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Freiheitliche demokratische Grundordnung | bpb.de

Freiheitliche demokratische Grundordnung

Pierre Thielbörger

Begriffsklärung und Nennung im GG

Die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) erfährt trotz mehrfacher Verwendung durch das Grundgesetz (GG) keine Legaldefinition durch dieses, oder das Bundesverfassungsgerichtsgesetz obwohl in dessen ersten Referentenentwurf eine ebensolche vorgesehen war. Begrifflich klar ist allerdings, dass die Grundordnung nur ein Ausschnitt der staatlichen Gesamtordnung ist, dem das GG eine herausgehobene Wichtigkeit verleiht. Diese Wichtigkeit wird durch die Adjektive „freiheitlich“ und „demokratisch“ charakterisiert. Freiheitlich ist die Grundordnung, da sie das Individuum durch staatliche Gewähr und staatlichen Schutz der Menschwürde (Art. 1 GG) und der Grundrechte (Art. 2–19 GG) vor staatlicher Willkür bewahrt. Demokratisch ist sie, da sie ihm erhebliche Teilhabe bei der Gestaltung dieses Gemeinwesens zuspricht und garantiert. Zusammen bildet die fdGO einen verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriff, der den Wesenskern des politischen Systems und der Wertvorstellungen der BRD umreißt.

An insgesamt acht Stellen erwähnt das GG die fdGO. Bestimmte Grundrechte (Art. 10 Abs. 2 und 11 Abs. 2 GG) sind mit Blick auf die fdGO einschränkbar. Wer die in Art. 18 GG genannten Grundrechte zum Kampf gegen die fdGO missbraucht, verwirkt diese auf Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Parteien, die nach ihrem Ziel oder dem Verhalten ihrer Anhänger „darauf ausgehen“, die fdGO zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, sind nach Art. 21 Abs. 2 GG verfassungswidrig und solche, die zumindest „darauf ausgerichtet sind“ seit dem 20.07.2017 nach Art. 21 Abs. 3 S. 1 GG von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen. Über Parteiverbot und Parteifinanzierungsausschluss entscheidet das BVerfG nach Art. 21 Abs. 4 GG. Nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 GG hat der Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz über seine Zusammenarbeit mit den Ländern zum Schutz der fdGO. Die Art. 87a Abs. 4 S. 1 und 91 Abs. 1 GG erlauben der Bundesregierung bzw. den Ländern, zur Abwehr einer drohenden Gefahr für die fdGO, unter bestimmten Umständen Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes einzusetzen bzw. Polizeikräfte anderer Länder sowie Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen und des Bundesgrenzschutzes anfordern.

Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht

Nach der bis heute einflussreichen Definition in BVerfGE 2, 1 (Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP)) aus dem Jahr 1952, bestätigt 1956 vom BVerfG in seinem zweiten KPD-Verbotsverfahrens-Urteil (BVerfGE 5, 85 (112, 140 ff.)), ist es ein wesentliches Merkmal der fdGO, dass sie „unter Ausschluss jeglicher Gewalt und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsform auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt“. Im Gegensatz zum totalen Staat stellt die fdGO also den Schutz von Freiheit und Gleichheit des Individuums ins Zentrum staatlichen Strebens. Zur fdGO gehören nach dem BVerfG mindestens grundlegende Prinzipien wie Achtung von Grund- und Menschenrechten, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit und Gesetzesbindung der Exekutive, Unabhängigkeit der Gerichte, Mehrparteiensystem sowie Chancengleichheit der politischen Parteien.

Im Jahr 1975 betonte das BVerfG in seinem Urteil zum „Extremistenbeschluss“ (BVerfGE 39, 334–391), dass die Bereitschaft, jederzeit für die fdGO einzutreten, entsprechend Art. 33 Abs. 5 GG Einstellungsvoraussetzung für den Eintritt in den öffentlichen Dienst sei. Daher sind Beamte nach § 33 Abs. 1 Beamtenstatusgesetz verpflichtet, sich durch ihr gesamtes Verhalten zur fdGO zu bekennen und für deren Erhaltung einzutreten. In den beiden sog. „Kopftuchentscheidungen“ von 2003 und 2015 ist das BVerfG zu dem Schluss gekommen, dass dies durchaus mit dem Tragen eines Kopftuches im Dienst vereinbar ist (BVerfGE 108, 282 (2003); BVerfGE 138, 296 (2015)).

