte repräsentative Wiederholungsbefragung privater Haushalte und Personen in Deutschland. Das SOEP deckt eine Vielzahl von Themen ab: 2017 und 2019 wurden die Personen dazu befragt, als wie gerecht oder ungerecht sie ihr eigenes Einkommen bewerten. Die hier berichteten Ergebnisse beruhen auf rund 30.000 Angaben. Ähnlich wie beim ESS konnten die erwerbstätigen Befragten abstufen, ob sie ihr Einkommen als ungerecht zu niedrig, gerecht oder ungerecht zu hoch bewerten. Zusätzlich dazu wurden sie gebeten anzugeben, wie hoch ihr tatsächliches Einkommen ausfällt und wie hoch ein gerechtes Einkommen für sie persönlich aussehen sollte.
In den Jahren 2017 und 2019 empfand knapp die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland das eigene Bruttoeinkommen – also das Einkommen, das sie ohne Abzüge von Steuern oder Sozialversicherungsbeiträgen bekommen – als gerecht. Dieser Anteil fällt deutlich niedriger aus, wenn das Nettoeinkommen – also das Einkommen nach Abzügen und Steuern – beurteilt wird. Hier lag der Anteil der Erwerbstätigen, die ihr Nettoeinkommen als gerecht empfinden, 2017 bei rund 44 % und im Jahr 2019 bei etwa 43 %. Damit empfand zwar fast jede / jeder Zweite in Deutschland die Höhe des eigenen Einkommens als gerecht; im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass die andere Hälfte der Erwerbstätigen Ungerechtigkeit in Bezug auf das eigene Einkommen wahrnimmt. Dabei gilt, dass der Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen den Anteil derjenigen, die ihr Einkommen als ungerecht empfinden, erhöht.
In den repräsentativen Befragungsdaten des European Social Survey (ESS) zeigt sich, dass Deutschland bei der wahrgenommenen Einkommensgerechtigkeit im europäischen Mittelfeld liegt. Während laut Daten des ESS 47 % der Erwerbstätigen in Deutschland ihr Bruttoeinkommen als gerecht bewerteten, liegen diese Anteile in vielen süd- und osteuropäischen Ländern deutlich unter 40 %. Die deutschen Nachbarländer Schweiz, Österreich, die Niederlande und Belgien schnitten hingegen mit Werten zwischen 56 % und 65 % deutlich besser ab. Auch in Schweden, Irland, Großbritannien und Norwegen war der Anteil der Erwerbstätigen, die sich als gerecht entlohnt empfinden, deutlich höher als in Deutschland. Im europäischen Vergleich lässt sich damit für Deutschland durchaus Nachholbedarf beim Thema Einkommensgerechtigkeit konstatieren. Das gilt besonders im Vergleich zu den westeuropäischen Nachbarn.