Ein etwas anderes Bild zeigt sich bezüglich der Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland. Diese Einstellung bezieht sich weniger auf die Verfassungsnorm, das heißt die in der Verfassung implementierte Form der Demokratie, als vielmehr auf die Verfassungsrealität oder die Wirklichkeit der Demokratie in Deutschland. In die Beurteilung dieser Verfassungsrealität können verschiedene Aspekte eingehen. Insbesondere das Funktionieren institutioneller Mechanismen (zum Beispiel der Austausch von Regierung und Opposition und die Gewährleistung der Gleichheit vor dem Gesetz), die Handlungen der Regierenden (zum Beispiel Berücksichtigung von Interessen verschiedener Bevölkerungsgruppen, Amtsmissbrauch) und die Ergebnisse dieses Handelns (zum Beispiel wirtschaftliche und sozialpolitische Leistungen) dürften bei der Beurteilung des Funktionierens der Demokratie eine Rolle spielen.
Die in Abbildung 1 präsentierten Zeitreihen für die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland zeigen eine deutliche Differenz zwischen Ost- und Westdeutschland. Über den gesamten Zeitraum von 1991 bis Sommer 2019 hinweg war im Westen Deutschlands durchschnittlich eine klare Mehrheit von 68 % der Bürgerinnen und Bürger zufrieden, während im Osten durchschnittlich lediglich 44 % zufrieden waren. Es gab erhebliche Schwankungen im Zeitverlauf, die parallel in Ost- und Westdeutschland zu beobachten waren. Das heißt, dass die Bürgerinnen und Bürger in beiden Teilen Deutschlands ganz ähnlich auf bestimmte Ereignisse reagierten; das aber auf unterschiedlichem Niveau. Hinsichtlich der Struktur dieser Schwankungen ist bemerkenswert, dass zu den Bundestagswahlen mit Ausnahme von 2005 ein Anstieg der Demokratiezufriedenheit erfolgte (1994, 1998, 2009, 2013, 2017). Die nach der Bundestagswahl 2009 im Jahr 2010 erfolgte Abnahme in der Demokratiezufriedenheit dürfte auf die europäische Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise 2008 / 2009 zurückgehen. Diese Abnahme umfasste in West und Ost aber weniger als 10 Prozentpunkte und war nicht von Dauer, denn bis 2014 nahm die Demokratiezufriedenheit in beiden Landesteilen kontinuierlich wieder zu.
Nach 2014 war sowohl in West- als auch in Ostdeutschland ein Abfall der Demokratiezufriedenheit festzustellen. Besonders deutlich war das in Ostdeutschland der Fall, wo die Demokratiezufriedenheit von 59 % (2014) auf 47 % (2015) sank. Dieser Abfall ist vermutlich auf die hohe Zahl von Geflüchteten zurückzuführen. Ab Anfang 2015 wurde das Thema "Ausländer / Integration / Flüchtlinge" von den deutschen Bürgerinnen und Bürgern als das wichtigste Problem in Deutschland angegeben; erst Anfang 2019 wurde es vom Themenkomplex "Umwelt / Klima / Energiewende" abgelöst (Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer). In den Jahren 2016 und 2017 stieg die Demokratiezufriedenheit in Ostdeutschland wieder an und erreichte 2019 zum zweiten Mal den Spitzenwert von 59 %. In Westdeutschland nahm sie 2017 wieder zu und ging seitdem leicht zurück. Obgleich Migration und Integration weiterhin wichtige Themen für die Bürgerinnen und Bürger sind, haben damit verbundene Problemwahrnehmungen offenbar die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie nicht nachhaltig negativ beeinflusst.
Bemerkenswert an den beiden Zeitreihen für West- und Ostdeutschland ist, dass die Differenz zwischen beiden Teilen Deutschlands über den gesamten Zeitraum bestehen blieb. 1991 betrug diese Differenz 29 Prozentpunkte, im Jahr 2019 lag dieser Wert bei 18 Prozentpunkten. Fast 30 Jahre nach der deutschen Vereinigung gibt es keine Hinweise darauf, dass sich mit zunehmenden Erfahrungen der Ostdeutschen mit der Demokratie die Kluft in der Demokratiezufriedenheit zwischen Ost- und Westdeutschen auf Dauer verringert.
Ein Vergleich mit den anderen 27 Mitgliedsländern der Europäischen Union (2019 war das Vereinigte Königreich noch Mitglied der EU) kann darüber Aufschluss geben, wie die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland einzuschätzen ist. Die Daten stammen aus dem Sommer 2019. Die Demokratiezufriedenheit in Westdeutschland rangierte deutlich über dem westeuropäischen Durchschnitt. Lediglich in den skandinavischen Ländern, in Luxemburg, in den Niederlanden und in Irland war die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie noch höher. Die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Ostdeutschland lag deutlich unter dem Durchschnitt der westeuropäischen Länder. Niedrigere Zufriedenheitswerte wiesen vor allem Länder auf, die von der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise besonders stark betroffen waren, wie Spanien, Italien, Zypern und insbesondere Griechenland. Interessant ist aber, dass zwei der Krisenländer, und zwar Portugal und Irland, im Sommer 2019 eine relativ hohe Demokratiezufriedenheit aufwiesen, die auf beziehungsweise sogar über dem westeuropäischen Durchschnitt lag. Vergleichsweise niedrig war die Demokratiezufriedenheit zudem im sich zu dieser Zeit im Brexit-Prozess befindlichen Vereinigten Königreich und im von den Gelbwesten-Protesten geprägten Frankreich.
Die in der Abbildung 2 präsentierten Prozentsätze zeigen dennoch, dass in der Mehrzahl der westeuropäischen Länder die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger trotz der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, der Geflüchteten- und Immigrationsproblematik und des Brexit mit dem Funktionieren der Demokratie im eigenen Land zufrieden war.
Unter den osteuropäischen EU-Mitgliedsländern gibt es erhebliche Differenzen bei der Demokratiezufriedenheit. Während in Estland, Polen, Tschechien, Ungarn, Lettland, Slowakei und Slowenien mehr als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie des eigenen Landes war, traf dies in den anderen osteuropäischen EU-Mitgliedsländern nur für eine Minderheit zu. Am geringsten war der Wert in Kroatien, wo lediglich 33 % der Menschen zufrieden waren. Bemerkenswert ist, dass die Demokratiezufriedenheit in Ostdeutschland höher war als im Durchschnitt der osteuropäischen EU-Mitgliedsländer.