In seinem Urteil zum Extremistenbeschluss verwendete das BVerfG jedoch nicht nur den Begriff der fdGO, so wie das GG ihn verwendet, sondern auch den der „freiheitlich-demokratischen“ Grundordnung (Rn. 40) (wohl in der Annahme, beide Begriffe seien identisch) und der „freiheitlichen demokratischen, rechts- und sozialstaatlichen Ordnung“ (Rn. 38 f.) – wohl in der Annahme, dies seien andere Ordnungen.

In der neuesten Rechtsprechung zur fdGO betont das BVerfG in seiner zweiten NPD-Verbotsentscheidung vom 17.01.2017, dass die fdGO nur diejenigen zentralen Grundprinzipien umfasse, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich seien (BVerfGE 144, 20–367, Rn. 538). Dabei sei die menschliche Würde (Art. 1 GG) „Ausgangspunkt“ und das Demokratieprinzip „konstitutiver Bestandteil“ (Rn. 542). Begriffsbestimmend sei weiterhin das Rechtsstaatsprinzip, insbesondere das staatliche Gewaltmonopol in Verbindung mit der Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt sowie die Kontrolle dieser Bindung durch unabhängige Gerichte (Rn. 547).

Kritik und Ausblick

Der Begriff der fdGO ist von bedauerlicher Unschärfe geprägt, zu der auch das BVerfG beigetragen hat. In seinen SRP- und KPD-Entscheidungen benannte das BVerfG Grundprinzipien, die aus seiner Sicht „mindestens“ zum Begriff der fdGO gehören müssten. Zwar war dies einerseits der vernünftige Versuch, im Angesicht zukünftiger Entwicklungen gesellschaftlicher und technischer Natur weitere, damals noch nicht absehbare Elemente der fdGO zuzulassen anstatt eine abschließende Liste zu benennen. Andererseits wurde hier die Gelegenheit vergeben, eindeutige abstrakte Kriterien zu entwickeln, nach denen weitere Elemente der fdGO zukünftig zu identifizieren sein würden.

Teilweise stammt die Verwirrung auch daher, dass der Landesgesetzgeber verschiedene Begrifflichkeiten benutzt (so etwa das zweite Kopftuchurteil des BVerfG aus dem Jahr 2015, das auf die nordrhein-westfälische Regelung Bezug nimmt). Jedenfalls ist nicht immer klar ersichtlich, ob und inwiefern Legislative und Judikative Synonyme verwenden oder verschiedene Ordnungen etablieren wollten.

Auch besteht Uneinigkeit über die Frage, wie sich die fdGO zu den von der sog. Ewigkeitsklausel (Art. 79 Abs. 3 GG) geschützten Grundsätzen der Art. 1 GG und Art. 20 GG verhält. Da das BVerfG in seiner 2017er NPD-Entscheidung die Menschenwürde ausdrücklich zum Ausgangspunkt der fdGO erklärte, dürfte diese Diskussion zukünftig noch weiter angeheizt werden. Weil das BVerfG aber den Vergleich zur Ewigkeitsklausel trotz zahlreicher Gelegenheiten nicht klar gezogen hat und auch die Verfassung eine Gleichsetzung nicht vorsieht, muss davon ausgegangen werden, dass die fdGO nicht in ihrer Gänze von Art. 79 III GG geschützt wird. Freilich gibt es zwischen den Rechtsgütern, die die fdGO bzw. Ewigkeitsklausel betreffen, eine große Überlappung. Es wäre wünschenswert, wenn das BVerfG bei zukünftiger Gelegenheit – etwa bei der zu erwartenden verfassungsrechtlichen Herausforderung des neuen Art. 21 Abs. 3 GG – den Begriff der fdGO weiter schärfen und ihn von anderen verfassungsrechtlichen Termini (verfassungsmäßige Ordnung; freiheitlich-demokratische Grundordnung; freiheitlich demokratische, rechts- und sozialstaatliche Ordnung) ein für alle Mal trennscharf abgrenzte.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Pierre Thielbörger

Fussnoten