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Orientalistik | bpb.de

Orientalistik

Die Beschäftigung mit dem Islam setzte in Europa schon kurz nach seiner Entstehung ein. Die erste latein. Koranübersetzung stammt allerdings erst aus dem 12. Jh. In dieser Zeit fand auch eine breite Rezeption der von den Muslimen weiter­entwickelten antiken Kulturtradition (Interner Link: Philosophie, Interner Link: Naturwissenschaften) statt. Wurden Muslime wegen ihres dem europäischen überlegenen Kulturstandards geschätzt, so war das Verhältnis zu ihnen doch von religiöser Feindschaft geprägt, welche eine un­voreingenommene Beschäftigung mit dem Islam weitgehend ausschloss. Eine wissenschaftliche, von der Theologie emanzipierte ­Islamforschung entstand erst im 18. Jh., als auch das Bild des ­«Orients» viele positive Züge trug. Basis der Forschung wurde seit dem 19. Jh. eine große Welle von Editionen und teilweise Übersetzungen von Texten aus der islam. Welt (Interner Link: Rückert). Unter den histor.-kritisch arbeitenden Interpreten dieses Materials sowie der häufig nach Europa importierten Handschriften ragen Ignaz Goldziher (1850 – 1921), Theodor Nöldeke (1836 – 1930) und Silvestre de Sacy (1758 – 1838) hervor, deren Werke teilweise bis heute gültig sind. Katalysator der Islamforschung wurde der Interner Link: Kolonialismus, da den europäischen Mächten an einer Kenntnis der von ihnen unterworfenen Gesellschaften lag. England und Frankreich, aber auch die Niederlande (C. Snouck Hurgronje, 1857 – 1936) und Deutschland (C.H.Becker, 1876 – 1933) förderten in diesem Rahmen eine Forschung, die nicht allein nach Textkenntnis strebte, sondern auch ethnolog. ausgerichtet war. In der akadem. Islamforschung überwog jedoch das philolog. Interesse, wobei dem Schrifttum bis etwa zum 13. Jh., welches als Ausdruck der «klassischen» Periode galt, besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde, während man die spätere Zeit als Verfallsepoche betrachtete. Große Umwälzungen fanden seit den 1970 er Jahren statt. Zum einen wurde das Interesse an gegenwärtigen islam. Gesellschaften und an sozialwissenschaftlichen Fragestellungen im Allgemeinen stärker. Zum anderen geriet das Selbstverständnis der Forscher ins Wanken. Der palästinens.-amerikan. Literaturwissenschaftler Edward Said veröffentlichte im Jahre 1978 ein Buch, in dem er bedeutenden Islamforschern vorwarf, sie hätten ein Bild eines wesensmäßig klar bestimmten ­«Orients» konstruiert, welches sie als «Wissenschaft» verkauften, das aber v. a. der Festigung europäischer Macht über diese Region diente. Mehr als die von islam. fundamentalist. Kreisen geäußerte Kritik an den Orientalisten (arab. al-­mustashriqūn), die angeblich durch ihre histor.-kritische Hinterfragung des Korans u. a. grundlegender islam. Texte den Islam zerstören wollen, löste in der westlichen Orientalistik Saids Vorwurf merkliche Irritation aus. War man vielleicht bei bester Absicht doch in einem alten, vom Kolonialismus zementierten «Diskurs» gefangen? Fragestellungen interkultureller Hermeneutik rückten nunmehr verstärkt in das Blickfeld. Derzeit ist die Islamforschung zu einem großen Teil gegenwarts­bezogen ausgerichtet. Quantitativ liegt der Schwerpunkt in den USA, aber auch in Deutschland steigt die Zahl der Wissenschaftler. ­­Ne­­ben die 1845 gegründete «Deutsche Morgenländ. Gesellschaft» (DMG) ist mit der «Deutschen Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient» (­DAVO) im Jahre 1993 eine Vereinigung getreten, deren Mitglieder sich vor allem Fragen der aktuellen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft widmen. Der von ihnen bearbeitete geograph. Raum beschränkt sich weitgehend auf die islam. Welt, während die DMG auch Japanologen und Sinologen einbezieht und damit in gewisser Hinsicht den Orientbegriff des 19. Jh. fortführt. Allerdings ist allseits die Problematik der Bezeichnung des Faches bekannt. Statt «Orientalistik» wird im gegenwärtigen akadem. System in Deutschland oft «Islamwissenschaft» eingesetzt bzw. dem angelsächs. Vorbild folgend eine regionalbezogene Bezeichnung (z. B. «Westasiat. Geschichte») verwendet. Mehr noch als die Kollegen in den USA u. a. Ländern Europas stehen deutsche Orientalisten, wie auf dem 28. Deutschen Orientalistentag 2001 in Bamberg noch einmal geäußert wurde, dem Problem gegenüber, dass sie in der breiten Öffentlichkeit zu wenig wahrgenommen werden. Rufe nach dem Verlassen des «Elfenbeinturms» und vor allem mehr gesellschaftlicher «Relevanz» der Forschung werden lauter, wobei man andererseits aber auch betont, dass die Erforschung außereuropäischer Kulturen bewahrt und vor polit. Sparanstrengungen geschützt werden muss, auch wenn sie nicht unmittelbar wirtschaftlich nutzbar ist. Gewichtige Forschungslücken bestehen etwa in der arab. Kultur- und Literaturgeschichte der Zeit zwischen dem 14. und 18. Jh.

Literatur:Mangold, S.: Eine «weltbürgerliche Wissenschaft». Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, 2004. – Irwin, R.: For lust of knowing: The Orientalists and their enemies, 2006.

Autor/Autorinnen:Prof. Dr. Ralf Elger, Universität Halle, Orientalistik

Quelle: Elger, Ralf/Friederike Stolleis (Hg.): Kleines Islam-Lexikon. Geschichte - Alltag - Kultur. München: 6., aktualisierte und erweiterte Auflage 2018.

Fussnoten