Ob Ungleichheiten als gerecht oder ungerecht bewertet werden, hängt davon ab, ob die Verteilungsergebnisse den normativen Vorstellungen, nach welchen Prinzipien Güter und Lasten in einer Gesellschaft verteilt werden sollten, zuwiderlaufen oder damit übereinstimmen. Auch wenn individuelle Vorstellungen von Gerechtigkeit durchaus heterogen sind, können vier grundlegende Verteilungsprinzipien unterschieden werden: Gleichheit, Bedarf, Leistung und Anrecht.
Das Gleichheitsprinzip verlangt, Güter und Lasten in einer Gesellschaft gleich zu verteilen. Stark ausgeprägte Einkommensungleichheiten laufen diesem Prinzip zuwider. Das Bedarfsprinzip setzt auf eine Verteilung, die individuell unterschiedliche Bedarfe anerkennt. Das Leistungsprinzip hingegen fordert, dass diejenigen in einer Gesellschaft mehr erhalten sollten, die höhere Leistungen erbringen. Ungleichheiten, die auf Leistungsunterschiede zurückzuführen sind, können demnach durchaus als gerecht bewertet werden. Gemäß des Anrechtsprinzips sollten Güter und Lasten auf Basis von Statusmerkmalen wie Familienansehen, Herkunft oder in der Vergangenheit Erreichtem verteilt werden.
In der 2018 / 2019 durchgeführten 9. Welle des European Social Survey (ESS) wurden Personen aus 27 europäischen Ländern auch zu ihren Gerechtigkeitseinstellungen befragt. Auf einer Skala von 1 "stimme stark zu", 2 "stimme etwas zu", 3 "weder noch", 4 "lehne etwas ab" und 5 "lehne ganz ab" konnten die Befragten ihre Ablehnung oder Zustimmung zu den vier Verteilungsprinzipien angeben. In Abbildung 1 ist dargestellt, wie hoch der Anteil derjenigen ist, die den jeweiligen Prinzipien entweder etwas oder stark zustimmten. Für das Gleichheitsprinzip gab es im europäischen Durchschnitt mit rund 54 % Zustimmung eine knappe Mehrheit, allerdings unterschieden sich die Länder hier deutlich. Während in Norwegen nur rund ein Viertel (23 %) der Befragten die Verteilung von Gütern und Lasten nach dem Prinzip der Gleichheit unterstützte, waren es in Portugal mehr als drei Viertel (78 %). In Deutschland unterstützten rund 42 % der Befragten das Gleichheitsprinzip und lagen damit deutlich unter dem europäischen Durchschnitt.