Die sozialepidemiologische Forschung zeigt, dass die Gesundheitschancen, Krankheits- und Sterberisiken der Menschen in engem Zusammenhang mit Merkmalen ihres sozioökonomischen Status stehen (siehe
Für das erstmals im Dezember 2019 im chinesischen Wuhan identifizierte neuartige Coronavirus (SARS-CoV-2) und die dadurch ausgelöste COVID-19-Erkrankung ist bislang nur wenig über soziale Unterschiede im Infektions-, Erkrankungs- und Sterberisiko bekannt. Soziale Unterschiede im COVID-19-Geschehen könnten unter anderem durch ein sozial differenzielles Infektionsrisiko entstehen, welches sich aus den ungleichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen ergibt, zum Beispiel in Bezug auf die Wohnverhältnisse oder die Möglichkeit von Homeoffice. Im Hinblick auf die Erkrankungsschwere und den Verlauf einer COVID-19-Erkrankung könnten Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status ein höheres Risiko für schwere Krankheitsverläufe haben als Personen mit höherem sozioökonomischem Status, weil sie häufiger von Vorerkrankungen, zum Beispiel des Herzkreislaufsystems und der Lunge, betroffen sind, die als Risikofaktoren für schwere COVID-19-Verläufe gelten.
Die noch wenigen Daten zu sozialen Unterschieden im COVID-19-Geschehen in den Anfangsmonaten der Pandemie stammen vor allem aus den USA und Großbritannien. Die Befunde aus diesen Ländern weisen auf soziale Unterschiede im Infektionsrisiko mit SARS-CoV-2 und in der Erkrankungsschwere von COVID-19 zuungunsten von Personen aus sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen hin. Die Befunde basieren vielfach auf ökologischen Analysen, in denen sozialräumliche Daten zur sozioökonomischen Lage mit regionalen COVID-19-Daten in Zusammenhang gesetzt werden. Dies ermöglichen auch die amtlichen Meldedaten zu laborbestätigten COVID-19-Fällen in Deutschland, die auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes in den Gesundheitsämtern erfasst und an das Robert Koch-Institut übermittelt werden. Diese bundesweiten Meldedaten lassen sich auf Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte mit dem "German Index of Socioeconomic Deprivation" verknüpfen, der die regionale sozioökonomische Deprivation auf Basis von Regionaldaten zur Bildungsbeteiligung, Beschäftigung und Einkommenssituation der regionalen Bevölkerungen angibt.
Die bundesweiten Meldedaten des Robert Koch-Instituts zeigen, dass in den Anfangsmonaten der COVID-19-Pandemie bis Mitte April 2020 mehr COVID-19-Fälle je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner in den weniger deprivierten Regionen als in den stärker deprivierten Regionen Deutschlands gemeldet wurden. Altersunterschiede zwischen den mehr und weniger stark deprivierten Regionen sind dabei bereits durch eine Altersstandardisierung statistisch bereinigt. Dieser regionale soziale Gradient mit einer höheren Neuerkrankungsrate in weniger deprivierten, also sozioökonomisch bessergestellten Regionen veränderte sich im Verlauf der Pandemie und schwächte sich ab Mitte April 2020 deutlich ab. So ist der Gradient im Meldezeitraum zwischen Mitte Juni und Mitte August 2020 kaum noch zu erkennen (siehe Abbildung).
Für das Ausbruchsgeschehen in den Anfangsmonaten der Epidemie in Deutschland wurden unter anderem Reisetätigkeiten, insbesondere Viruseintragungen durch Reiserückkehrer aus dem Skiurlaub in verschiedenen Alpenregionen, wie auch weitere Übertragungen des Virus durch regionale Pendlerverflechtungen diskutiert. Dies lässt es plausibel erscheinen, dass in der Frühphase der Epidemie in Deutschland Regionen mit einer geringeren sozioökonomischen Deprivation, also Regionen mit durchschnittlich hohem sozioökonomischen Status ihrer Bevölkerungen, stärker betroffen waren, da die Reisetätigkeiten – insbesondere Skireisen – gute finanzielle Möglichkeiten voraussetzen und auch Pendlerverflechtungen zwischen Regionen mit stärkerer Wirtschaftsleistung besonders ausgeprägt sein dürften. Gleichzeitig könnten weitere Faktoren wie die räumliche Nähe zu Skigebieten und den anfänglichen europäischen Risikogebieten wie jenen in Norditalien eine Rolle gespielt haben. Denn die weniger deprivierten Landkreise und kreisfreien Städte finden sich vorwiegend im Süden des Bundesgebiets und liegen damit zumeist näher an den genannten Risikogebieten des anfänglichen Ausbruchsgeschehens als die stark deprivierten Kreise, die sich insbesondere im Nordosten Deutschlands befinden. Die sich abzeichnende Dynamik in den Mustern sozialer Unterschiede im COVID-19-Geschehen verdeutlicht, dass diese Muster eines weiteren Monitorings über den Fortlauf der Pandemie bedürfen. Zudem bedarf es einer Ergänzung dieser sozialräumlichen Betrachtung um Analysen auf Individualebene, um weitere Einblicke in Form und Ausmaß sozialer Unterschiede im COVID-19-Geschehen zu gewinnen.