Das Gros bioethischer Fragen fällt in den Bereich der Humanmedizin und handelt von Themen wie künstlicher Befruchtung, Sterbehilfe und lebensverlängernden Maßnahmen, Geschlechtsumwandlung oder Vaterschaftstest. Die Auseinandersetzung mit solchen Fragen bildet eines der wenigen Felder, auf denen heute die Scharia durch neue Normen und in länderübergreifender Weise weiterentwickelt wird. Die Protagonisten muslimischer Bioethikdebatten sind neben Medizinern vor allem islamische Gelehrte. Das liegt zum Teil am konservativ-religiösen Zeitgeist der letzten Jahrzehnte, zum anderen daran, dass die staatliche Gesetzgebung in vielen Ländern lückenhaft ist, nur zögerlich auf neue Entwicklungen reagiert und insgesamt über wenig Vertrauen in der Öffentlichkeit verfügt. Einen besonders wichtigen Beitrag zur Meinungsbildung leisten transnationale islamische Gremien wie die Islamische Fiqh Akademie (majmaʿ al-fiqh al-islāmī) der Muslimischen Weltliga in Mekka und die gleichnamige Akademie der Organisation der Islamischen Konferenz mit Sitz in Dschidda (Saudi-Arabien). Im schiitischen Kontext geben herausragende Einzelgelehrte den Ton in bioethischen Debatten an. Abgesehen von wenigen regionalen Besonderheiten wie der hohen Zahl durch Verwandtenehen begünstigter Erbkrankheiten im Nahen Osten und den stets zu berücksichtigenden sozialen Faktoren wie Armut, die z. B. Organhandel fördern kann, gleichen sich die technischen und medizinischen Probleme der Bio- und Medizinethik im Wesentlichen weltweit. Das spezifisch islamische Element in der islamischen Bioethik besteht in dem Versuch, die Bewertung und Regelung moderner medizinischer Möglichkeiten aus Wortlaut und Werten islamischer Texte und Traditionen zu entwickeln. Nur in wenigen Fällen gelingt aber eine direkte Herleitung aus
Literatur: Shabana, A.: «Bioethics in Islamic Thought», Religion Compass 8, no. 11 (2014). – Atighetchi, D.: Islamic Bioethics. Problems and Perspectives, 2007. – Eich, T. (Übers.): Moderne Medizin und Islamische Ethik: Biowissenschaften in der muslimischen Rechtstradition, 2008. – Brockopp, J. E. und Eich, T.: Muslim Medical Ethics: From Theory to Practice, 2008.
Autor/Autorinnen:Dr. Björn Bentlage, Universität Halle (Saale), Islamwissenschaft (BB)
Quelle: Elger, Ralf/Friederike Stolleis (Hg.): Kleines Islam-Lexikon. Geschichte - Alltag - Kultur. München: 6., aktualisierte und erweiterte Auflage 2018.